Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Portugal

Ein Briefwechsel
„In Fordlândia bringen alle Bäume Vögel hervor“

Fordlândia Malaise
Bild (Ausschnitt): © Susana de Sousa Dias

Fordlândia Malaise reflektiert die Einschreibung kolonialer Ausbeutung in Landschaften und Bewohner des nach Henry Ford benannten Ortes im Amazonas. Welche Gewalt gegen ein Ökosystem aus menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen in diesem Versuch der Naturbeherrschung liegt und wie die Bewohner heute dennoch eine in die Zukunft gerichtete Kraft entwickeln, darüber tauschen sich Regisseurin Susana de Sousa Dias und die Philosophin Stefanie Baumann in Briefen aus.

Von Stefanie Baumann und Susana de Sousa Dias

Liebe Susana,

Diesen Brief schreibe ich aus Algerien, aus der Residenz mit Suspended Spaces, und Du bist natürlich auch ein bisschen hier. Wir reden hier viel über Dich, über Eure letzte Residenz in Fordlândia und Deinen wundervollen Film Fordlândia Malaise, der dort entstanden ist. Natürlich ist es hier ganz anders, vor allem die Landschaft hat wenig mit dem Brasilianischen Dschungel gemein. Besonders Camila Fialho, die aus dem Amazonas angereist ist, fühlt sich wie in einer völlig anderen Welt, die dennoch seltsam mit ihrem Heimatland verwoben ist, weil beide durch imperialistische Hegemonialansprüche der ehemaligen Kolonialmächte einst gewaltsam zurechtgestutzt wurden. Fordlândia ist ein besonderer Fall kolonialer Ausbeutung, vor allem, weil das kapitalistische Projekt, den effizienzbasierten, industriellen Fordismus in den Regenwald bringen, so schnell gescheitert ist. Dennoch ist der Name der Stadt untrennbar damit verbunden, wie ein stummer Zeuge, der sich warnend in die Landschaft und ihre Bewohner eingeschrieben hat.

Dass man heute von Fordlândia wie von einer Geisterstadt spricht, als wäre mit dem Scheitern Fords auch das Leben dort vorbei, ist eine weitere gewaltsame Zurichtung. Dein Film zeigt diese seltsame Dialektik: auf der einen Seite mutet er beinahe wehmütig an; die Menschen dort sind mit ihren Schwierigkeiten alleine gelassen worden, die aus dem Streben nach rationalisierter, schonungsloser Naturbeherrschung erst entstanden sind. Auf der anderen Seite aber gibt es dort Leben und eine Vergangenheit, die weit mehr ist als nur das, was Ford projiziert hatte - eine Fülle von Leben unterschiedlichster Art – menschliche und nicht-menschliche Bewohner, erzählte Geschichte(n), kulturelles Leben, eine besondere Infrastruktur und eine üppige Natur, die die stellenweise verfallenen Industriegebäude aus Fords Zeiten teilweise wieder vereinnahmt hat. Dein Film entfaltet die sich überlagernden Schichten historischen Gewordenseins, die mannigfaltigen Sinnzusammenhänge und Erfahrungen, die in dieser ehemaligen Industriestadt mitten im Amazonas koexistieren. Man könnte ihn als in besonderem Sinne ökologisch motiviert begreifen, wenn man Ökologie als Studium der mannigfaltigen Wechselwirkungen und -beziehungen zwischen Lebewesen – Menschen, Tieren und Pflanzen - und ihrer Umwelt versteht. Mich würde interessieren, ob und wenn ja, wie Du Deinen Film und Eure gemeinsame Reise im Sinne ökologischen Denkens verstehst?

