In Lutz Seilers zweitem Roman, Stern 111, steht das Leben der Familie Bischoff nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Mittelpunkt. Die Eltern, Inge und Walter, entscheiden sich, die ehemalige DDR zu verlassen, um sich im Westen niederzulassen. Der Sohn Carl bleibt mit der schweren Aufgabe zurück, das Elternhaus in der Stadt zu hüten, wo sie seit eh und je gewohnt hatten. Doch nach einiger Zeit verlässt Carl das Elternhaus, um in Ost-Berlin ein neues Leben zu beginnen und sich einer Gruppe Hausbesetzer anzuschließen, die zu seiner neuen Familie wird. Er lebt in ärmlichen Verhältnissen auf der Straße und dann in einer verlassenen Wohnung, arbeitet in der Gemeinschaftskneipe, der “Assel”, und bereitet sich auf eine Existenz als Dichter vor.
Seine Eltern versuchen inzwischen in Westdeutschland einen Neubeginn, wo sie zuletzt eine gut bezahlte Arbeit finden und ihrem alten Traum der Auswanderung in die Vereinigten Staaten folgen. Die Pläne seiner Eltern sind für Carl überraschend. Er wird sich Jahre später mit ihnen in Kalifornien treffen und dann wieder nach Berlin zurückkehren. Am Ende lässt sich Carl etliche Jahre nach der Wiedervereinigung in einer Stadt nieder, die nicht mehr viel mit dem Berlin gemein hat, das er bei seiner ersten Ankunft kennenlernte.
Stern 111, so heißt ein in der DDR hergestelltes Kofferradio. Es symbolisiert die erste Hälfte des Lebens der Familie Bischoff – das Radio war die erste gemeinsame Anschaffung des jungen Paares. Mit dem Stern 111 konnte auch Westmusik gehört werden. Das Gerät hat in der Familie einen besonderen Stellenwert und es wird sie auf ihrem Lebensweg bis nach Amerika begleiten.
Wieviel aus der Vergangenheit ist noch im Hier und Jetzt dieser Personen zu finden? Dies könnte die Kernfrage des Romans sein. Die Wiedervereinigung wird hier paradoxerweise als Trennungsmoment dargestellt – die Familie trennt sich zwischen Ost und West – und die Wiedervereinigung erscheint als eine Art Betrug, ein Ereignis, dass lediglich Veränderungen beschleunigt. Manche dieser Veränderungen werden von den drei Familienmitgliedern ersehnt, andere nicht.
Berlin ist hier der Knotenpunkt, in dem sich alle Spaltungen Deutschlands spiegelten. Die Stadt hat in dem radikalen Lebenswandel der Personen einen besonderen Stellenwert: es ist die Stadt der Utopien, in der der Traum einer fairen und brüderlichen Gesellschaft für alle Raum findet, aber auch die kosmopolitische Metropole, in der der westliche Kapitalismus in seiner unbarmherzigen Logik der Sanierung, Säuberung und Immobilienspekulation alles aufsaugt und die charakteristischen Merkmale eines Gesellschaftsmodells, desjenigen der DDR, auslöscht, um es als etwas aus einer archaischen Vergangenheit in Vergessenheit geraten zu lassen.
Die Erzählperspektive pendelt zwischen der Carls und der der Eltern, und somit zwischen zwei verschiedenen und voneinander entfernten Orten. Der Leser wird nicht nur durch die verschiedenen Lebensgeschichten gefesselt, sondern auch durch die Erwartung eines Wiedertreffens von Eltern und Kind, zwischen denen die Kommunikation nur schwer und unregelmäßig zustande kommt. Das Wiedersehen wird überraschenderweise in einem anderen Land stattfinden, in den Vereinigten Staaten. Es wird auch ein realistisches Panorama der Veränderungen dargestellt, die Deutschland während und nach der Wiedervereinigung, vor allem im Osten, durchgemacht hat. Der Roman reiht sich so in die literarische Tradition ein, die nach der „Wende“ Deutschland noch als zweigeteiltes Land betrachtet (wie z.B. in „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf) und nicht an eine tatsächliche Wiedervereinigung glaubt.