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Visionen alternativer Gesellschaften
„Utopien sind keine Masterpläne für eine Revision der Gesellschaft“

Manche Utopien – oder Dystopien – wirken bis in die Realität: In Kostümen aus der Verfilmung von „The Handmaid’s Tale“ (Der Report der Magd) protestieren Aktivistinnen 2020 gegen die Berufung der konservativen Richterin Amy Coney Barrett an den US Supreme Court in Washington.
Manche Utopien – oder Dystopien – wirken bis in die Realität: In Kostümen aus der Verfilmung von „The Handmaid’s Tale“ (Der Report der Magd) protestieren Aktivistinnen 2020 gegen die Berufung der konservativen Richterin Amy Coney Barrett an den US Supreme Court in Washington. | Foto (Detail): © picture alliance / Associated Press / Jose Luis Magana

Was wäre, wenn? Zukunftsvisionen sind so alt wie die Menschheit selbst, und viele Ideen zum gesellschaftlichen Miteinander, die uns heute neu erscheinen, sind schon irgendwann einmal von einem klugen Kopf gedacht worden. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Thomas Schölderle über Zweck und Wirkung von Utopien. 

Von Martina Vetter

Thomas Schölderle ist promovierter Politikwissenschaftler und Publikationsreferent an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Nach „Geschichte der Utopie“ (2016) und „Entlegene Pfade. Vergessene Klassiker der Utopie“ (2020) wird Anfang 2022 sein Buch „Auf der Suche nach dem Nirgendwo. Genese, Geschichte und Grenzen der Utopie“ erscheinen. Thomas Schölderle ist promovierter Politikwissenschaftler und Publikationsreferent an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Nach „Geschichte der Utopie“ (2016) und „Entlegene Pfade. Vergessene Klassiker der Utopie“ (2020) wird Anfang 2022 sein Buch „Auf der Suche nach dem Nirgendwo. Genese, Geschichte und Grenzen der Utopie“ erscheinen. | Foto (Detail): © Akademie für Politische Bildung (APB) Herr Schölderle, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Geschichte der Utopie. Was fasziniert Sie als Politologe an diesem Thema?

Utopien bieten interessante und unkonventionelle Ansätze, um sich mit den bestehenden gesellschaftlichen Systemen und ihrer Entstehungszeit auseinanderzusetzen. Utopische Fiktionen kritisieren Fehlentwicklungen, Defizite, Ungerechtigkeit, Leid oder Elend ihrer Gegenwart und setzen dem einen alternativen Gesellschaftsentwurf entgegen, der die Möglichkeiten eines gerechteren oder zumindest andersartigen Daseins auslotet. Als politische Programme, die eins zu eins übernommen werden sollen, verstehe ich Utopien allerdings nicht.

Woher stammt eigentlich der Begriff der Utopie?

Der Begriff geht auf den Engländer Thomas Morus (1478–1535) zurück, der 1516 mit seiner Fiktion vom Inselstaat „Utopia“ auch den Prototyp der literarischen Gattung geschaffen hat.

Was zeichnet den Inselstaat Utopia aus?

Ganz im Gegensatz zur damaligen Gesellschaft haben in Utopia alle weitgehend gleiche Rechte und Pflichten, sie sind gut versorgt, gebildet, dem Gemeinwohl verpflichtet und Privateigentum existiert nicht.

Der Inselstaat Utopia: Titelholzschnitt aus der Erstausgabe von 1516. Der Inselstaat Utopia: Titelholzschnitt aus der Erstausgabe von 1516. | Foto: © picture alliance / akg-images Das klingt ziemlich revolutionär für die damalige Zeit. Wollte Morus mit Utopia einen politischen Umsturz anzetteln?

Nein, sicher nicht. Morus war später sogar englischer Lordkanzler und stets eher ein Vertreter des Establishments. Das kommunistische, vernunftbasierte Gesellschaftsbild, das er in seiner Utopia entwirft, reflektiert die herrschenden Zustände zwar durchaus kritisch, stellt das politische System an sich aber nicht grundsätzlich infrage. Ich verstehe Morus’ Utopia vielmehr als ironisch-satirisches Gedankenspiel, das der damaligen Gesellschaft den Spiegel vor Augen führt. Morus übt Kritik an der mangelnden Bildung und Erziehung, der Kriegslüsternheit der Europäer und den ökonomischen Ursachen der Verelendung. Dass den Pachtbauern, denen ihr Land genommen wurde, schon bei kleinen Diebstählen die Todesstrafe droht, hält Morus für besonders skandalös.

