Schaufenster Berlin
Das Literaturhaus Berlin erprobt neue digitale Formate

Das Li-Be-Gebäude in der Fasanenstraße 23
Das Li-Be-Gebäude in der Fasanenstraße 23 | © Foto (Zuschnitt) Giulia Mirandola

Nicht einmal hundert Meter vom Kurfürstendamm entfernt, in der Fasanenstraße 23, liegt das Literaturhaus Berlin. Auf seiner Webseite steht: „Das Literaturhaus Berlin ist ein offenes, gastfreundliches Haus für alle an Literatur interessierten Menschen, es bietet Raum für den ästhetischen Genuss genau wie für die kritische Auseinandersetzung darüber, was Literatur in unserer Gesellschaft ist, kann, darf und soll.“ Im März wurde die Programmplanung um neue digitale Formate erweitert. Die Liebe zur Literatur fördert auch diejenige zur Literaturvermittlung mithilfe der Infosphäre.

Eine Liebeserklärung an die Literatur in zwei Silben

In Berlin ist das Literaturhaus der Ort, an dem die Literaturen der Welt zusammenkommen. Drei Jahre vor dem Mauerfall wurde es als erstes Literaturhaus im deutschsprachigen Raum gegründet. Es handelt sich tatsächlich um ein Haus, genannt Li-Be, in dem die Liebe zur Literatur zum Alltag gehört. Das Li-Be hat Türen, Fenster, Treppen, Zimmer, Räume, die zum Verweilen einladen, drinnen wie draußen. Manche Räume sind der geistigen Arbeit gewidmet, der Organisation, der Kommunikation und der Archivierung, manche den Publikumsveranstaltungen; ein Bereich ist dem Café Wintergarten vorbehalten; die unabhängige Buchhandlung Kohlhaas & Company befindet sich im Souterrain; zwischen Fasanenstraße und dem Gebäude liegt ein Garten; zwei kleine Apartments sind für Gäste des Hauses reserviert und, auf Anfrage, gegebenenfalls auch für Privatleute.

Geleitet wird das Li-Be von zwei Frauen, der Literaturwissenschaftlerin Janika Gelinek und der Amerikanistin und Kunsthistorikerin Sonja Longolius, beide Ende der Siebzigerjahre geboren. Ihre vierhändige Leitung stützt sich auf das Zusammenwirken eines Teams aus sechs Personen und auf ein beratendes Kuratorium, zu dem geborene und gewählte Mitglieder gehören: darunter eine Dramaturgin und Dokumentarfilmerin, ein Verleger, ein Lektor, ein Schriftsteller, eine Hörfunkredakteurin und Literaturkritikerin, eine Filmkritikerin, eine Schriftstellerin und Musikerin, ein Theologe und Lyriker.

Das Li-Be von innen und außen

Das Li-Be ist Prosa, Lyrik, Theater, Sachliteratur, Graphic Novel, Kinder- und Jugendliteratur, Literaturgeschichte, Literatur in digitaler Form: auf Deutsch, in den Sprachen Europas und vielen weiteren Sprachen, wie Qaf bezeugt, eine Reihe von szenischen Lesungen, die sich dem zeitgenössischen arabischen Theater widmet; eine Kooperation mit der arabischen Kulturinstitution Barzakh, gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

Das Programm des Literaturhauses ist facettenreich und interkulturell, denn die Gemeinschaft aus Liebhabern der Weltliteratur ist verschiedenen Alters und kommt aus Berlin, dem ganzen Land, der ganzen Welt. In meiner Vorstellung ähnelt sie Harlekins Kostüm: bunt und wunderschön. Ins Li-Be kommt man, um an Buchpremieren teilzunehmen, an Treffen mit Autorinnen und Autoren, Lesungen, Ausstellungen, philosophischen Cafés. Ein Teil des Programms widmet sich literarischen Spaziergängen, auf denen Stadt- und Literaturgeschichte parallel erkundet werden, ausgehend von der Vorstellung, dass Literatur in Büchern, aber genauso auf Straßen und Plätzen, in Häusern, öffentlichen Kunstwerken und Cafés lebt. In diesen Monaten einer internationalen Gesundheitskrise, in denen das Literaturhaus alle Publikumsveranstaltungen absagen muss, ist das Thema der Verbindung von Innen- und Außenraum noch dringlicher.

