Politische Poesie
Lyrik Deutschlands und Portugals im Dialog

Politische Poesie
Politische Poesie | Foto (Ausschnitt): © Goethe-Institut

Sehr unterschiedliche poetische Traditionen, sehr unterschiedliche Länder – aber derselbe Wille, die Stimme zu erheben. Die beiden Organisatorinnen der Anthologie politischer Poesie in Portugal und im deutschsprachigen Raum, "Manchmal braucht man solche Reime", sprechen über die Entstehung dieses Buches.

Paul Celan im Dialog mit Manuel Alegre? Almada Negreiros mit Kurt Tucholsky? Oder Bertolt Brecht mit Fernando Pessoa? Sophia de Mello Breyner Andresen mit Heiner Müller? In einem übertragenen Sinne geschieht genau das in dem Band Manchmal braucht man solche Reime (erschienen im Lissabonner Verlag Tinta-da-china), der politische Gedichte von deutsch- und portugiesischsprachigen Autoren vereint.

Die Idee zu dieser zweisprachigen Anthologie entstand im Anschluss an die Vorstellung des von dem deutschen Dichter Joachim Sartorius herausgegebenen Handbuchs für politische Poesie Niemals eine Atempause im Goethe-Institut in Lissabon. Auf Initiative von Institutsleiterin Claudia Hahn-Raabe wurde ein Team aus Übersetzern und Spezialisten zusammengestellt, das sich dem Publikationsprojekt zwei Jahre lang – bis zur Veröffentlichung – widmete.

„Wir wollten Gedichte miteinander ins Gespräch bringen, sie nicht nur aneinanderreihen, sondern in Themenblöcken wie Exil, Flucht, Gewalt oder Krieg Bezüge zwischen den Texten herstellen“, so Gabi Ellmer, Leiterin der Bibliothek des Goethe-Instituts und Mitorganisatorin der Anthologie. Die Art und Weise, in der die Dichter über die großen politischen Ereignisse der letzten hundert Jahre sprechen, „macht die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede sichtbar“.

Für Helena Topa, Übersetzerin und ebenfalls Mitorganisatorin des Bandes, lag die größte Herausforderung – neben anderen wie Textrecherche, Gedichtauswahl, Koordinierung des Übersetzerteams, Logistik, Kontakte, Abdruckgenehmigungen – darin, „das Buch aufzubauen“.


Momente des Wandels

Wenn man in dem Buch blättert, versteht man warum: 100 Jahre Geschichte in Gedichten mussten in thematische Kapitel eingeteilt werden – von „Das Monster will Blut“ (Erster Weltkrieg) und „Wir sind eine Republik“ über „Die Hand der Angst“ (Flucht und Exil) und „Ohnmächtige Songs“ (Krieg ohne Ende in verschiedenen Gebieten der Erde) bis hin zur „Mär der Modernität“ (mit Manuel Alegres Gedicht „Rettungsprogramm“ zur Troika in Portugal). Jedem Kapitel ist eine kurze historische Kontextualisierung vorangestellt. Original und Übersetzung sind direkt nebeneinander abgedruckt. 

Lediglich in zwei Kapiteln finden sich ausschließlich deutschsprachige bzw. portugiesische Gedichte. Die Stunde Null in Deutschland, also die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, die nachhallende Gegenwart des Horrors der Konzentrationslager und die Not des in Ruinen liegenden, verschuldeten Landes werden nur von deutschen Dichtern aufgegriffen; der portugiesische Kolonialkrieg in „Mein Afrika nutzlos“ hingegen nur von portugiesischen Dichtern.

Es gibt viele Übersetzungen und Anthologien, aber „ein solches Projekt ist mir nicht bekannt“, so Helena Topa.

Die Herausforderung der Übersetzung

Ein einzigartiges Buch also, das Ergebnis eines ebenso einzigartigen Prozesses ist: Zwei Übersetzerteams, eins in Deutschland/Österreich und eins in Portugal, stellen sich den üblichen Schwierigkeiten der Übersetzung von Lyrik. In Portugal kam rasch die Idee auf, Zusammenkünfte der Übersetzer zu organisieren, um Fragen zu diskutieren und sich auszutauschen. „Diese Treffen waren sehr intensiv“, erinnert sich Gabi Ellmer, „manchmal wurde heiß diskutiert“.

