Der Star aus „Berlin Alexanderplatz“
Welket Bungué wird im deutschen Film bald ein alltäglicher Name sein

Welket Bungué am Flughafen Tegel
Als Bungué im November 2019 am Flughafen Tegel ankommt, weiß er: Ich werde jetzt hier leben. | Foto: © Kristin Bethge

Welket Bungué spielt die Hauptrolle im Berlinale-Wettbewerbsfilm „Berlin Alexanderplatz“. Es geht um Fremdheit, ums Ankommen – irgendwie auch seine Geschichte.

Von Fabian Federl

24. November 2019, Berlin – Flughafen Tegel: Ein Sonntagmorgen im Spätherbst 2019, über dem Flughafen Tegel liegt Nebel, TP 536 aus Lissabon ist gelandet. Welket Bungué steht an der Kofferausgabe, klopft gegen die Glastrennwand. Gepäck verloren.

Eine halbe Stunde später läuft er durch die Sicherheitsschleuse, auf dem Kopf eine Strickmütze, wie sie der westafrikanische Unabhängigkeitskämpfer Amílcar Cabral trug, auf der Jeansjacke Aufnäher: „Dr. King“, „Vote PAIGC“, die Kommunisten von Guinea-Bissau. Er lächelt breit und einnehmend, er ist angekommen, zu Hause. Ein etwas großes Wort vielleicht. Besser: im Basislager.

Welket Bungué wird im deutschen Film bald ein alltäglicher Name sein. Er spielt Franz Biberkopf in der Neuverfilmung von „Berlin Alexanderplatz“. Burhan Qurbani, einer der interessantesten neuen deutschen Regisseure, hat den Plot nach 2020 transponiert, statt in Mitte spielt er in der Hasenheide, statt unter Zuhältern und Tagedieben bei Drogenverkäufern in Park. Der Film läuft im Wettbewerb der Berlinale, ist in der Vorauswahl für den Deutschen Filmpreis, Welket Bungué ist der prominenteste schwarze Schauspieler in diesem deutschen Filmjahr.

Es wirkt, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht.


Er spricht kaum Deutsch, hat nie zuvor in einem deutschen Film mitgespielt. Es wirkt, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. Lange war seine Arbeit unsichtbar, „peripher“, wie er sagt. Dass ein schwarzer Schauspieler eine Hauptrolle spielt, ist selten, nicht nur in Deutschland. Dass er die Rolle einer weißen Figur übernimmt, ist noch seltener. Und die Hauptrolle in der Verfilmung eines der wichtigsten Romane der deutschen Moderne, an den sich zuvor nur Rainer Werner Fassbinder wagte, einer der wichtigsten deutschen Regisseure der Nachkriegszeit: eben.

An diesem Vormittag landet Bungué zum zehnten Mal am Flughafen Tegel. Aber zum ersten Mal als jemand, der bleibt. Am Schalter der Gepäckfindung lehnt er sich durch das kleine Fenster. Der Flughafenangestellte ordnet Dokumente, stempelt, alles analog und unendlich kompliziert, es wirkt wie eine Parodie, Kohl-Ära oder DDR. Altes Berlin stempelt die Verlustanzeige von Neues Berlin. Dann schiebt der Mann eine kleine Plastiktüte über den Tresen, darin Handtuch, Zahnbürste, Zahnpasta. „Für die erste Nacht“, sagt er, lächelt und ruft: „Nächster!“
Recherche in der Hasenheide
Für die Vorbereitung auf seine Rolle recherchierte Bungué in der Hasenheide. | Foto (Ausschnitt): © Kristin Bethge
3. Dezember 2019, Berlin – Hasenheide: Eine Woche später steht Bungué in der Hasenheide in Kreuzberg, auf dem Halbrund vor der Hasenschänke. Im Sommer riecht es hier nach Bienenstich und Limo, heute, fünf Grad, nass, schlimm, liegen hier Obdachlose. Einkaufswagen, Leergut. Es beginnt zu regnen.

Bungué zieht sich den Mantelkragen in den Nacken, aus dem Busch tritt ein junger Mann hervor, der Handel kennt kein Schlechtwetter. „Burhan hat mich zur Recherche hierhergeschickt“, sagt Bungué, zur Vorbereitung auf seine Rolle.