Die Bedeutung der Zusammenarbeit mit Kulturpartnern vor Ort, im ganzen Land, weltweit

Das Kulturprogramm zeigt deutlich, dass die Planung auf einer Vernetzung mit Partnern basiert, die nicht nur Geldgeber und Unterstützer sind, sondern in erster Linie vielfältige Zugänge zum Wissens- und Erfahrungsschatz des Li-Be ermöglichen. Literatur auf Arte etwa ist eine Kooperation mit dem Fernsehsender, in deren Rahmen Dokumentarfilme zur Literatur und Verlagswelt sowie Literaturverfilmungen gezeigt werden. Die Veranstaltungen mit Autorinnen und Autoren erfolgen in Zusammenarbeit mit Verlagen, anderen Literaturhäusern, öffentlichen und unabhängigen Radiosendern, Universitäten, Instituten und Kulturstiftungen. Ein klares Beispiel dafür, was „Kooperation“ für das Li-Be bedeutet, bietet eine Veranstaltung vom 7. April, die noch auf der Website verfügbar ist. Realisiert wurde sie in Kooperation mit dem Institut für Germanistik der Universität Innsbruck, zu dessen Aufgaben Forschung und Lehre in den Disziplinen Literaturkritik, angewandte Literaturwissenschaften und Literaturvermittlung gehören. Letztere wird durch transmediale Projekte unterstützt: Online-Magazine, Literaturblogs oder Experimente wie das vom 7. April. Die Schriftstellerin Judith Kuckart hätte ihren letzten Roman im Rahmen der 50. Rauriser Literaturtage im Salzburger Land vorstellen sollen; stattdessen ist die Präsentation online erfolgt, durch die Vermittlung von neun Studentinnen und Studenten, die eine Liveschaltung zwischen Innsbruck und Berlin moderierten.
  • Das Monatsprogramm der Aktivitäten des Li-Be © Foto: Giulia Mirandola
    Das Monatsprogramm der Aktivitäten des Li-Be
  • Der Li-Be-Garten gehört zu den Gartendenkmalen in Berlin © Foto (Zuschnitt) Giulia Mirandola
    Der Li-Be-Garten gehört zu den Gartendenkmalen in Berlin
  • Café Wintergarten © Foto: Giulia Mirandola
    Café Wintergarten
  • Programm der Reihe <i>Qaf</i>, die in Zusammenarbeit mit Barzakh dem arabischen Gegenwartstheater gewidmet ist. © Foto: Giulia Mirandola
    Programm der Reihe Qaf, die in Zusammenarbeit mit Barzakh dem arabischen Gegenwartstheater gewidmet ist.
  • Eingang der unabhängigen Buchhandlung Kohlhaas & Company © Foto: Giulia Mirandola
    Eingang der unabhängigen Buchhandlung Kohlhaas & Company
Eine andere denkwürdige Initiative ist der Podcast Call for fiction, eine Zusammenarbeit mit dem unabhängigen Label „Kabeljau & Dorsch“, das sich experimentellen neuen Formaten und der Realisierung von Literaturprojekten widmet, mit Schwerpunkt auf jungen Autorinnen und Autoren. Bisher sind zwei Folgen erschienen. Hier werden Autorinnen und Autoren dazu eingeladen, einen von der internationalen Gesundheitskrise inspirierten Kettenbrief zu schreiben. Ausgehend von der Frage: „Sind wir in einem dystopischen Roman gefangen?“

Neue digitale Wege

Das Literaturhaus hatte sofort beschlossen, seine Aktivitäten trotz der sogenannten Corona-Krise fortzuführen. Ohne anwesendes Publikum natürlich, aber unter Erprobung unterschiedlicher neuer Formate wie Podcasts und Videostreaming, möglicherweise im Freien, vom Balkon aus oder im Garten. Zentral sind, in einer Situation ohne Publikumsveranstaltungen, die Nutzung der Kultur und die kurz-, mittel- und langfristige Planung und Produktion. Eine Reihe von Dingen sollte jedoch nicht Vergessenheit geraten und Literaturliebhabern bewusst sein: Schreibende und Lesende teilen die physische Distanz und die existenzielle Nähe, die Möglichkeit, den historischen Moment zu verlassen und an allen Orten, in allen Zeiten zusammenzukommen. Und die positive Energie, die von der treuen Gesellschaft der Worte und der Freiheit des geistigen Umherstreifens ausgeht.

Fantasievoll arbeiten

Die Wege, die das Literaturhaus seit seiner Schließung fürs Publikum einschlägt, erinnern an den Begriff der „Fantasie“ und seine Bedeutung für Kulturaktivitäten. Der Schriftsteller, Grundschullehrer und Pädagoge Gianni Rodari, der 1970 den bedeutenden Hans-Christian-Andersen-Preis erhielt und 2020 anlässlich seines 100. Geburtstags mit zahlreichen Veranstaltungen gefeiert wird, sagte: „Ich würde das Wort ‚Fantasie‘ nie als Gegenteil des Wortes ‚Realität‘ verwenden, die Fantasie ist ein Instrument, mit dem wir die Realität kritisch erkunden können; ‚rational‘ und ‚irrational‘ würde ich ebenso niemals als Gegensatz verwenden […], auch die Einbildungskraft ist Teil der Realität , auch die Fantasie ist Teil der Realität, auch das Irrationale ist Teil der Realität.“ Das Literaturhaus Berlin kann uns als Beispiel dienen, wenn wir wissen wollen, wie die Arbeit der Literaturvermittlung heutzutage aussieht, ein schwieriges, faszinierendes Handwerk, das notwendigerweise der Fantasie bedarf.