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Feministische Zukünfte
Nur Utopien sind realistisch

Eine Gruppe von Demonstrierender auf einem Platz, auf dem das Wort „Juntrans“ mehrfach gemalt ist
Personen der Trans-Community und nicht-binäre Menschen sind am Monument der Revolution in Mexiko-Stadt versammelt. Mexikanische Gruppen von trans- und nicht-binären Menschen veranstalteten in der mexikanischen Hauptstadt das „Juntrans“-Festival (eine Mischung aus den Wörtern „zusammen“ und „trans“), um am Trans Visibility Day Sicherheit und Respekt zu fordern. | Foto (Detail): Isaac Esquivel © picture alliance / EPA

Warum geben wir der Frage nach dem Geschlecht so viel Bedeutung? Wie sähe unsere Gesellschaft gar ohne Geschlechter aus? Soziologin Alice Rombach träumt in einem persönlichen Kommentar von einer bunteren Welt. 

Von Alice Rombach

Das ist eine Einladung zum Denken. Groß zu denken, weit in die Zukunft zu blicken und vor allem auch ein bisschen mutig zu sein – und um uns in Bewegung zu setzen. Also, lasst uns träumen und eine kleine Utopie entwerfen, die zunächst radikal erscheinen mag, am Ende allerdings alles andere ist.  
 
Um neue Welten zu entwickeln, brauchen wir viele Varianten von ihnen. Denn wir wollen die Vielstimmigkeit der Bedürfnisse und Perspektiven miteinbeziehen. Und das ist vielleicht das Schwerste: Wir müssen bereit sein, unser Wissen darüber, wie die Welt funktioniert, zu verlernen. Dafür brauchen wir Vertrauen und Mut. 
 
Unser Denkfehler ist häufig der, dass am System lediglich eine Kleinigkeit geändert werden soll, jedoch nicht das große Ganze. Wir fordern beispielsweise 30 Prozent Frauen in Vorständen, wir wollen Mentorinnenprogramme, Gleichstellungsworkshops und einzelne Role-Model-Frauen, die hochgelobt werden. Versteht mich nicht falsch, all das ist aktuell absolut notwendig. Wir brauchen unbedingt mehr Frauen in der dünnen Luft jenseits der gläsernen Decke und selbstverständlich in Entscheidungs- und Gestaltungspositionen. Es gibt mehr Thomasse und Michaels in Vorstandspositionen als Frauen. Da sollten generell viel mehr Frauen, BIPoC, Trans* und so weiter sitzen. Also: verschiedenes Alter, mit Kindern, ohne et cetera Ihr versteht schon: alle Variationen überall. Viel essenzieller ist es jedoch, dass wir dort feministisch denkende und handelnde Menschen finden. Und das könnte dann auch der Thomas sein.  

Die „4-in-1-Perspektive“ 

Das führt mich noch stärker zur These: Lassen wir es doch gleich bleiben mit der umstrittenen Kategorie Geschlecht. Lasst uns lieber experimentieren, Zukunftsvisionen erträumen, um neue Möglichkeiten zu eröffnen: Wie würde denn die Welt ohne Geschlechter aussehen? Oder eine Welt, in der das Geschlecht ignoriert werden würde, also zwar existierte, aber völlig irrelevant wäre – wie etwa die Körpergröße.  
 
Was wäre gewesen, wenn Du Dich hättest frei entscheiden können? Oder noch immer entscheiden könntest? Oder die Entscheidung gar nicht mehr relevant wäre? Wer wäre ich, wenn ich die Wahl gehabt hätte? Ich glaube ja, dass die Außerirdischen, die uns beobachten, seit Jahrzehnten über einem Rätsel brüten: Warum diese kleine Menschengeister derart hartnäckig an dem System Mann und Frau und den gesellschaftlichen Erwartungen festhalten, obwohl ihr Weltbild meist spätestens nach dem Abendbrot ins Wanken gerät.  
 
Was für eine Beschränkung. Wie erleichternd wäre es dagegen, beispielsweise in der „4-in-1-Perspektive“ zu leben. 
 