Ein Ort der schwarzen Diaspora in Berlin


Im Sommer 2018 betrat Bungué zum ersten Mal die Hasenheide. Er setzte sich an einen der Plastiktische, umgeben von Neuköllner Familien, der einzige Schwarze. Dann tauchte ein Mann mit Rastas auf. Der andere war aus Gambia, ein Nachbarland von Bungués Geburtsland Guinea-Bissau. Der Mann erzählte, wie er erst Lkw-Fahrer war, dann Koch, dann schlugen die Realität, die Bürokratie und der Alltag zu – drei Mal Schicksal, wie bei Franz Biberkopf – und heute ist er Drogenhändler im Park.

Die Hasenheide ist ein Ort der afrikanischen Diaspora in Berlin. Immer wieder landen Angekommene hier. Hier tritt auch der Franz der Neuverfilmung in Beziehung mit der Stadt. Er, New Arrival aus Afrika, sieht, wie seine Lands- und Nachbarlandsleute Drogen verkaufen – aber Franz will gut sein, kämpft gegen die Seelenfänger, die ihn anwerben wollen. Und gibt schließlich doch nach. Er wird schwach, damit er sich stark fühlen kann.

Er hat gelernt, Deutschland besser zu verstehen


Einzelne Plastikstühle stehen auf der kargen Fläche der Hasenheide. „Jeder hat seinen Platz“, sagt Bungué. Der Gambianer hatte ihm die Regeln erklärt: Ein Radfahrer fährt Runden, zur Informationsverteilung. Eine alte Frau verteilt Essen in Styroporbehältern an die Männer. „Als Verkäufer muss man immer etwas im Rücken haben“, sagt Bungué, „um nicht überrascht zu werden.“ Bei seiner Recherche habe er auch Deutschland besser verstanden, sagt er. Wie der schwarze Körper wahrgenommen wird, was man von ihm erwartet. „Wie handelt der schwarze Körper vor der Polizei, vor dem Chef, wie vor anderen Immigranten, anderen Schwarzen?“ In Brasilien musst du lächeln. In Guinea darfst du. In Deutschland musst du die Schwere, den Ernst vor dir hertragen.

Franz scheitert, weil er Deutschland nicht versteht. Sein Glück wendet sich, als er die Regeln begreift und sie zu seinen Gunsten dreht. Eine Geschichte des Ankommens. „Der Film war kein Schock für mich“, sagt Bungué, „ich kenne die Geschichte. Es ist ja auch meine.“
Welket Bungué: Selbstbezeichnung im Dreiklang
Bungués Selbstbezeichnung, im Dreiklang: Afrikaner, Schwarzer, Balanta. | Foto: © Kristin Bethge
7. Februar 1988, Guinea-Bissau: Welket Bungué wird in Xitole geboren, einem winzigen Dorf im Süden von Guinea-Bissau, Westafrika. Kind der Mittelschicht, Sohn von Paulo Tambá Bungué, Forstingenieur und Poet, und Segunda N’cabna, Nationalgardistin. Selbstbezeichnung, im Dreiklang: Afrikaner, Schwarzer, Balanta.

„Der Stamm ist, was ich bin,“ sagt Bungué, „nicht die Nation.“ In seiner Heimat lebten rund 35 Ethnien, unsichtbar gemacht, vermischt und ausgelöscht, in Hirn und Herz hinein kolonialisiert. Der Boden Guinea-Bissaus hieß einst Gabu, zugehörig zum Königreich Mali. Die Nation Guinea-Bissau aber, das Land, in dem Bungué geboren ist, haben die Portugiesen erfunden. Bungués Vater kämpfte im Unabhängigkeitskrieg. Auf der Seite der Portugiesen. Im Wissen, die portugiesische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Sein innerer Konflikt brachte ihn dazu, sich aus den Gefechten herauszuhalten, er wurde Fahrer, das Schlimmste, was der Krieg ihm hinterließ, war ein gebrochener Finger.

„Dein Werk ist unsterblich“


Als Bungué drei Jahre alt ist, zieht die Familie – Welket, sein Bruder, der Vater und die neue Ehefrau – nach Portugal. 2002 stirbt der Vater, er hinterlässt einen Gedichtband, Poesie zwischen Autobiografie und guineischer Geschichte, eine Ode an das Land: „Cabaró Djitu tem!“, guineisch Kreol für „Guineer finden immer einen Weg“. Er benannte seinen Sohn nach dieser Idee, „welget“ heißt: einen Weg durch eine schwierige Situation finden. Seine Rolle im Krieg scheint dem Vater gefolgt zu sein. Über Amílcar Cabral, den Revolutionsführer, den Befreier Guinea-Bissaus, dessen Mütze Bungué heute mit Stolz trägt und gegen den der Vater im Krieg kämpfte, schreibt er: „Dein Werk ist unsterblich. / Es übersteht Jahrhunderte. / Es wurde verzerrt, doch lebt in uns,/ umkreist uns; wir leben in ihm.“
 
