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Versuche einer Rückkehr
Über die Wellen

Undine Finds Pompeii
Undine Finds Pompeii (Ivana Miloš), monotype, collage and gouache on paper, 42 x 18 cm | Illustration: © Ivana Miloš

Sophie Holzberger, Kinoliebhaberin und Wissenschaftlerin an der Universität Mainz, und Carlos Natálio, portugiesischer Filmkritiker, trafen sich, als kämen sie gerade aus dem Kino, um über Undine von Christian Petzold zu sprechen. Ein Gespräch über die Aufhebung der Zeit, tragische Liebe, die Rituale des Kinos, die Romantik der Farbe und die Angst, das Sehen zu verlernen.

Von Carlos Natálio

Was passiert, wenn wir einen dunklen Raum betreten? Wir stoßen mit Gegenständen zusammen oder bleiben bewegungslos, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Langsam werden aus dem zunächst formlosen schwarzen Fleck die Umrisse der Elemente im Raum. Wir lernen für einen Moment, in der Finsternis zu sehen.

Während dieser fast eineinhalb Jahre andauernden Pandemie COVID19 sind Kinoliebhaber aus den Sälen ausgesperrt. Abgeschnitten von jenen Tempeln der Dunkelheit, in denen sie gelernt haben, den Blick als Instrument für Emotion und Wissen zu gebrauchen. Vielleicht ist es für diejenigen, die mit dem Kino aufgewachsen sind, genau umgekehrt wie im Beispiel des dunklen Zimmers: Es ist die fehlende Dunkelheit, eine auferlegte Helligkeit, die blind machen kann. Ich glaube, dass wir - als die anpassungsfähigen Wesen, die wir sind - das Sehen verlernen können. Genauso aber glaube ich, dass es möglich ist, es neu zu erlernen. Vielleicht ist dies das Ziel, das in den kommenden Monaten vor uns steht, wenn die Kinosäle wieder Orte sind, an denen Isolation in Gemeinschaft möglich wird, unsere Dunkelheit, die uns sehen lässt.

Das imaginäre Kino: Versuche einer Rückkehr

Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich muss mich jetzt bemühen, mich an die letzten Gespräche zu erinnern, die ich mit Freund*innen beim Verlassen eines Kinos geführt habe. Gespräche, die einen Film zerstören können. Oder ihn neu erschaffen, in Sekundenschnelle, unter der meißelnden Kraft eines Satzes. Ich erinnere mich an die Enttäuschung über das Zerfallen eines Films. Aber auch an die Anregung, die in der Komplizenschaft liegt: als ob die Filme beim Verlassen des Kinos aufblühten, ein gemeinsames Werk entstünde, in dem jeder Satz den ersten Eindruck noch stärker vertieft.

Diese Gespräche – Erweiterungen der Filme, die in sich immer unvollendete Werke sind – können wir heute unter den immer noch andauernden Bedingungen des Lockdowns nachstellen, wie einen Versuch der Imagination. Ein Gespräch außerhalb des Kinos, ohne die Wände, die Leinwand, die Sitze, das Publikum, das uns in einem physischen Raum umgibt. Es ist dieser Versuch einer Rückkehr in die Finsternis, zu dem wir mit dieser, jetzt beginnenden Reihe von vier Texten anregen.

Die Anregung, die in der Komplizenschaft liegt: als ob die Filme beim Verlassen des Kinos aufblühten, ein gemeinsames Werk entstünde, in dem jeder Satz den ersten Eindruck noch stärker vertieft.