Das ist ein Konzept der großartigen Soziologin Frigga Haug. Grundlegend ist ausreichend Schlaf für alle, die das wollen. Und die öde Langeweile des Alltags wird aufgesprengt durch 4 x 4: vier Stunden Erwerbsarbeit, das reicht für die Effizienz im Land, viel länger ist der Mensch ohnehin nicht produktiv; und vier Stunden Reproduktionsarbeit, also Kinder hüten, Ältere pflegen, Haushalt machen und hoffentlich auch ab und zu mit einem Eis im Sandkasten abhängen. Dann vier Stunden Zeit für die Selbstverwirklichung: Musik, Sport, andere Hobbys. Und vier Stunden für die Politik von unten: Ehrenamt, Dorf- oder Stadtteilengagement. Die, die dann noch reine Vollzeiternährer*in oder Dauerrotznasenmapa sein wollen, die können das machen. Aber sie haben es selbst gewählt.  

Eine nicht-binäre Gesellschaft 

Stellen wir uns einfach mal eine nicht-binäre Welt vor, das ist nämlich gar nicht so abwegig. Diese ganzen Kinder Sasha, Kim, Luca, die dann alle nicht-binär Namen tragen – keine Sorge, es gibt genügend Namen – springen zwischen Glitzerfeen, Fußball, Burgen, Nagellack und allen Farben hin und her. Je nach aktueller Entwicklung, Bedürfnissen, eigener Lust und Tagesform. Sie können mit allen über ihre Ängste, Risikobereitschaft, schöne oder zerrissene Kleider und kaputte Knie sprechen. Kinder akzeptieren den Rahmen, der ihre Wirklichkeit prägt, sie vertrauen und sind neugierig. Wenn diese geschlechtsspezifischen Ungleichheiten nicht mehr relevant sind, dann sind sie schlicht passé. Weil jedes Kind einzigartig ist, ein wunderbares Wesen und – geschlechterunspezifisch – manchmal ein Idiot, den gibt es auch in den Utopien noch.  
 
Von Schweden aus hatte sich das geschlechtsneutrale Personalpronomen „hen“ bei den Autor*innen von Kinderbüchern verbreitet, die möglichst vielen Kindern Identifikationspotenzial mit ihren Geschichten bieten wollen. Es ist Standard geworden. Mehr noch: Wo alte Worte mit geschlechterspezifischen Kategorien und Zuschreibungen verschwunden sind, entstand Platz für neue. Es sind verständliche und einfache Worte – sodass sie im Alltag klarer Konsens geworden sind. Sie sind nicht technokratisch, sondern machen die Welt farbig, sie sind genauer. Das ist ein bisschen wie vom Schwarz-Weiß-Fernsehen zum Farb-TV zu wechseln oder als wenn wir eine vierte Dimension spüren könnten. Es gibt viel Luft zum Atmen in der Sprache, aber jeden Tag kommen mehr und mehr Nuancen dazu. Zugegeben – es kann schwierig sein, dabei den Überblick zu behalten: wer in welcher Situation wie bezeichnet werden möchte.  

Für die beste aller Welten 

Aber warum ist das überhaupt wichtig und derart umkämpft? Warum sind die Fronten so verhärtet? Klar, es geht um Hierarchien der Geschlechter und der damit verbundenen Macht und den Privilegien von Geschlecht als sozialer Ordnungskategorie. Und der letzte Depp, geschlechterübergreifend versteht sich, hat es dann hoffentlich irgendwann kapiert, dass die Variationen innerhalb eines Geschlechtes größer sind als der Unterschied zwischen den Geschlechtern – egal wie lange noch versucht wird, verzweifelt gegenteilige Forschungsergebnisse zu finden. Ich für meinen Teil stelle es mir wirklich befreiend und schön vor, nicht mehr zu einem Lager zu gehören, das mit anderen verfeindet ist. Und verdammt, dann hätten wir immer noch wirklich genug zu tun.  
 
Feministische Utopien bedeuten auch, dass wir uns allen die gleiche Menschlichkeit zugestehen. Unsere gesellschaftlichen Strukturen sind stark darauf angelegt, utopisches Denken fast zu ersticken. Wir brauchen mehr utopische Elemente und Wagnisse im Alltag, um einer großen Utopie näherzukommen.  
 
(Feministische) Utopien sind Denkübungen – als Versionen für die beste aller Welten. Damit wir irgendwann diejenigen werden können, die wir wirklich sein wollen.  

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