Als der Vater stirbt, ist Welket 14 Jahre alt. Er liest das Buch, immer wieder. Mit 15 spielt Bungué sein erstes Stück, in Beja, portugiesisches Hinterland, wo er im Internat lebt. „Hamlet“, das europäischste aller Stücke, Prinzen und Duelle, Dänen und Engländer. Bungué spielt Königin Gertrude. Später besucht er die Theaterschule in Lissabon, dann in Rio.

Stammeszugehörigkeit, Afrikanischsein, Schwarzsein


Sein erster Film „Buôn“, 2015, endet mit einem Gedicht seines Vaters. Sein zweiter Film „Mensagem“ trägt den Titel eines Gedichtes seines Vaters. Bungué spielt Sklaven, Banditen, Halbseidene, „schwarze Rollen“, wie er sagt. 2016 der erste Durchbruch mit „Bastien“, große Festivaltour von Rio über Toulouse, Belgien, São Tomé. Das Kolonialdrama „Joaquim“ war 2017 in der internationalen Auswahl der Berlinale. „N’sumande Tchalih Hudi“, 2019, beginnt Bungué wieder mit einem Gedicht seines Vaters. Sein Selbstverständnis, was Stammeszugehörigkeit, Afrikanischsein, Schwarzsein für ihn bedeutet, zieht sich durch alle seine Rollen, seine Kunst, seine Performances. In „Jah Intervention“ spürt er dem Verhältnis zwischen dem schwarzen Körper und militarisierter Polizei nach, in „Lisboa, Pódio de Quimeras“ Schwarzsein und Vertreibung. Für seine Figur Arriaga kämpfte er lange mit sich, weil er eigentlich keine schwarzen Delinquenten mehr spielen wollte.

Einen Zugang zu diesem seinem künstlerischen Hauptthema bekam er erst spät. „Mein Vater starb zu früh, um mir beibringen zu können, was es heißt, ein schwarzer Mann in Europa zu sein“, sagt er. „Meine Erweckung als Schwarzer hatte ich 2008. In Brasilien. Erst dort habe ich mein Erbe begriffen.“
Welket Bungué: Ankommen
„Ich komme überall gerade an“, sagt Welket Bungué. „Jeder Ort sieht mich anders als fremd.“ | Foto (Ausschnitt): © Kristin Bethge
23. Februar 2019, Rio de Janeiro – Bar Simplesmente: Vor rund einem Jahr, auf dem Kopfsteinpflaster vor einem Samba-Schuppen am Hang von Santa Teresa, einem Kolonialviertel von Rio, heute Bohème. Ein junger Brasilianer mit dunkler Hautfarbe, Shorts, T-Shirt, Flip-Flops, ein Cacildis-Bier in der Hand, prostet Bungué zu: „Bruder, du bist Afrikaner, oder?“ Bungué lächelt breit, prostet zurück. „Guiné-Bissau“, sagt er. Der Mann, Ehrfurcht im Gesicht, sagt, wie einen Trinkspruch rezitierend: „Bruderschaft unter Kolonisierten“, lacht und zieht weiter durch die tanzende Menge. Bungué zuckt mit den Schultern: „Ich bin nicht schwarz hier. Sondern Afrikaner.“

„Schwarzsein ist keine Frage der Farbe“, sagt er. „Es ist eine Eigen- und Fremdzuschreibung. Ein Erbe.“ In jedem Land spüre man es anders. In Brasilien sei dieses Erbe die Sklavokratie. Sie erziehe ihre Untertanen zu Tätern. Sklaven, die andere Sklaven auf den Menschenmärkten auspeitschten, sie zurechtwiesen, die Capos, Verräter, aber auch die Opportunisten, die am rationalsten Handelnden. Die Struktur erdrücke, nicht der Einzelne. „Der Rassismus in Brasilien ist ein offener, ein hässlicher, ein mordender“, sagt Bungué. Nirgendwo außerhalb von Kriegsgebieten werden so viele junge Männer, nahezu alle davon schwarz, von der Polizei niedergeschossen.

