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Eine Debatte
Grüne Städte für alle?

Debatte im Garten des Goethe-Instituts
Foto: © Christine Auer

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten. Dieser Anteil wächst stetig, während zugleich Umweltprobleme zu einer der größten Herausforderungen unseres Jahrhunderts geworden sind. Wie können wir umweltfreundlichere Städte schaffen, die den Bedürfnissen der gesamten Stadtbevölkerung gerecht werden? Wie können Entwicklungsprozesse von Parks und Grünflächen in der Stadt, ebenso wie ihre Nutzung, so gestaltet werden, dass sie gerecht sind, alle mit einbeziehen und auf Zusammenarbeit beruhen?

Das Goethe-Institut Portugal und die Friedrich-Ebert-Stiftung in Portugal luden vier Expert*innen zu einem Gespräch zum Thema „Urbane Umweltgerechtigkeit“ ein, das von der Journalistin Margarida Cardoso moderiert wurde. Die Architektinnen Joana Pestana Lages und Margarida Marques, der Aktivist Miguel Correia Pinto und der Forscher Roberto Falanga sprachen über Ungleichheit zu Zeiten der Pandemie, über Bürger*innenbewegungen, die in Lissabon entstanden sind, um sich für eine grünere Stadt einzusetzen, sowie die Notwendigkeit, die Stadt gemeinsam mit allen sozialen Gruppen zu gestalten.

Margarida David Cardoso: Das Konzept der Umweltgerechtigkeit, das das Motto dieses Gesprächs ist, entstand in den 60er Jahren als eine Erweiterung der Bürgerrechtsbewegung in den USA, weil die Notwendigkeit deutlich wurde, Konsequenzen von Umweltproblemen für marginalisierte Bevölkerungsgruppen in den sozialen Kampf mit einzuschließen. An diese Problemstellung – die Umwelt mit marginalisierten Gruppen verbindet – möchte ich die Frage nach der Stadt anschließen. Joana, kannst du erklären, inwiefern die urbanistischen Probleme auch soziale Probleme sind?

Joana Pestana Lages: Wenn wir davon sprechen, dass wir eine gerechtere Stadt wollen, dann muss diese Stadt von allen Menschen zu jeder Zeit bewohnbar und nutzbar sein. Wir wissen, dass es zum Beispiel bestimmte soziale Gruppen gibt, die von einer aktiven, vollständigen, zivilen Teilnahme am städtischen Leben ausgeschlossen werden. Gerade deshalb ist die Frage nach dem öffentlichen Raum, nach Gentrifizierung, dem Zugang zu nutzbaren Parks und zu städtisch gefördertem Wohnraum für all die Bevölkerungsgruppen, die darauf angewiesen sind, ein Konzept, das notwendigerweise im Raum umgesetzt werden muss, weil es irgendwo physisch realisiert wird, in unseren Körpern, in Gebäuden, das aber auch über eine öffentliche Politik umgesetzt werden muss, die genau diese Verbindung fördert.

"Grüne Gentrifizierung": Dieser Dialog war Teil des digitalen Workshops "Wie können wir eine grünere Stadt für alle schaffen?", der im Juni 2020 stattfand und von der Friedrich-Ebert-Stiftung Portugal und dem Goethe-Institut Portugal im Rahmen des Projekts "Retomar a Cidade - The City of the Future" organisiert wurde. © Friedrich-Ebert-Stiftung in Portugal / Goethe-Institut Portugal
Margarida David Cardoso: Margarida, was bedeutet das Konzept der urbanen Umweltgerechtigkeit, wenn wir über Lissabon sprechen? In welcher Hinsicht gibt es in Lissabon dieses Ungleichgewicht und wie spiegelt sich die Umweltgerechtigkeit bzw. -ungerechtigkeit wider?

Margarida Marques: Wenn wir an die Investitionen denken, die über einen Zeitraum von 50 Jahren an dem einen oder anderen Ort der Stadt getätigt wurden, dann sehen wir, dass sie ungleich verteilt sind – und gleichzeitig waren die Ausgangspunkte vor 50 Jahren bereits ungleich. Radwege sind ein gutes Beispiel für dieses Phänomen, da sie nicht gleichmäßig über alle Punkte der Stadt verteilt sind, was interessanterweise auch die Pop-Up-Radwege betrifft, die jetzt dafür genutzt werden, die Zahl der Personen in öffentlichen Verkehrsmitteln zu reduzieren. Ich denke, die Quarantäne hat dazu geführt, dass wir spüren, was wir am meisten brauchen. Essentielle Orte zu Fuß zu erreichen, ohne öffentliche Verkehrsmittel nutzen zu müssen, und Parks für Spaziergänge an der frischen Luft. Nicht alle Menschen in der Stadt hatten ein Anrecht darauf. Ich glaube, dass die Pandemie uns befähigt, einige Dinge deutlicher zu sehen.