Die Prämisse ist einfach. Patrick Holzapfel, der Co-Autor dieser Textreihe, und ich haben zwei filmbegeisterte Freunde ausgewählt. Sie haben ein Kino in der Nähe ihres Wohnorts ausgesucht, in das sie uns imaginär eingeladen haben, um einen Film zu sehen, den sie ebenfalls selbst vorgeschlagen haben. Was ist das Ergebnis? Ein Film und ein Text, die jeweils Tausende von Kilometern zurücklegen. Und die Begeisterung, die der Austausch von Eindrücken beim Verlassen eines Kinos auslöst, und sei es nur durch die Emotion der Erinnerungen und Erwartungen einer bevorstehenden physischen Präsenz.
Mit dieser Prämisse bat Patrick seine Freundin Sophie Holzberger, die als Wissenschaftlerin an der Universität Mainz arbeitet und in Berlin wohnt, mir einen Kinobesuch vorzuschlagen. Sie lud mich ein, in das Open-Air-Kino Pompeji in Friedrichshain, einem Viertel in Ost-Berlin, zu gehen, um Undine von Christian Petzold zu sehen.

Und so ging ich hin.

Wenn das Kino alles durchdringt

Ich erinnere mich, dass es eine laue Nacht war. Doch Sophie hatte Decken mitgebracht und heimlich Tee eingesteckt. Man weiß nie, wie kalt es in einer Berliner Aprilnacht sein wird, gestand sie mir. Ich stellte mir vor, wie ich am Biergarten beim Kino vorbeiging, von dem sie mir erzählt hatte. Niemand trug Masken, abgesehen von denen, die wir in unseren sozialen Rollen immer schon getragen haben. Lachen war zu hören, Freude wurde in einer fremden Sprache ausgedrückt, die, weil ich sie nicht verstehen konnte, noch echter und wahrer erschien. All das gab mir das Gefühl, „zu Hause zu sein“ - es ist von besonderer Ironie geprägt, diesen Ausdruck jetzt zu verwenden, zu einer Zeit, in der das Innere des Hauses in uns den Wunsch auslöst, uns vorzustellen und zu fühlen, was draußen vor sich geht. Um ehrlich zu sein: All das hat mich gegen die Idee einer Mauer, einer sicheren und hygienischen Grenze aufgebracht. (Wenn wir gesund sind, erlauben wir uns den Luxus, Sätze wie diesen zu schreiben.) Wie gesagt, das Deutsche klang fremd für mich, aber ich konnte die Körper, das Glück, das Lächeln und die neugierigen Blicke verstehen.

Der Saal, der keiner ist, sondern eher ein einladender Raum im Freien, erinnerte mich an Filmsessions auf der Terrasse der Cinemateca Portuguesa oder an die Programme "No País do Cinema", die im Sommer von der Vereinigung Os Filhos de Lumière im Polo Cultural das Gaivotas in Lissabon organisiert werden. Die Kälte kann einen Film erschüttern, aber auch das Atmen der Menschen, die plötzliche Stille, die durch die Helligkeit der Leinwand entsteht, oder – wie ich Sophie von einem anderen Kinobesuch erzählte - eine Eidechse, die blitzschnell die Wand erklimmt, an die der Film projiziert wird. Das Kino der Häuser, der Räume, das in das Kino der Bildschirme eintritt. Das Kino durchdringt und stellt uns die Frage, wie es wäre, wenn wir allen Dingen mit der aufmerksamen Wahrnehmung des Kinos begegnen könnten. Zweifellos eine Utopie und eine Katastrophe, oder auch eine Nymphe und eine Eidechse, wie wir später kommentierten.

Niemand trug Masken, abgesehen von denen, die wir in unseren sozialen Rollen immer schon getragen haben. Lachen war zu hören, Freude wurde in einer fremden Sprache ausgedrückt, die, weil ich sie nicht verstehen konnte, noch echter und wahrer erschien.


Wir sprachen über die Idee des leeren Zentrums im Zusammenhang mit der kulturellen Kontroverse um Architektur und Identität, die die Entstehung des Humboldt Forums und den Wiederaufbau seines Gebäudes umgibt – und die in einem der seltsam intimeren Momente zwischen Undine und Christoph, den Hauptfiguren in Petzolds Film, zu Tage tritt. Diese Idee eines leeren Zentrums, das sich in den Räumen des Films, aber auch in seiner narrativen Steuerung der Ereignisse wiederfindet (in der zweiten Hälfte scheint alles zu passieren), trifft letztlich auch auf das zu, was wir „einen Film sehen“ nennen. Für eine bestimmte Zeit konzentrieren sich unsere Augen und unser Geist auf ein Objekt, ein Zentrum. Aber beim Verlassen, wenn das Gespräch zwischen den Menschen, die es gesehen haben, beginnt, erkennen wir, wie dieses Zentrum in gewisser Weise leer war und darauf wartete, dass jede/r von uns es mit seinen oder ihren eigenen Eindrücken ausfüllt. Und es ist wundervoll zu erkennen, wie es möglich ist, über die gleiche Sache zu sprechen, während diese Erfahrung trotzdem für jeden von uns einzigartig und einmalig ist.