Bungué wechselt zwischen Akzenten


Bungué habe in Brasilien erstmals sein Schwarzsein gespiegelt bekommen. Er erkannte: Er war nicht Teil jener schwarzen Bevölkerung dort. „Ich wurde nie von der Polizei angehalten“, sagt er. „Brasilianische Polizisten sehen meine Art, zu gehen, zu sprechen, mich zu kleiden, und registrieren: Afrikaner.Die Leute dort sehen in Afrikanern Résistance, Anzestralität, Würde und Stolz“, sagt Bungué. „Afrobrasilianer dagegen sind Exterritorialisierte, sie werden mit Sex, Karneval und Banditentum in Verbindung gebracht.“ Viele schwarze Brasilianer fühlten sich überspielt, erniedrigt und ausgelöscht.

Wenn Bungué über die Zeit in Brasilien spricht, wechselt er zwischen den Akzenten aus Brasilien und Portugal. Er ging als Portugiese mit schwarzen Wurzeln nach Brasilien. Und kehrte zurück als europäischer, schwarzer Afrikaner, mit brasilianischen Einflüssen. Nach den drei Monaten 2008 flog er wieder über den Atlantik, 2012, 2014, seither jedes Jahr, mindestens drei Monate, meist mehr. Als Schauspieler, Regisseur, Model. Und immer auch: als Fremder.

„Ich komme überall gerade an“, sagt er. „Jeder Ort sieht mich anders als fremd.“ In Guinea-Bissau ist er zu europäisch, in Europa zu schwarz, in Brasilien nicht das richtige Schwarz. „Ich bin Negro do Mundo“, sagt Bungué, „Schwarzer der Welt. Wo ich hingehe, sauge ich etwas auf und gebe etwas zurück, verflüssigt und verteilt. Ich assimiliere mich nicht, werde aber verändert. Am häufigsten“, sagt er, „ passiert der Kulturschock in einem selbst.“
Welket Bungué: Berlin
Bungué ist, bei all seiner Nachdenklichkeit, ein positiver Typ, Franz ist einer, den die Vergangenheit würgt. | Foto: © Kristin Bethge
23. Januar 2020, Berlin – Kottbusser Damm: Bungué und seine Partnerin, die Fotografin Kristin Bethge, sitzen vor Keksen und Tee in einer WG-Küche in Kreuzberg, unter Rauchschwaden und Gesprächen, an einem Januarsonntag. Burhan Qurbani, der Regisseur von „Berlin Alexanderplatz“, klappt seinen Laptop auf, darauf ein „Good Night White Pride“-Aufkleber, und ruft den Trailer seines Films auf.

Eine Frauenstimme erzählt: Francis, ein Kleinkrimineller aus Westafrika, ständig auf der Flucht, macht über das Mittelmeer, findet nach Berlin. „Vater, allmächtiger Gott, ich schwöre dir, von nun an will ich gut sein“, sagt er. Francis, bald schon Franz, will einen Neubeginn. In Döblins Worten: mehr als nur das Butterbrot. Doch, noch mal Döblin: Es geht nicht. Es geht nicht. Luftaufnahmen über der Hasenheide, Polizeirazzien, Franz prügelt, leidet, raucht, blutet, trinkt. „Das ist die Hybris: gut sein zu wollen“, sagt Qurbani.

Zur Erinnerung: In Döblins Roman kommt Franz Biberkopf, Lumpenproletarier, Zuhälter, Dieb und zuletzt Totschläger, aus dem Gefängnis. Der halbseidene Reinhold verführt ihn zum Verbrechen. Mieze, seine Geliebte, versucht ihn ins Gute zu führen. Doch Franz wird schwach, schlägt und raubt, wird zum Krüppel. Am Ende aber gewinnt die Option auf das Gute, er steigt auf, wird Portier am Alexanderplatz, 20er-Jahre-Mittelschicht.

Burhan Qurbani und sein Co-Autor Martin Behnke haben das Buch auseinandergenommen, von Form und Stil befreit, alle Figuren bis auf drei gestrichen, bis nur Plot und Bogen blieben, und das Motiv: Franz will von nun an gut sein. Und muss sich entscheiden. Qurbani, brennende Zigarette in der Hand, fasst sich erst auf die linke, dann die rechte Schulter. „Eros und Thanatos“, sagt er. „Mieze die Liebe, Reinhold der Tod.“

Qurbanis Filme sind nicht einfach. „Wir sind jung, wir sind stark“ war ein Schwarz-Weiß-Film über die Neonazi-Gewalt in Rostock-Lichtenhagen. Rassismus, Nazis, Osten. Von Kritikern und Publikum gefeiert. Jetzt: Diaspora, Postkolonialität, Drogenhandel. Beides unhandliche Themen, es ist leicht, sich zu verheben. Und wenn man es tut, wird es peinlich. „Film muss gefährlich sein“, sagt Qurbani, „man muss schwierige Fragen stellen. Und auch mal keine Antwort haben.“