Margarida David Cardoso: Welche Kriterien sollten deiner Meinung nach Teil der staatlichen Strategien sein, diese Ungleichheit zu beseitigen oder zumindest zu lindern? Roberto, eine der Bedingungen für Umweltgerechtigkeit ist die aktive und effektive Partizipation der lokalen Gemeinschaften. Bedeutet das, dass eine Stadt, in der es mehr Partizipation oder eine effektivere Partizipation der Communities gibt, tendenziell eine gerechtere Stadt ist?
 

Roberto Falanga: Das Wort Partizipation ist ein Begriff und ein Konzept, das extrem oft gebraucht und vielleicht auch missbraucht wird. In den letzten Jahren wurde es mit anderen mehr oder weniger ähnlichen Konzepten verknüpft, wie Ko-Kreation und Koproduktion. Es gibt verschiedene Modelle von Partizipation und meiner Meinung nach ist es interessant, hier zu differenzieren, auch um das eigentliche Konzept von Partizipation nicht zu banalisieren. Partizipation für sich alleine bedeutet nichts. Das Modell zu betrachten bedeutet bereits etwas, weil wir verstehen können, wo der Zugang liegt und wie ich etwas beeinflussen kann oder nicht.
 
Miguel Correia Pinto: Wir leben in einem demokratischen System. Folglich besitzt die Exekutive, also Personen, die in den Stadt- oder Bezirksrat gewählt werden, eine demokratische und repräsentative Legitimierung. Diese Art von Partizipation existiert bereits. Deshalb sprechen wir von einer anderen, darüber liegenden Ebene, die dabei helfen kann, die Entscheidungsprozesse und öffentlichen politischen Maßnahmen zu verbessern.
 
Roberto Falanga: Wir sind sehr darauf bedacht zu sagen, dass in der Demokratie Partizipation die eine Sache ist und die repräsentative Demokratie die andere, aber wir stellen letztere nicht in Frage. Was mir wichtiger erscheint, ist, an neue Kanäle der Partizipation zu denken und das auf eine strategische und gleichzeitig systematische Art und Weise. Von der Idee eines meist isolierten Prozesses innerhalb des Handlungsfelds der Exekutive zu einer Idee von Partizipation überzugehen, die umfassend Teil der strategischen Planung öffentlicher Politik ist. Vor einigen Jahren förderte Cascais die Partizipation seiner Bürger*innen, zum Beispiel in der Entwicklung einer Strategie für die Gesundheitsförderung. Es gibt also viele Bereiche, in denen Partizipation ausprobiert und realisiert werden kann. Es müssen jedoch Werkzeuge geschaffen werden, die all diese Erfahrungen zusammenbringen, sonst partizipiert weiter jede*r in seinem oder ihrem eigenen Hinterhof, jeder Bereich fördert seinen eigenen Partizipationsprozess und jede Abteilung ihre partizipative Initiative, ohne sich abzusprechen.
"Partizipation": Dieser Dialog war Teil des digitalen Workshops "Wie können wir eine grünere Stadt für alle schaffen?", der im Juni 2020 stattfand und von der Friedrich-Ebert-Stiftung Portugal und dem Goethe-Institut Portugal im Rahmen des Projekts "Retomar a Cidade - The City of the Future" organisiert wurde.
Margarida David Cardoso: Wenn wir nun aber über Umweltgerechtigkeit in städtischen Räumen und partizipative Prozesse reden, was genau meinen wir damit? Wir haben hier das Beispiel von Miguel, der mit dem partizipativen Haushalt von „Caracol da Penha“ Erfahrungen gesammelt hat. Worin bestand die größere Herausforderung: die Nachbar*innen und die Gemeinschaft zu mobilisieren oder das Interesse der lokalen Verantwortlichen zu wecken und das Projekt voranzutreiben? Ich möchte dich auch bitten, genauer zu erklären, wie ihr an diesen Punkt gekommen seid, das heißt, ein bisschen die Geschichte des Projekts zu erklären.
 