Abraço grande,

Stefanie


Liebe Stefanie,

Es gibt ein Gedicht von Ruy Belo, das mit folgendem Vers beginnt: „Ich liebe die Bäume, vor allem jene, die Vögel hervorbringen.” In Fordlândia bringen alle Bäume Vögel hervor. Diese kraftvolle Wirkung des Lebens ist das markanteste, was ich dort vorgefunden habe. Wenn man versucht, mehr über Fordlândia herauszufinden, trifft man, wie Du erwähnst, unweigerlich auf den Begriff Geisterstadt. Aber man trifft auch auf einen anderen Begriff: die utopische Stadt Fords. Alles scheint nach diesen beiden Begriffen geordnet zu sein, als ob der Ort nie einer anderen Zeit als der Henry Fords angehört hätte, als ob all seine Geschichte in dem kurzen Zeitraum begänne und endete, in dem die Nordamerikaner dort waren, als ob der Ort nicht jenseits dieser Präsenz gedacht und vorgestellt werden könnte.

Als ich in Fordlândia ankam, wurde ich sofort von den Worten eingenommen, die ich zu hören bekam, aber auch von den Vögeln, Insekten und anderen Lebewesen, die den Raum mit vielfältigen Klängen füllen und die unterschiedlichen Momente im Verlauf von Tag und Nacht mit außergewöhnlicher Präzision kennzeichnen. Diese natürliche Zeit wurde, in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, durch die industrielle Zeit ersetzt, die sich auf absurde Weise völlig mit der von New York deckt. Hinter der Implementierung dieses Stadt-Unternehmens im Wald des Amazonas steht eine lange Geschichte der Gewalt. Sogar die Ernährung wurde aufgezwungen, vor allem Konservenkost aus den Vereinigten Staaten, aber auch andere Nahrungsmittel wie Soja, das die große Obsession Fords war. Darin liegt eine tiefe Ironie, wie Greg Grandin ihn seinem Buch Fordlandia. The Rise and Fall of Henry Ford's Forgotten Jungle City (2009) anmerkt: Soja ist heute eines der Produkte, das am meisten zur Abholzung des Amazonas beitragen. Die riesigen Flöße, die das Soja tonnenweise den Fluss hinab transportieren, sind bereits untrennbar mit der Landschaft von Fordlândia verwachsen. Mit der Abholzung verändern sich auch die Lebensräume: in den letzten Jahren begannen die Affen auf der Suche nach Nahrung in die Gärten und Höfe von Menschen einzudringen, neue Vogelarten, die man hier nie gesehen oder gehört hat, fliegen in der Luft und lassen sich in den Gärten nieder. Im Fluss, der einst kristallklar war, sind die Fische vor lauter Verschmutzung nicht mehr zu erkennen. Trotz alledem spürte ich in den Menschen, die ich traf, eine zukunftsweisende Kraft, einen Willen, eine bessere Zukunft zu schaffen als die, die sich aus der gegenwärtigen Situation ableiten lässt, eine Kraft also, die unterschiedliche Formen des Handelns hervorruft.

Eine von ihnen liegt darin, die eigene Geschichte zu schreiben, wie Professor Magno, der „in einem See geborene Amazonasbewohner”, der seit seinem 12. Lebensjahr Jahre alt die Geschichten der ältesten Personen anhörte. Eine „wandelnde Enzyklopädie”, wie er selbst sagt, die versucht, jene Geschichte zu verstehen, die nicht niedergeschrieben wurde. Die andere liegt darin, nach dem Moment des Ursprungs zu fragen, und damit eine existenzielle Leerstelle auszufüllen, indem man, in diesem Fall, eine eigene Mythologie schafft und sich die Mythen des Amazonas neu aneignet. „Das ist unsere Geschichte von innen“, wie mir Junior sagte. Eine Geschichte, in der menschliche Wesen sich in Schmetterlinge und Blumenknospen verwandeln und mit Hilfe von Vögeln in den Himmel aufsteigen. Als ich das zweite Mal dort war, sprach ich mit einem Goldschürfer, der mir sagte, dass das Gold nicht einfach nur ein Mineral sei, sondern vor allem ein verzaubertes Wesen. Vom höchsten Hügel Fordlândias sah er eines Tages zwei rotglühende Feuerbälle, die am Himmel tanzten - ein Zeichen dafür, dass das Gold die Erde verlassen wollte. Er beklagt die Zerstörung, die sein eigenes Handwerk an der Erde verursacht, und die Gewalt gegen die indigene Bevölkerung, die wahren und einzigen Brasilianer. Für ihn sind alle anderen, auch er selbst, nur Kinder Brasiliens. Wie Timothy Morton sagt, müssen wir, wenn wir wirklich von Ökologie sprechen wollen, paradoxerweise das Konzept der Natur aus der Gleichung entfernen. Ich erinnere mich an Ailton Krenak, wie er von den Kolonisatoren spricht, die sich von der Idee legitimiert sahen, dass es eine “aufgeklärte Menschheit” gäbe, die die „verdunkelte Menschheit“ aufklären sollte. Die Frage, die er aufwirft, lautet: „Sind wir alle eine Menschheit?“