Sieben Punkte in der Abiturprüfung


Qurbani wählte Döblins „ Berlin Alexanderplatz“ schon für seine Abiturprüfung, schrieb sieben Punkte. In seinen 30ern hat er das Buch noch einmal gelesen. Wieder mit Mühe. „Ich habe mich gefragt“, sagt er, „wieso fällt mir der Roman so schwer? Und: Wie sähe die Geschichte heute aus?“

„Die etwas überhebliche Idee war: Wollen wir nicht einen der wichtigsten Romane der deutschen Moderne umschreiben?“ Die Rechte waren frei, ein Jahr lang mussten sie Döblins Erben überzeugen. Qurbani und Behnke schrieben zwei Jahre lang am Drehbuch. „Die Originalverfilmung, an der Döblin selbst mitschrieb, wurde verrissen. Und als 1980 Fassbinders Miniserie erschien, wurde sie ebenfalls verrissen.“ Ein Film kann dem Buch weder stilistisch noch formal gerecht werden. „Wir rechnen damit, ebenso verrissen zu werden“, sagt Qurbani. „Das zu wissen, hat uns frei gemacht.“

Aus den Zuhältern und Tagedieben wurden die Dealer im Park. Aus Franz Biberkopf wurde Francis B. Franz will von der Unterschicht in die Mittelschicht aufsteigen. Raus aus der Illegalität, Bürger werden. „Die globale Wanderung ist Aufgabe unserer Generation“, sagt Qurbani. Das mache den Film zu einem postkolonialen Projekt, selbst wenn er sich mehr um die Figuren als um die Politik dahinter drehe. „Menschen kommen, bringen ihre Geschichten und Kultur mit. Aber auch unsere Sünden zu uns zurück.“

Qurbani antwortet suchend, als würde er noch warten, bis sich alle Fragen setzen, die er selbst zu seinem Film hat. In der Küche wird eine Mischung aus Portugiesisch, Englisch und Deutsch gesprochen. Wenn der Regisseur von Franz spricht, mischt sich Bungué ein. Es ist seine Rolle, er hat sie entwickelt. Dabei hätte er sie fast nicht bekommen.

Qurbani wollte ursprünglich einen Amateur als Protagonisten. Einen der Jungs aus der Hasenheide. Doch das stellte sich als zu schwierig heraus. Die Produktionsfirma schrieb dann Schauspieler an, unter anderem Bungué, den Qurbani 2017 bei der Berlinale gesehen hatte. Bungué war gerade in Rio de Janeiro, für ein Theaterstück, er nahm ein Probevideo auf, mit dem iPad, sprach Text auf holprigem Deutsch, das ihm Kristin hinter der Kamera soufflierte. „Ich habe kein Wort verstanden“, sagt Bungué. „Und ich glaube, Burhan auch nicht.“
Welket Bungué, Kristin Bethge und Fabian Federl
Schauspieler Welket Bungué, Fotografin Kristin Bethge und Autor Fabian Federl sind Freunde. | Foto: © Burhan Qurbani
Qurbani war anfangs nicht überzeugt von Bungué. „Döblins Franz ist dick, hässlich, ein alter, heruntergekommener Barbar“, sagt der Regisseur. „Welket war einfach zu schön.“ Wäre er nicht zufällig in Berlin gewesen, sagt er, „ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal gesehen hätten“.

Bungué war über Weihnachten bei der Familie seiner Partnerin in Mitte, Qurbani lud ihn nach Pankow ein, vorsprechen mit den anderen Schauspielern, Jella Haase und Albrecht Schuch. Auch beim Casting war Qurbani noch nicht vollkommen überzeugt. „Man hat anfangs eine Vorstellung“, sagt er, „und es dauert, bis man sich von der lösen kann.“ Doch als Schuch aus dem Casting kam und Bungué in der Ecke sitzen sah, fragte er Qurbani: „Ist das er?“ Qurbani sagte: „Vielleicht.“ Schuch nickte und sagte: „Das ist er.“ Am selben Tag noch kam der Anruf: Du hast die Rolle.