Wie übersetzt man beispielsweise einen Vers, der die drei Farben der deutschen Landesflagge nennt, was bei einem deutschen Leser unmittelbar Assoziationen auslöst, bei einem portugiesischen Leser jedoch eine Verständnishürde schafft? (Die Antwort João Barrentos ist ebenso einfach wie genial: den Ausdruck „die drei Farben“ verwenden, statt die Farben einzeln zu benennen).

Neben den sprachlich-formalen Herausforderungen bei der Übersetzung von Lyrik besteht zusätzlich „die Schwierigkeit, das Gedicht in eine andere Mentalität zu übersetzen“, so Gabi Ellmer.

Die literarischen Traditionen

Und tatsächlich könnten Deutschland und Portugal manchmal unterschiedlicher nicht sein.

Helena Topa merkt an, dass einige der prägenden historischen Ereignisse von Deutschen und Portugiesen sehr unterschiedlich erlebt wurden. Ein Beispiel dafür sind die beiden Weltkriege: Während die Deutschen ihr eigenes Land in Schutt und Asche versinken sehen, nehmen die Portugiesen den Krieg eher aus der Ferne wahr. Und als „anbrechender Tag“ schlechthin gilt in Portugal der 25. April, Tag der Nelkenrevolution, während für Deutschland der Mauerfall und die Wiedervereinigung historische Bedeutung erlangen. (Wenn auch die Geschichte selbst unterschiedlich verläuft, so ist doch die Erfahrung eines Wendepunkts, des Endes einer Zeit und des Beginns von etwas Neuem den Texten dieses Kapitels gemeinsam.)
 
Aber „manchmal gibt es kleine Fügungen, in denen die Erfahrungen übereinstimmen“, wie im Fall des Suizids von Walter Benjamin, den sowohl Bertolt Brecht als auch Manuel Gusmão in ihren Gedichten verarbeiten.

Letztlich handelt es sich um zwei sehr unterschiedliche literarische Traditionen, so Helena Topa: „In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind viele der deutschen Autoren Expressionisten, während der Expressionismus in Portugal keine Rolle spielt“. Auf der anderen Seite „gab es in Portugal eine starke neorealistische Strömung, in Deutschland hingegen kaum, vielleicht ein wenig in der Nachkriegszeit und in einer anderen Ausprägung“. Mit anderen Worten, „in ästhetischer Hinsicht sind die beiden Traditionen mitnichten miteinander vergleichbar“.

92 DICHTER

Und es gibt weitere Unterschiede: In den portugiesischen Gedichten finden sich beispielsweise gelegentlich Echos aus Deutschland, umgekehrt ist das nicht der Fall. Und auch der physische Raum, in dem Dichter und Gedichte verortet sind, unterscheidet sich: Unter den deutschsprachigen Dichtern findet sich der eine oder andere, wie Paul Celan, der „am Ende Europas“ zur Welt kam, an Orten „die schon nicht mehr in Deutschland sind“, von der Ukraine bis hin zur heutigen Tschechischen Republik, wie bei Karl Kraus. Die Portugiesen hingegen haben „seit mehr oder weniger acht Jahrhunderten dasselbe Land und dieselbe Sprache“.

Auch bei der Produktion des Buches traten in der Praxis unterschiedliche Herangehensweisen zu Tage, erzählt Gabi Ellmer. Die zeitaufwändige Einholung der Abdruckgenehmigungen erfolgte in Deutschland „in einem eher formalen Austausch mit den Verlagen“, während in Portugal „vor allem auch persönliche Kontakte eine Rolle spielten – die meisten Dichter bzw. deren Erben freuten sich darüber, bei diesem besonderen Projekt dabei zu sein.“

Für Helena Topa ist es „schwierig, immer nach Übereinstimmungen zu suchen“. Das Buch „funktioniert eher über den Kontrast und die Widersprüche, was ja auch interessanter ist“. Eine Ausnahme gibt es allerdings: „Die Haltung des Widerstands und der Wille, die Stimme zu erheben, ist allen gemeinsam.“

Letztlich ist es wichtig, dass „der Weg nun frei ist, sodass jeder Leser selbst wählen kann, wie er sich dem Buch nähern möchte“, betont Helena Topa.

