KRIMISERIE "TATORT"
EINE KULTSERIE UND IHRE RITUALE

Live-Viewing "Tatort"
Foto (Auschnitt): © FC Magnet Bar

„Bitte treten Sie in den Tatort ein”, so lautet die Einladung von ca. 300 deutschen Kneipen, die auf diese Weise eine Tradition aufrechterhalten, welche vor zehn Jahren in Berlin begann.

Jeden Sonntag verwandeln sich Kneipen in ganz Deutschland in etwas zwischen Wohnzimmer und Kino, wo eine Menschenmenge stillschweigend zuschaut. Es gibt zu essen und zu trinken, aber das wichtigste spielt sich auf dem Bildschirm ab: eine Fernsehserie.

Es ist nicht irgendeine Fernsehserie, sondern eine, die zu einer Institution im Land wurde: Tatort ist eine der ältesten, aber auch eine der populärsten Fernsehserien Deutschlands. Dass sie in Gesellschaft gesehen wird, ist auch schon zur Tradition geworden, so sehr, dass viele Kneipen, die sogenannten “Tatort-Kneipen”, an diesem Tag voll besetzt sind. Deshalb ist es ratsam, zeitig dort zu sein, bis zu einer Stunde früher, da es zu Sendebeginn, pünktlich um 20:15 Uhr, nach den Nachrichten, keine Plätze mehr gibt. Wer später kommt, findet sein Lieblingssofa besetzt oder nur noch einen Platz seitlich des Bildschirms. Oder, noch schlimmer, er muss stehen –niemand möchte die 90 Minuten der Folge, fast Filmlänge, im Stehen verfolgen; dennoch tun dies einige.

Von Berlin nach Wien oder Zürich

„Bitte treten Sie in den Tatort ein”, steht auf dem Schild einer der Berliner Kneipen. Es muss wohl hier in der deutschen Hauptstadt gewesen sein, als vor etwas mehr als zehn Jahren eine Kneipe ein Tatort-Public-Viewing ausprobierte. Dies wurde schnell zur Gewohnheit und andere Kneipen und Städte folgten.
Auf der Internetseite des öffentlich-rechtlichen Senders ARD gibt es eine Liste der   „Tatort-Kneipen”. Es sind um die 300 Kneipen im ganzen Land, sie konzentrieren sich in den Städten, vor allem in Berlin, das die Liste anführt (60 Kneipen). Es gibt auch Kneipen in Städten der Nachbarländer, wie Wien und Zürich, was die Produktionsgegebenheiten der Serie widerspiegelt: Jede Folge wird von einem Team einer anderen Stadt gespielt und von einem Sender eines anderen Bundeslandes produziert, sodass die jeweiligen Besonderheiten (und der Dialekt) in den Folgen wieder auftauchen. Diese Vielfalt schließt auch Österreich und die Schweiz mit ein.

Den Täter erraten

In den Kneipen ist die Stimmung überwiegend jung, und im Gegensatz zu dem, was z.B. bei der Übertragung von Fußballspielen passiert, wo zur Anfeuerung oder zum Feiern geschrien wird, herrscht normalerweise während einer Tatortfolge Ruhe. Die intensivste Kommunikation gibt es in den Kneipen, in denen gespielt wird: 45 Minuten nach Beginn der Folge, also genau zur Halbzeit, werden in einigen Kneipen die Karten eingesammelt, auf denen die Zuschauer den vermeintlichen Täter aufschreiben dürfen. Dies ist jedoch die Ausnahme. in der Regel wird die Folge in der Kneipe genauso gesehen wie zu Hause, das Gespräch entsteht danach: in der Kneipe, oder auf dem Nachhauseweg, am nächsten Tag.

Oft werden heikle Themen angesprochen; so ist es seit den 1970er-Jahren. In einer der ersten schockierenden Folgen, die 1977 ausgestrahlt wurde, wurde die Hauptperson von Nastassja Kinski gespielt: eine junge Schülerin, die erpresst wird, da sie ein Verhältnis mit einem Lehrer hat. In einer der neueren Folgen, die Nummer 999, die auch in Kiel spielt (inzwischen mit einem anderen Kommissar), tritt eine junge Frau auf, die zum Islam übergetreten ist. Die dschihadistische Bewegung, der selbst ernannte Islamische Staat, versucht sie anzuwerben. Die tausendste Folge greift das Thema der ersten wieder auf –  „Taxi nach Leipzig”: damals ging es um das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik; die tausendste Folge spricht die Konsequenzen der militärischen Teilnahme Deutschlands in Afghanistan an. Die Themen berühren also Fragestellungen der Gesellschaft und die Grundidee der Sendung ist, dass sowohl die Täter als auch die Ermittler  „normale” Menschen sind.

Ein Erfolg, der nicht leicht zu erklären ist

Die Sendung wird so ernst genommen, dass die Folgen nicht nur von Otto Normalverbraucher an der Bar oder am Tag darauf bei der Arbeit seziert und analysiert werden, sondern sogar von Profis: Manche Folgen, wie z.B. die über den Islamischen Staat, wurden von einem Journalisten des Spiegel analysiert, der die Fakten überprüfte und angab, was richtig und was übertrieben ist. Die Sendung wurde schon in Doktorarbeiten untersucht und von Akademikern analysiert. In deren Arbeiten geht es um die aktuell steigenden Zuschauerzahlen, aber auch um die Tatsache, dass der Tatort vornehmlich zur normalen Sendezeit gesehen wird, oder um das Phänomen des „sozialen” Zusehens in Kneipen. Dennoch bleibt die Langlebigkeit der Serie ein schwer lösbares Rätsel. „Dies ist das große Geheimnis, das sich keiner erklären kann”, sagte Peter Dörfler, Co-Autor eines Dokumentarfilms über die Serie, der nach der tausendsten Folge von der französischen Nachrichtenagentur AFP gedreht wurde. Die Serie, bei der selten ein Fall ungelöst bleibt, bleibt in dieser Hinsicht ein großes Geheimnis.