Pop und Politik
Keine Atempause

Spielten solidarisch für Deniz Yücel: The Notwist
Spielten solidarisch für Deniz Yücel: The Notwist | Foto ⓒ Ralf Dombrowski

Politik ist Haltung ist Pop. Das war einmal, vor dreißig Jahren. Inzwischen tut sich die Szene schwerer mit der Positionsbestimmung. Anmerkungen zur Diskussion.

Indizien für eine Politisierung der Pop-Musik in Deutschland? Nichts leichter als das. Von A wie Antilopen Gang bis Z wie Zitronen, Goldene, haben sich seit etwa 2015/16 viele Bands, Musikerinnen und Musiker politisch geäußert und so auf die vielfältigen Symptome dessen reagiert, was man in einem Wort zusammenfassen könnte als: Backlash. Den Backlash aller Orten verkörpern autoritäre Politiker wie Donald Trump und Viktor Orbán, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan; für den Backlash stehen Wortschöpfungen wie Brexit und Pegida, Parteien wie dem Front National, UKIP, AfD oder FPÖ, die zumindest temporär ungeahnte Zustimmungsquoten erzielen und die sogenannten etablierten oder auch Alt-Parteien vor sich hertreiben – nach rechts.  

Rückkehr der Alten

Auf diese Verschiebungen der gesellschaftlichen Koordinaten reagiert die Pop-Musik in Deutschland mit einer spürbaren Politisierung oder Repolitisierung ihrer Kunst, zumindest auf den ersten Blick. Der Plan, Veteranen der (Original) Neuen Deutschen Welle (ONDW) aus Düsseldorf, kehren nach langer Pause mit einem neuen Album zurück, es heißt Unkapitulierbar und die Berliner Tageszeitung erkennt darin „ein flammendes Plädoyer für Europa und die Grundrechte“. Ein Haufen Scheiß und ein zertrümmertes Klavier – unter  diesem Titel bringen FSK (Freiwillige Selbstkontrolle), ebenfalls aus der Gründergeneration der ONDW, eine Hommage auf den futuristischen Maler und Musiker Luigi Russolo heraus. Der Titel feiert die politische Schönheit – nicht die des gleichnamigen Zentrums, wohlgemerkt – von Destruktion und Dekonstruktion: „Luigi Russolo sagt, dass Metallmaschinen neuen Göttern dienen, die die alten Städte in Schutt und Asche legen.“
Altmeister des kritischen Rock: Die Ärzte

Das Alte in Schutt und Asche legen und daraus Neues entwickeln, das war eine der Leitideen von Punk in den späten Siebzigerjahren. Auch Gudrun Gut war damals dabei, sie hat die Einstürzenden Neubauten mitbegründet, danach viele Frauenbands, deren Name mit M beginnt: Mania D, Malaria, Matador, später die feministische Plattenfirma Monika Schallplatten. Zum 20. Geburtstag von Monika formulierte Gudrun Gut im Radiointerview mit ByteFM ein Credo, dem wohl die meisten Pioniere der ONDW zustimmen würden: „Man sollte es möglichst nicht können. Das Neue schöpft man aus dem Nicht-Können, das war so ’ne komische Idee.“

Ein bisschen Punk

Die komische Idee aus dem Humus der sogenannten Genialen Dilletanten geht zurück auf eine alte Erkenntnis: Kunst kommt nicht von Können. Gemeinsam ist den heute Fünfzig- bis Sechzigjährigen die Prägung durch Punk: „Die Haltung ist bei mir nach wie vor wichtig, ein bisschen punkig. Also wenn was nicht gehen soll …, das glaub ich denn immer nicht.“ Gudrun Gut äußert sich auch im Juli-/August-Heft (2017) der Zeitschrift SPEX mit dem Schwerpunkt „Wut – ein Gefühl spaltet die Popwelt.“ Die Umstände müssten verändert werden, sagt die Musikerin: „Ich dachte früher schon, dass Musik politisch ist und sein muss. Inzwischen sehe ich Pop auch als Erholungsfaktor nach dem Kampf oder als Energiequelle für den Kampf.
Christane Rösinger: Eigentumswohnung