 
  • Joachim Sartorius präsentiert seine Anthologie "Niemals einen Atempause" in Lissabon; 12.11.2015 Foto: © Goethe-Institut/ Luísa Ferreira
    Joachim Sartorius präsentiert seine Anthologie "Niemals einen Atempause" in Lissabon; 12.11.2015
  • Präsentation der Anthologie "Niemals einen Atempause" in Lissabon; 12.11.2015 Foto: © Goethe-Institut/ Luísa Ferreira
    Präsentation der Anthologie "Niemals einen Atempause" in Lissabon; 12.11.2015
  • Arbeitstreffen der portugiesischen Übersetzer und Experten in Lissabon; 13.11.2015 Foto: © Goethe-Institut/ Luísa Ferreira
    Arbeitstreffen der portugiesischen Übersetzer und Experten in Lissabon; 13.11.2015
  • Fernando Martinho, João Barrento und Fernando Rosas, Experten; 13.11.2015 Foto: © Goethe-Institut/ Luísa Ferreira
    Fernando Martinho, João Barrento und Fernando Rosas, Experten; 13.11.2015
  • Anthologie "Manchmal braucht man solche Reime", erschienen bei Tinta-da-china Foto: © Goethe-Institut/ Carlos Porfírio
    Anthologie "Manchmal braucht man solche Reime", erschienen bei Tinta-da-china
  • Claudia Hahn-Raabe stellt die Anthologie "Manchmal braucht man solche Reime" auf der Frankfurter Buchmesse vor; 13.10.2017 Foto: © Goethe-Institut/ Gabi Ellmer
    Claudia Hahn-Raabe stellt die Anthologie "Manchmal braucht man solche Reime" auf der Frankfurter Buchmesse vor; 13.10.2017
  • Kurt Drawert, Joachim Sartorius, Ana Margarida Abrantes und Fernando Pinto do Amaral präsentieren "Manchmal braucht man solche Reime" auf der Frankfurter Buchmesse; 13.10.2017 Foto: © Goethe-Institut / Gabi Ellmer
    Kurt Drawert, Joachim Sartorius, Ana Margarida Abrantes und Fernando Pinto do Amaral präsentieren "Manchmal braucht man solche Reime" auf der Frankfurter Buchmesse; 13.10.2017
  • Vorstellung der Anthologie "Manchmal braucht man solche Reime" in Lissabon; 26.10.2017 Foto: © Goethe-Institut / Carlos Porfírio
    Vorstellung der Anthologie "Manchmal braucht man solche Reime" in Lissabon; 26.10.2017
  • João Barrento, Helena Topa, Madalena Alfaia und Fernando Martinho bei der Vorstellung der Anthologie in Lissabon; 26.10.2017 Foto: © Goethe-Institut / Carlos Porfírio
    João Barrento, Helena Topa, Madalena Alfaia und Fernando Martinho bei der Vorstellung der Anthologie in Lissabon; 26.10.2017
  • Manuel Gusmão, portugiesischer Dichter, bei der Vorstellung der Anthologie in Lissabon; 26.10.2017 Foto: © Goethe-Institut / Carlos Porfírio
    Manuel Gusmão, portugiesischer Dichter, bei der Vorstellung der Anthologie in Lissabon; 26.10.2017
  • Organisatoren und Übersetzer bei der Buchvorstellung in Lissabon; 26.10.2017 Foto: © Goethe-Institut / Carlos Porfírio
    Organisatoren und Übersetzer bei der Buchvorstellung in Lissabon; 26.10.2017