Beijinhos,
Susana

Liebe Susana,

Interessant an dem, was du sagst, ist auch, dass Du, verwoben mit dem politischen Bewusstsein einer bedrückenden Vergangenheit und einer komplizierten Gegenwart, auf etwas gestoßen bist, das sich dem multinaturalistischen Perspektivismus nähert, wie er von Viveiros de Castro beschrieben wird. Die Unterteilungen, nach denen wir gewöhnlich denken - subjektiv - objektiv, universell - partikular, Körper - Geist, Natur - Kultur, Vergangenheit - Gegenwart etc. - sind unfähig, diese Welt zu erfassen. Eine Welt wird immer auch von den Begriffen, die sie fasst, gestaltet. Bei Viveiros de Castro, der ja im Amazonas geforscht hat, handelt sich vielmehr um ein Denken der Wesen in Intensitäten, in Kräften. Anstatt den Begriff der Natur zu verwerfen, um über Ökologie nachzudenken, sollte man ihn anders überdenken: nicht als das Andere der Menschheit, sondern als Teil derselben belebten Welt, die von demselben Geist durchdrungen ist, der sich sowohl in menschlichen als auch in tierischen Körpern verwirklicht. Gleichzeitig ist diese Welt ebenso geprägt von ihrer gewalttätigen Geschichte, die in anderen Formen weitergeht: der Unterdrückung und Ausbeutung aller Lebewesen durch den Kapitalismus, die industriellen Zwänge, den (Neo-)Kolonialismus, von dem du sprichst. Deine eigene Position spielt dabei auch eine Rolle: Du bist eine Filmemacherin, die aus dem Land kommt, das Brasilien einst kolonialisiert hat, das aber mittlerweile zumindest ökonomisch und politisch weltweit viel weniger Macht hat als seine ehemalige Kolonie und selbst durch Europas längste Diktatur geprägt wurde. Zugleich aber zeigt Dein Film (wie das Projekt Suspended Spaces als Ganzes), dass man die gegenwärtige komplex vernetzte, verflochtene, globale Welt ohne die vielschichtigen Zusammenhänge nicht mehr verstehen kann. Dass vielleicht die strikte Trennung gemäß diverser Identitätspolitiker, obwohl wichtig, um einst unhörbarer Stimmen Raum zu geben, doch auch seine Kehrseite hat, weil es die Menschen und Dinge trennt, statt sie zusammen zu bringen.

