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Publikumspreis KINO 2020
Der Systemsprenger triumphiert

Helena Zengel
Helena Zengel (Bennie) und Peter Hartwig (Produzent) nahmen in Berlin während des Berlinale-Frühstücks den Prémio do Público der Mostra KINO 2020 für Systemsprenger entgegen. | Foto: © Goethe-Institut

Zum zweiten Mal kürte das KINO-Publikum seinen Liebling unter acht Erstlingsfilmen. Das Ergebnis war denkbar eng, aber wenig überraschend: Systemsprenger, der Festival- und Kinoerfolg von Nora Fingscheidt, belegte den ersten Platz, nur knapp vor David Nawraths Thriller Atlas. Platz drei und vier machten die Filme Die Einzelteile der Liebe (Miriam Bliese) und Schwimmen (Luzie Loose) mit ebenfalls geringem Abstand untereinander aus.

Von Corinna Lawrenz

Systemsprenger bekam damit nicht seinen ersten Preis in Portugal. Bereits im vergangenen Jahr wurde Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt mit dem Hauptpreis des Fest (New Directors New Films Festival) in Espinho im Bereich Fiction Film ausgezeichnet. Der Publikumspreis in Lissabon bestätigte, was das enorme Echo des Films und der Publikumserfolg in Deutschland mit über 600.000 Zuschauer*innen bereits erahnen ließen: dass auch in Portugal das Publikum begeistert ist von diesem erschütternden und mitreißenden Werk, das noch in diesem Jahr in die portugiesischen Kinos kommt.

Systemsprenger erzählt die Geschichte der neunjährigen Benni, die ihre Kindheit aufgrund unkontrollierbarer Wutattacken zwischen Heimen, Pflegefamilien und stationären Aufenthalten verbringt – „mit leichtem Gepäck und schwerem emotionalem Ballast“ (ZEIT, Sabine Horst). Sie ist ein sogenannter Systemsprenger, ein Kind, für das es auch in den Institutionen, die sich um soziale und psychische Problemfälle kümmern sollten, keinen Ort zu geben scheint.

Preisvergabe in Berlin

Über Jahre recherchierte die Regisseurin und Drehbuchautorin Nora Fingscheidt für ihr Spielfilmdebüt. In Interviews betont sie immer wieder, wie nah der Film an den Geschichten ist, die ihr in der Zeit der Recherche begegnet sind. Und doch ist Systemsprenger klar und bewusst Fiktion, die nicht zuletzt von der umwerfenden jungen Schauspielerin Helena Zengel getragen wird.

Sie war es auch, die gemeinsam mit Produzent Peter Hartwig den KINO-Publikumspreis beim Goethe-Filmfrühstück im Rahmen der Berlinale von Generalsekretär Johannes Ebert entgegennahm.

Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir mit Systemsprenger in so vielen Ländern laufen dürfen. Am Anfang haben wir ja noch gar nicht so damit gerechnet. Dass es jetzt tatsächlich auch weltweit geworden ist, das freut mich wirklich sehr.

Helena Zengel, Schauspielerin

Zur Zeit des Drehs war die heute zwölfjährige Helena Zengel selbst neun Jahre alt. Mit außergewöhnlicher Energie verkörpert sie alle Stadien der emotionalen Achterbahn, die Benni stetig neu durchläuft: vom fröhlich plappernden Mädchen über Trauer und Verzweiflung bis hin zu Wutausbrüchen, die Sicherheitsglas zu Bruch gehen lassen und andere in Gefahr bringen. Nur der Schulbegleiter Micha (Albrecht Schuch), der als Anti-Aggressionstrainer selbst Gewalterfahrung hat, kann diesen Kreislauf zeitweise durchbrechen, um dann doch nicht zuletzt an den Grenzen des Systems zu scheitern.
Micha aus Systemsprenger Micha (Albrecht Schucht) am Rande der Verzeiflung in Systemsprenger (2017-2019). | Bild: © kineo Film / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer

Über Familien, das Erwachsenwerden und die Gentrifizierung urbaner Zentren

Albrecht Schuch, der neben Systemsprenger auch für seine Rolle in Bad Banks im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, ist auch im zweitplatzierten Thriller Atlas zu sehen. Im Spielfilmdebüt des Berliner Regisseurs David Nawrath schlüpft Schuch in die Rolle eines Vaters, der verzweifelt gegen den Herauswurf seiner jungen Familie aus einer Frankfurter Altbauwohnung kämpft. Als er sich einer Zwangsräumung widersetzt, begegnet er dem Möbelpacker Walter (nuanciert gespielt von Rainer Bock), der in ihm seinen Sohn wiedererkennt, den er dreißig Jahre zuvor im Stich gelassen hatte. Man ahnt, dass Walters Leben ebenso von Stürmen der Aggressivität begleitet war wie das der jungen Benni, und dass seine stoische Ruhe nur äußere Hülle ist. In seiner gekonnt behutsamen und atmosphärischen Erzählweise ist Atlas Thriller, Gentrifizierungsdrama und Vater-Sohn-Geschichte zugleich.
Atlas Anknüpfen an zarte Familienbande in Atlas (2018). | Bild: © 235 Film / Tobias von dem Borne

Die Fragilität familiärer Beziehungen ist auch in den Filmen Die Einzelteile der Liebe (Miriam Bliese) und Schwimmen (Luzie Loose) stets präsent. Während ersterer sich mit viel Humor um moderne Familienmodelle und die Folgen einer Trennung dreht, ist in letzterem nicht zuletzt die Trennung der Eltern auslösender Hintergrund eines ungewöhnlichen Coming-Of-Age-Dramas. Beide Werke bestechen vor allem auch durch formale Herangehensweisen: So entrollt sich Die Einzelteile der Liebe in kammerspielartigen Episoden mit zeitlichen Sprüngen vor einem Gebäude des ikonischen Hansaviertels in Berlin. Schwimmen wiederum nimmt in seiner Erzählung einer toxischen Mädchenfreundschaft die Position seiner Protagonistinnen ein, indem er durch die Nutzung von Handyvideos ihren Blick auf die Welt zu seinem eigenen macht, ohne dabei die Rolle digitaler Medien thematisch zu stark in den Fokus zu rücken.
Miriam Bliese Miriam Bliese kam zur Premiere ihres Debütfilms Die Einzelteile der Liebe (2017-2019) in Portugal zum Filmfestival KINO 2020. | Foto: Hugo Moura © Goethe-Institut Portugal

Die Premieren der Erstlingsfilme Atlas, Die Einzelteile der Liebe und Schwimmen wurden nicht annähernd von dem Rummel begleitet, den die Berlinale-Wettbewerbsteilnahme von Systemsprenger ausgelöst hatte, fanden aber auch ihre Öffentlichkeit: Die Einzelteile der Liebe wurde im Rahmen der Berlinale-Sektion Perspektive Deutsches Kino erstmals gezeigt, Luzie Loose bei den Hofer Filmtagen für die beste Regie ausgezeichnet, jenem renommierten Festival für Nachwuchsfilmschaffende, das auch Atlas ein Jahr zuvor den Premierenteppich ausgerollt hatte.
Luzie Loose Die Regisseurin von Schwimmen (2017/2018), Luzie Loose, kam nach Lissabon, nicht nur um die Portugalpremiere ihres Debütfilms vor einem sehr interessierten Publikum zu begleiten, sondern um auch die schönen Ecken der portugiesischen Hauptstadt kennenzulernen. | Foto: Hugo Moura © Goethe-Institut Portugal
Auch in diesem Jahr haben sich beim Lissaboner Filmfestival KINO wieder rund 500 Personen an der Wahl des Publikumspreises beteiligt. Dass die Entscheidung für den großen Favoriten Systemsprenger so knapp ausfiel, ist ein Zeichen für die Qualität des jungen deutschen Films, der bei KINO zu erleben war.

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