Auf dem Weg nach draußen erzählte mir Sophie davon, dass die Romantik des Films für sie vor allem in den Farben zu finden war. Wie könne man diesen Grün- und Blautönen und dem Feuer, das aus Paula Beers Haar kommt, nicht zustimmen? Sie sagte mir auch, dass in den Zwischenräumen des Films - die Zimmer, die Zugwaggons, das Aquarium – eine Idee des Verschwindens und der Unfähigkeit, vorwärts zu gehen, mitschwingt. So wie die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann in der Kurzgeschichte Undine geht den flüchtigen und haltlosen Charakter der Nymphe Undine beschreibt. Ich erinnerte mich an David Leans unvermeidliche und einzigartige Begegnungen (Brief Encounter), an Vertigo, durch die Janusköpfigkeit der rachsüchtigen und der verliebten Undine. Doch ich dachte auch an die Liebe zwischen einem anderen Wasserlebewesen und einem Menschen, von der Guillermo del Toro in Shape of Water erzählt. 

Vom Museumsblick zum nomadischen Blick

Die tragische Dimension des Undine-Mythos ist romantisch und fatal aufgeladen - eine zur Rache verdammte Frau, die mit dem Scheitern der wahren Liebe konfrontiert ist. Ein Körper, der im Angesicht der Untreue erstickt zusammenbricht. Petzold scheint diese tragische Dimension - eine Unausweichlichkeit durch die Jahrhunderte – in einem Spiel zu erarbeiten, das die Heldin, eine Kunsthistorikerin, selbst verkündet. Ein Gebäude, das durch seine Symbolik niedergerissen, im Angesicht anderer Werte wieder aufgebaut wird und schließlich, inspiriert vom ersten Modell, noch einmal wieder aufgebaut wird, ist ein Zeichen für die Sedimentation der Zeit, aber auch für die Unvermeidbarkeit, Symbole den Metamorphosen der Gesellschaft entsprechend zu erneuern. Wie in einer Tragödie, in der sich die Zeit immer weiter zu bewegen scheint, ohne jemals wirklich den einen Ort verlassen zu können.

Die Gegenüberstellung der Zeiten in Undine erinnerte mich - erst recht, nachdem ich den Film in einem Kino „gesehen“ hatte, dessen Name Pompeji ist - an die Liebenden, die in der Asche des Vesuvs gefangen sind, in jenem Schlüsselmoment von Roberto Rossellinis wunderbarem und unerklärlichen Viaggio in Italia. Gefangen in einer zerstörerischen Liebe, wie Ingrid Bergman und George Saunders, die eine Liebe durch die Jahrhunderte fortsetzen, erstarrt Undine in Asche und Zelluloid. Ich erzählte Sophie, dass diese Idee der Gegenüberstellung von Zeiten eine interessante Art und Weise sei, Petzolds Kino zu sehen: die historischen Zeiten in Deutschland, aber auch die Zeiten einer Geschichte des Kinos, mit seiner Art, Pathos zu beschwören und dabei auf gewisse Weise Genres des Nachkriegskinos, des Noir oder des romantischen Thrillers wiederzubeleben. Die Zeit von Petzolds Filmen entspricht also jener beunruhigenden Fremdheit: eine Gleichzeitigkeit, die eine tragische Aufhebung anstrebt, ein Transit in der Idee der gleichen conditio humana, ein stayin‘ alive in der Romantik von Bach.