Miguel Correia Pinto: Eine der Arbeiten, die wir im technischen Bericht des „Caracol“ verwirklichten, hatte mit einer Analyse des partizipativen Haushalts von Lissabon zu tun. Als wir die Bewerbungen analysierten und pro Bezirk klassifizierten, fiel uns auf, dass es für viele politische Maßnahmen, die jetzt entwickelt werden, zum Beispiel die Fahrradwege und die Nutzung öffentlichen Raumes, bereits seit vielen Jahren Anträge beim partizipativen Haushalt gibt. Das heißt im Umkehrschluss, dass diese partizipativen Instrumente Anhaltspunkte geben, die von den politisch und technisch Zuständigen genutzt werden sollten. Wir setzten jedoch von Anfang an auf drei Achsen: Die politische, die technische und die gemeinschaftliche Achse. Im politischen Bereich nutzten wir die Mittel des partizipativen Haushalts und der Petition und arbeiteten mit allen Parteien und den städtischen Vertreter*innen zusammen. Auf der technischen Seite schufen wir ein gutes theoretisches Fundament dafür, warum dieser Raum ein Park sein sollte und kein Parkplatz. Und in der gemeinschaftlichen Achse wurde von Anfang an die Bevölkerung mit einbezogen, die natürlich all diese Bereiche noch verstärken würde. Wir haben außerdem versucht, Brücken zu Vereinigungen und Universitäten zu schlagen, um die Bewegung noch breiter aufzustellen, unsere Argumente zu untermauern und mehr Verbündete an unserer Seite zu wissen. Entscheidend ist, eine inklusive Sprache zu sprechen, eine Sprache, die versucht, alle zu erreichen. Nach der Abstimmung im partizipativen Haushalt und nach so viel Interesse und Ideen, nicht nur im Viertel, sondern in der ganzen Stadt, haben wir der Stadt Lissabon vorgeschlagen, einen partizipativen Prozess zu entwickeln, um die Gestaltung des zukünftigen Gartens zu definieren.
Margarida Cardoso: Eine Schwierigkeit in partizipativen Prozessen ist es, zu einem einstimmigen Konsens zu kommen. Wie können die unterschiedlichen Meinungen darüber, wie ein Raum aussehen sollte, zusammengebracht werden, wenn man diese Schwierigkeit berücksichtigt? 

Joana Lages: Oft dienen partizipative Prozesse als Mittel, eine Sache zu legitimieren, die das Interesse einer Gruppe oder einer Person darstellt. Deshalb hat Partizipation diese Konfliktdimension, die man nicht vergessen darf. Es gibt eine Dimension des Konsenses und Dissenses, an der wir arbeiten müssen. Es gibt Prozesse mit Mechanismen, die einen echten Dialog mit denen, die zurückbleiben, etablieren können.
 
Margarida Cardoso: Kannst du Beispiele dafür geben, wie so etwas gelingen kann?
 

Joana Lages: Es ist sehr wichtig, Übersetzungswerkzeuge zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Kenntnissen zu schaffen. Das wird beim Flächennutzungsplan deutlich. Wir kommen an irgendeinen Ort und mit einer Karte voller farbig markierter Zonen und Register und mit einem technischen Jargon, den die Menschen nicht verstehen. Ich kann hier ein interessantes Beispiel geben: Ich habe einen Prozess in einer sogenannten AUGI, einer „illegal entstandenen Zone“ begleitet, in dem diese AUGI umgestaltet werden sollte. Das Viertel lag an einem Hang, der nicht gut abgesichert war. Es gab einen sehr komplizierten Prozess, um die Hänge zu stützen und einige Häuser sollten dafür abgerissen werden, andere nicht. Und es gab ein Treffen, bei dem die Zuständigen des Bezirks Odivelas versuchten, den Anwohner*innen, die bereits ein gewisses Alter erreicht hatten und diesen Regularisierungsprozess seit über 50 Jahren miterlebten, den Prozess zu übersetzen. Diese Sprache war von solch einer technischen Komplexität, dass niemand auch nur irgendetwas verstand. Also fragten sie am Ende: „Ich verstehe das nicht, wird es nun abgerissen oder nicht? Es rutscht ja tatsächlich…“ Deshalb ist die Übersetzung von Wissen sehr wichtig. Wir hatten in einem partizipativen Prozess folgenden Satz: „Wir sind die Spezialist*innen in Architektur, aber ihr seid die Spezialist*innen darin, hier zu leben.“
"Diversität": Dieser Dialog war Teil des digitalen Workshops "Wie können wir eine grünere Stadt für alle schaffen?", der im Juni 2020 stattfand und von der Friedrich-Ebert-Stiftung Portugal und dem Goethe-Institut Portugal im Rahmen des Projekts "Retomar a Cidade - The City of the Future" organisiert wurde.
Margarida Cardoso: Ein aktuelles Beispiel für einen partizipativen Prozess ist die Bewegung Transformar Marvila, die zum Ziel hat, Parks und Radwege zu schaffen. Wie entstand diese Bewegung? So ähnlich wie Caracol da Penha?
 