Sind Utopien reine Fantasiewelten, oder können sie durch Kritik an herrschenden Verhältnissen auch Treiber für gesellschaftliche Veränderungen sein?

Ich glaube nicht, dass man bestimmte soziale Veränderungen stets unmittelbar auf eine bestimmte Utopie zurückführen kann. Denkanstöße geben Utopien aber sehr wohl. Und im 19. Jahrhundert rücken Utopien tatsächlich wesentlich stärker an die Realisierungsintention heran als in früheren Zeiten. Ich denke da an Robert Owen, der sowohl utopischer Denker wie Sozialreformer war. Als Unternehmer verbesserte er die Lebensbedingungen für die Arbeitenden in seiner Fabrik drastisch und ließ Schulen bauen. Doch vom Wesen her haben Utopien einen experimentellen Charakter. Sie sind keine Masterpläne für eine Revision der Gesellschaft, auch wenn Utopien vielfach Ideen enthalten, die später verwirklicht worden sind.

Von den utopischen Fiktionen, über die Sie in Ihrem aktuellen Buch „Entlegene Pfade“ schreiben, ist ein 1728 erschienenes Werk seiner Zeit besonders weit voraus. Es ist der zweite Band der „Allgemeinen Geschichte der Räubereien und Mordtaten der berüchtigten Piraten“ und enthält die Legende der Piratenkommune Libertalia auf Madagaskar.

Ja, diese Episode ist in der Tat erstaunlich. Diese fiktive Kommune, in dem ansonsten ja weitgehend auf Tatsachen beruhenden Werk, hat nämlich ein bemerkenswertes Fundament mit lauter fortschrittlichen Ideen: Basisdemokratie, Freiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, aber auch von Menschen unterschiedlicher Herkunft oder Hautfarbe, Abschaffung von Sklaverei und Diskriminierung, Gütergemeinschaft und eine Art Sozialversicherung – und das alles am Anfang des 18. Jahrhunderts, also viele Jahrzehnte vor der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.

Statt hoffungsvoll stimmender Utopien entstanden ab dem 20. Jahrhundert vor allem Dystopien wie „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley, „1984“ von George Orwell, „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood oder „Corpus Delicti“ von Juli Zeh. Sind positive Utopien nicht mehr zeitgemäß?

Die Dystopie ist ja letztlich ein Teil der Utopie-Tradition, gewissermaßen ein Subgenre. Beide Erzählformen sind Gedankenexperimente, in denen es darum geht, sich vorzustellen, was geschehen könnte, wenn sich eine Gesellschaft in die eine oder andere Richtung bewegt. Dass bei dieser Reflektion nicht automatisch ein guter, sondern auch ein schlechter Ort (Anmerkung der Redaktion: griechisch „dys“ bedeutet „un“ oder „schlecht“) entstehen kann, liegt auf der Hand. Besonders interessant ist in diesem Kontext Marge Piercys Woman on the Edge of Time, weil sie feministische Utopie und patriarchale Dystopie in einem ist. Ihr in den 1970er-Jahren erschienener Roman spiegelt mit ihrer weiblichen Hauptfigur die immer noch benachteiligte Rolle der Frauen in den USA wider und setzt dieser zwei völlig konträre Zukunftswelten entgegen: In der Kommune Mattapoisett leben Männer und Frauen gleichberechtigt als weitgehend androgyne Wesen, deren biologische Unterschiede vielfach aufgehoben sind. Kinder werden nicht von Frauen geboren, sondern in Brütern gezüchtet, Männer können stillen und die typische Kleinfamilie existiert nicht mehr. Der dystopische Zukunftsentwurf wiederum beschreibt die autoritäre, patriarchale und dekadente Gesellschaft New Yorks, deren Bewohner zum Schutz vor der völlig verseuchten Umwelt unter einer Glasglocke leben. Welche Zukunft wahr werden könnte, bleibt offen.

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