Wenn im Jahr 2021 Texte wie diese mit der Feder einer gewissen Nostalgie für die Rituale des Kinos geschrieben werden, dann scheint gleichzeitig auch Undine nicht immun gegen diese Nostalgie zu sein. Vielleicht sogar das gesamte Kino von Petzold. Bestimmte Entscheidungen legen die Suche nach romantischer Tiefe offen - ich denke an die Szene, in der die Liebenden darüber lustig machen, dass er auf der Bahnhofsbank eingeschlafen ist, oder die Aufnahmen des Wassers, in denen wir Undines amouröse Seufzer hören. Als ob das Skelett der kinematografischen Sprache zu sehr entblößt wäre und die Freiheit derer beeinträchtigen würde, die versuchen zu denken und zu fühlen, was sie wollen. Ich glaube, dass diese übertriebene Klarheit gewissermaßen auch Teil der Absicht ist, uns daran zu erinnern, was das Kino in der Vergangenheit leisten konnte. Die Beschwörung einer Magie, die, so wieder aufgewärmt, halb träge erscheint, unfähig, das zu erreichen, was einst bereits gefilmt wurde.

Ich erklärte Sophie meine zwiespältigen Gefühle gegenüber dem Film: Die Idee, dass das zeitgenössische Kino die Mystik seines historischen Erbes suchen und erweitern sollte befremdet mich. Als ob Filme heute ihre eigene Erbfolge beweisen müssten. Diese Selbstverständlichkeit einer kindlichen Verbundenheit hat den paradoxen Beigeschmack, dass sie die Geschichte des Kinos in eine Art unangetastetes Haus verwandelt, das Staub ansammelt und die Gegenwart mit einem musealen Blick überstreift. Zugleich scheint auch das Gegenteil - die Logik des unreflektierten und automatischen Bruchs mit der Vergangenheit - eine kurze Lunte zu haben. Stattdessen muss der Blick, wie die Gespräche am Ende einer solchen Vorführung, deren Worte in alle Richtungen zu gehen scheinen, nomadisch bleiben, mit einem „Fuß in der Tür“, gleichzeitig  bereit zu verweilen aber auch umgehend wieder zu gehen.

Aufhebung oder Überwindung?

Das Kino blieb die ganze Nacht über geöffnet und die Unterhaltung hielt die Zeit in einer magischen Schwebe. Ich erinnere mich, dass Sophie mir erzählte, dass sie sich bis vor kurzem geweigert hatte, zu Hause, in der Enge des Lockdowns, Filme zu sehen. Vielleicht aus der Anfangs beschriebenen Angst, das Sehen zu verlernen. Aber sie erzählte mir auch, dass sie sich nach und nach auf diese Rückkehr zum Film eingelassen hat. Ich glaube, dass unser Gespräch ein Teil dieser Rückkehr zu den Bildern war, eine Art der Auseinandersetzung mit einer stagnierenden Zeit.

Und was ist mit der vermeintlich zeitlosen Suspense des Films, den wir an diesem Abend gesehen haben? Die letzte – subjektive – Einstellung, ist vom Wasser aus gedreht, von der untergehenden Undine. Mit einem wichtigen Detail: Die Nymphe scheint ihren Zustand überwunden zu haben. Sie hat ihren Geliebten in die Arme einer anderen Frau entlassen.

Ich glaube, dass unser Gespräch ein Teil dieser Rückkehr zu den Bildern war, eine Art der Auseinandersetzung mit einer stagnierenden Zeit.


Undine kommt von „Onda“, Welle. Ein Ausdruck, der in letzter Zeit in aller Munde ist, aus den schlechtesten und offensichtlichsten Gründen. Ich glaube nicht an Zufälle. Deshalb denke ich bis heute daran, dass Sophie mir einen Film vorgeschlagen hat, an dessen Ende es einem Mann gelungen ist, die Wellen zu überwinden, die vagas [port.: Welle, aber auch Leerstelle, Wendepunkt]. Im Kino lese ich die Zeichen der Hoffnung.
 

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