In Deinem Film gibt verschiedene Schichten von Geschichtlichkeit - die Archivaufnahmen aus Fords Zeit zeugen davon, aber auch die akribisch geplante Struktur des Ortes im Hinblick auf seine Funktionalität, die in den schwarz-weißen Drohnenaufnahmen, die du dort gemacht hast, deutlich zu erkennen ist (was sie wie Bilder aus der Vergangenheit erscheinen lässt). Gleichzeitig gibt es eine seltsame Melancholie, die durch die Geschichte, wie sie von den Menschen erzählt wird, durchscheint. Gleichzeitig zeugen die Erzählungen aber auch vom gegenwärtigen Leben, von den Dingen, die dort geschehen, vom Zusammenleben. Ich hatte den Eindruck, dass der Ton in Fordlândia Malaise eine besondere Sinnlichkeit mit den Stimmen, dem Lokalradio, den verschiedenen Dschungelgeräuschen, den Tierlauten usw. hervorruft, die eine Art stets präsenten Hintergrundklangteppich weben. So verschränkt dein Film gerade die Schichten der Bedeutungen, der Zeit und der Erfahrung miteinander und beschwört spürbar herauf, wie all diese Momente nebeneinander existieren.
Abraço,

Stefanie



Liebe Stefanie,

westliche Kategorien sind, genau wie du sagst, offensichtlich unzureichend, um diese Welt zu erfassen. Die Natur muss anders gedacht und aus ihrer westlichen Bedeutung als Anderes der Menschheit herausgelöst werden. Das ist die Idee hinter der Referenz, die ich erwähnt habe. Wir müssen die abgrundtiefe Trennlinie, von der Boaventura Sousa Santos spricht, überwinden - eine Linie, die geopolitisch Norden und Süden voneinander abgrenzt und trennt, was als Wissen angesehen wird und was nicht. In einem Kolloquium, bei dem ich kürzlich war, wurde gesagt, dass David Kopenawa als Philosoph von gleichem Rang wie Gilles Deleuze anerkannt werden sollte. Die Documenta 15 ist übrigens ein paradigmatischer Fall, nicht nur weil sie künstlerische Praktiken, Erfahrungen und Konzepte aus dem globalen Süden in den Vordergrund rückte, sondern auch wegen der heftigen Reaktionen, die sie hervorrief.

Um auf die Dualismen zurückzukommen, die Du erwähnt hast: auch im Kino wird alles immer noch in einem engen Korsett gedacht. Ton und Bild sind zwei Elemente, die getrennt voneinander bearbeitet werden, und der Ton wird in der Regel in die zweite Reihe gedrängt. Das liegt natürlich auch daran, dass es erst seit Ende des 19. Jahrhunderts möglich ist, ihn aufzuzeichnen und festzuhalten, im Gegensatz zum Bild, das uns schon seit Urzeiten begleitet. Ich habe viel über Klang nachgedacht. Deshalb halte ich die Dimension des Klangs für extrem wichtig, und bei Fordlândia Malaise war sie absolut grundlegend. In meinen Filmen ist nicht nur das Bild, wenn es erscheint, von Ton durchdrungen, so reduziert er auch sein mag, sondern der Ton braucht vielleicht nicht einmal ein Bild. Tatsächlich ist für mich auch eine schwarze Fläche ein Bild. Ich bearbeite immer beide gemeinsam, als ob sie eine Einheit bildeten, eine kleine Welt mit einer eigenen Zeitlichkeit. Und, wie du sagst, gibt es in Fordlandia Malaise verschiedene Schichten, die sich überlagern und die nebeneinander bestehen. Wie in Ursula le Guins Tragetasche, dem Behältnis, das sich dem Zeitstrahl, der die traditionellen Erzählformen beherrscht, der Idee des Fortschritts, der kapitalistischen Zeit entgegenstellt. Und einer männlichen, patriarchalen Welt, wie sie auch das Stadt-Unternehmen war, aber die heute schon ganz anders ist. Es ist kein Zufall, dass Junior bei meinem letzten Besuch - nach Abschluss des Films war ich noch zweimal dort - feststellte, dass Fordlândia ein weiblicher Name ist. Fordlândia, „Sammelbecken der mystischen Seite“, ist Mutter der Vorfahren, Mutter-Erde, Mutter-Leben, die Mutter, „die dich aufnimmt, ohne zu wissen, wer du bist“. Deshalb hat jeder, der eines Tages dort war, „es nie vergessen“.

Beijinhos,
Susana

Top