Margarida Marques: Ich finde es interessant, dass wir hier von Gerechtigkeit reden, weil ich denke, dass die Bevölkerung, die in anderen Zonen der Stadt lebt, von vorneherein benachteiligt ist. In den vier Vierteln von Marvila, von denen aus dieser Prozess seinen Anfang nahm, lag der Anteil der Personen mit Hochschulabschluss bei den letzten Befragungen bei 1% und die Zahl der Analphabeten lag bei 7%. Dieser Prozess begann, weil schon in den letzten Jahren Initiativen innerhalb der Gemeinschaft zwischen Anwohner*innen und Institutionen existierten. Es begann mit einem Projekt, in dem alle darüber nachdachten, was sich in ihrem Viertel ändern könnte und allein das war in diesem Rahmen bereits ein Anfang. Weil auch wenn es offensichtlich scheint, dass jemand „Wir haben hier keinen Park“ sagte und bereits mehrere Personen darüber nachgedacht hatten; vielleicht war es in diesem Kontext nicht so offensichtlich. Es wurde bereits zuvor ein Besuch des Bürgermeisters geplant, unter anderem um die Gemeinschaftsgruppe kennenzulernen. Die Anwohner*innen bereiteten sich sehr gut vor. Der Bürgermeister sprach über seine grüne Vision für Lissabon und von einer Stadt im Wandel. Und dann sagte eine Anwohnerin: „Wir sind alle sehr zufrieden mit der Vision, die Sie für die Stadt haben, wir wollen einfach wissen, wie diese Vision sich hier an unserem Wohnort widerspiegeln wird.“ Ich mag die Antwort des Bürgermeisters sehr, die da war: „Mir gefällt es wirklich, wenn mir Dinge vorgeschlagen werden, an die ich glaube und die für mich Sinn ergeben. Keine Sorge, hier wird es einen Park geben.“ Und plötzlich gibt es einen Moment der Apotheose von 70 Personen, einen Enthusiasmus, ein ungewöhnliches Kollektiv. Am selben Tag haben wir sofort gefragt: „Diese 70 Personen kamen nicht nur hierher, weil sie Sie als Bürgermeister sehen wollten, sondern weil sie tatsächlich über Dinge entscheiden wollen, die den Ort betreffen, an dem sie leben. Gibt es eine Offenheit dafür, dass sie hier teilhaben können oder nicht?“ Und die Antwort war: „Ja, diese Offenheit gibt es. Organisieren Sie sich und wir bleiben im Gespräch.“ Es gab also den Versuch, einige Ideen zu entwickeln, wie dieser Park aussehen könnte. Und nach einem langen Prozess kamen wir zu einer konkreteren Idee. Hier war es nicht die Stadt, die entschied: wir gehen in dieses Umfeld und organisieren einen partizipativen Prozess. Sie waren einfach offener dafür, dass dies passieren konnte.
 
Joana Lages: Ich denke, dass wir im Grunde eine viel ganzheitlichere Herangehensweise benötigen, die wirklich nicht nur von Urbanismus handelt, sondern auch Bildungs- und Gesundheitspolitik in den Blick nimmt. Denn die Stadt Lissabon agiert nicht nur in der urbanistischen Dimension. Die Menschen wollen einen Park, die Stadt konstruiert einen Park, aber dann gibt es auch eine andere Dimension, weil diese Gruppe vielleicht nicht nur einen Park will, sondern auch Dinge im Park machen möchte, also gibt es auch diese Dimension. Die Umweltgerechtigkeit ist mit der Frage nach der Nutzung von Räumen als gemeinschaftlichen Räumen verbunden, die für alle da sind.
 

Dieser Text vereint Ausschnitte aus dem Gespräch Wie können wir ein grüneres Lissabon für alle schaffen?, das am 26. Juli im Garten des Goethe-Instituts Lissabon stattfand. Das Gespräch war Teil eines Workshops, den das Goethe-Institut Portugal und die Friedrich-Ebert-Stiftung im Rahmen des Projekts Retomar a Cidade – Die Stadt der Zukunft zum Thema Umweltgerechtigkeit im städtischen Raum organisiert haben. In virtuellen Treffen begegneten sich nationale und internationale Expert*innen sowie Vertreter*innen verschiedener Initiativen in Lissabon. Die Videos entstanden im Rahmen dieser virtuellen Treffen. 

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