Die Schauspieler schrieben ihre eigenen Backstorys


Qurbani und Bungué trafen sich in Cafés, sprachen über Schamanen, Talismane, über einen Verwandten Bungués, der vom Vater in ein Löwenfell gewickelt wurde, um ihn stark und gesund zu machen, doch es machte ihn auch aggressiv. Er musste danach ein Bad in Heilkräutern nehmen, um wieder umgänglich zu werden. Die Geschichten flossen langsam in die Rolle. Bungué bog den Franz aus dem Drehbuch zurecht. Francis aus Nigeria wurde Francis aus Guinea-Bissau.

„Welket will Antworten auf alles“, sagt der Regisseur. Die Schauspieler schrieben ihre eigenen Backstorys, Bungué bis zu den Großeltern zurück. Er höhle die Figur aus, durchdringe sie, um sie zu spielen. Qurbani sagt: „Er hat sich die Rolle selbst neu gebaut“ – als hätte er einen düsteren Zwilling erschaffen.

Bungué ist, bei all seiner Nachdenklichkeit, ein positiver Typ, Franz ist einer, den die Vergangenheit würgt. „Als Welket Wochen nach dem Dreh in der Nachvertonung ins Mikro sprach, hat plötzlich die Tonhöhe nicht mehr gepasst“, sagt Qurbani. „Franz spricht eine Terz tiefer als Welket. Als wäre seine Seele auch schon einen halben Meter abgesackt.“
Welket Bungué: Berlin öffnet
„Portugal bremst, macht unsichtbar. Portugal löscht aus. Berlin öffnet.“ | Foto: © Kristin Bethge
24. Januar 2020, Berlin – Mitte: In der Choriner Straße, nur ein paar Blocks vom Rosenthaler Platz entfernt, wo Franz Biberkopf dort säuft, wo heute das St. Oberholz steht, ist Bungué während der Dreharbeiten untergekommen. Ein instand gesetzter Altbau, Ecke Torstraße. Es ist das Berlin, das er zuerst kennenlernte, vor der Hasenheide, vor Franz. Prenzlauer Berg, die Tram, Cafés und Boutiquen. Weißes Berlin. „Als Kind, als Immigrant in Portugal, habe ich meinen Akzent gereinigt. Ich habe mich unsichtbar gemacht“, sagt er. „In Lissabon verschwende ich meine Zeit. Portugal bremst, macht unsichtbar. Portugal löscht aus. Berlin öffnet.“

[Hinter der Geschichte: Dieser Text über einen schwarzen Schauspieler wird von einem weißen Autor geschrieben. Die Fotos dazu wurden von einer weißen Fotografin gemacht, Kristin Bethge. Das ist, im Mindesten, nicht optimal. Der Grund für dieses Arrangement ist, hoffentlich, ein unschuldiger: Schauspieler Welket Bungué, Fotografin Kristin Bethge und Autor Fabian Federl sind Freunde. Seit mehr als einem Jahr sprechen sie regelmäßig miteinander über Identitäten, über Hautfarben und Heimaten.]

Wo ist deine Wut, Welket?


Bungués Filme sind oft wütend, nicht ohne Gewalt. Spricht er – selbst die härtesten Urteile –, wirkt er sanft, genügsam. Er erzählt von seiner Kindheit. Farbmalkästen mit „Hautfarbe“, Portugiesen, die sich weigern, ihn „schwarz“ zu nennen, stattdessen „Luso-Afrikaner“ sagen, sein Lissabonner Viertel Angola.

Die Frage drängt sich auf: Wo ist deine Wut, Welket? „Ich habe so viel Wut, ich weiß oft nicht, wo sie hinsoll“, wird es später aus ihm herausbrechen. „Gegen Portugal? Ich bin doch Portugiese! Gegen Europa? Ich bin doch Europäer!“ Er zuckt mit den Schultern, wechselt von Brasilianisch zu Portugiesisch zurück.

„Alles, was ich sage, ist in der Sprache der Besetzer. Jedes Wort in mir kolonialisiert. Die Wut ist richtungslos und wirkungslos“, sagt er. „Man wird sie nur los, indem man sie nimmt und verändert. Sie zu etwas Erbauendem macht.“ Zu Filmen zum Beispiel. Das Blau des U-Bahnhofs Weinmeisterstraße leuchtet hinter ihm. Welket Bungué verabschiedet sich mit einer festen Umarmung, dann, typisch brasilianisch, mit Thumbs-up. Einige Wochen später sendet er eine Nachricht. Kristin und er haben eine Wohnung gefunden. Friedrichshain. Bald verschicken sie die Einladungen zur Einweihungsfeier.

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