Vom alltäglichen Kampf gegen innerstädtische Verdrängung und die Verunmöglichung bohemistischen Lebens in Metropolen erzählen viele deutschsprachige Pop-Songs, exemplarisch autobiografisch Christiane Rösingers Eigentumswohnung, der davon handelt, dass sie eben nicht in der Lage ist, jene Kreuzberger Mietwohnung, in der sie seit Jahrzehnten lebt, mal eben zu kaufen. „Die Schweine platthauen reicht nicht.“ Unter dieser spröden Überschrift diskutieren in besagtem SPEX-Themenheft zwei Protagonisten des linksradikalen Punk made in Germany ihre doch recht unterschiedlichen Definitionen von Punk und Linksradikalität: Torsun Burkhardt, Sänger der Band Egotronic vom antideutschen Mitten-in-die-Fresse-Flügel („Deutschland, Arschloch, fick dich“) und Ted Gaier (Selbstdefinition: Individualanarchist und Utopist) von den Goldenen Zitronen. Mit dem (Straßen-)Theater-Happening-AktivistInnen-Projekt Schwabinggrad Ballett & Arrivati sucht Gaier neue, gegenwartshaltigere Formen von Agit-P(r)op zu Fragen von Migration, Grenzregimes und Flüchtlingspolitik. Die vielköpfige Gruppe besteht aus Bio-Deutschen wie aus Geflüchteten und nicht unter Zwang nach Deutschland Gekommenen.
Schwabinggrad Ballett & Arrivati: „Bodies Will Be Back“

Linker Mainstream

Die Aufzählung dieser im weitesten Sinn pop-linken Aktivitäten ließe sich beliebig fortsetzen, auch die breite Mobilisierung gegen die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel wird maßgeblich von MusikerInnen unterstützt: Die Sterne, The Notwist, Bernd Begemann, Peter Licht.

So weit, so gut. Bleibt die Frage: Wie „pop“ ist diese Pop-Linke? Wie populär und welche gesellschaftliche Reichweite hat sie? Und wen erreicht sie nicht? Diese Frage ist nicht zu trennen von der anhaltenden Diskussion des linken Populismus. Keiner der hier erwähnten Acts erreicht auch nur annähernd die Verkaufszahlen und die mediale Präsenz wie der als unpolitisch ausgewiesene Feelgood-Pop der Tim Bendzko, Max Giesinger & Matthias Schweighöfer-Schule. Und keiner der hier erwähnten Acts verfügt auch nur annähernd über die Reichweite von Männern wie Andreas Gabalier und Xavier Naidoo oder Bands wie Frei.Wild und Die Böhsen Onkelz, die allesamt Facetten des Backlash repräsentieren, sei es das Völkisch-Nationale, den maskulinistischen Antifeminismus nebst Hass auf den sogenannten Genderwahn und Homophobie oder die antisemitische Verschwörungstheorie.
Kritisch gegen rechts: Antilopen Gang

So erleben wir einen kulturpolitischen Treppenwitz: In der Mitte der Gesellschaft hochpopuläre Pop-Künstler, die ihren Erfolg auch ihrer Anschlussfähigkeit an rechtspopulistische Milieus und Inhalte verdanken, gerieren sich als Opfer eines linksliberalen Mainstream, der ihnen verbietet, so zu reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Dabei sind Gabalier und Naidoo Dauergäste, wenn nicht gleich Gastgeber in deutschen Fernsehshows: Frei.Wild gewinnen den Echo, die Böhsen Onkelz verkaufen tagelang den Hockenheimring aus und der Schauspieler Ben Becker gibt den Business-Punk, um das Spektakel anzusagen. Oder anzubrüllen.

Trotz von rechts

Derweil nehmen Repräsentanten von ONDW und älterer Pop-Linker die Weihen der Hochkultur in Empfang und bespielen „safe spaces in splendid isolation“, Orte, an denen keine Zweifel an ihrer Deutungshoheit laut werden. Stadttheater, Häuser der Kulturen der Welten, Akademia, Museen, Galerien. Aber, um das klarzustellen, gegen Treppenwitze dieser Art hilft kein linker Populismus. Wenn Frei.Wild, Gabalier, Naidoo und die Onkelz gegen Mainstream, Genderwahn und Lügenpresse wettern und damit Massen für sich einnehmen, dann kann sich eine ernstzunehmende Linke nicht umstandslos der selben Anti-Mainstream-Rhetorik bedienen, es sei denn, sie strebt den querfrontalen Schulterschluss an, zwischen nationalen Sozialisten und Neo-Nationalsozialisten.