Europa
Thea Dorn über aufgeklärten Patriotismus

Thea Dorn
Foto: © Maria Sturm

Thea Dorn im Gespräch mit dem Journalisten César Avó über die Rolle der nationalen Identität im heutigen Europa, die Entwicklung des Deutschen und Europäischen Heimatgefühls und die Notwendigkeit des aufgeklärten Patriotismus.

Von César Avó

In Ihrem jüngsten Buch verteidigen sie das Konzept des aufgeklärten Patriotismus. Worum geht es hier genau?
 
Thea Dorn: Der unaufgeklärte Patriot folgt blind der Devise: „Right or wrong – my country!“ Der aufgeklärte Patriot hingegen hat ein deutlich differenzierteres Verhältnis zu seinem Land. Er kann unterscheiden, was an seinem Land liebens- und bewahrenswert und was problematisch oder gar zu verdammen ist. Diejenigen, die alles, was mit Deutschland zu tun hat, in Bausch und Bogen ablehnen – und das sind in Deutschland nicht wenige – verhalten sich aus meiner Sicht kaum weniger neurotisch als diejenigen, die sich neuerdings wieder auf Marktplätzen versammeln und versuchen, die alten nationalistischen Gefühle zu reaktivieren. Der Denkfehler der meisten Deutschlandverächter scheint mir zu sein, dass sie meinen, moralisch auf der sicheren Seite zu stehen, wenn sie sich nur laut genug von allem Deutschen distanzieren. Der Fehler der vermeintlichen Deutschlandfreunde liegt darin, dass sie vor allem sich selbst aufwerten wollen, indem sie „Deutschland“ brüllen oder die Fahne schwingen. Aufgeklärter Patriotismus ist aber kein Vehikel, um ein angeschlagenes, kränkelndes Ego aufzurichten. Aufgeklärter Patriotismus hat mit Verantwortungsgefühl und – das ist ganz wichtig – mit einem realistischen Blick auf die Wirklichkeit zu tun. Der aufgeklärte Patriot ist niemals ein Hysteriker.

In wie weit passt der aufgeklärte Patriotismus in die Europäische Union?
 
Jeder aufgeklärte europäische Patriot wird erkennen, dass sein Land keine einsame Insel ist – nicht einmal England ist eine solche –, sondern mit der gesamteuropäischen Geschichte und Kultur verwoben. Außerdem wird er erkennen, dass Europa in der gegenwärtigen Weltlage, zwischen einer unberechenbaren US-Administration, einem reizbaren Russland und einem neokolonialistisch auftretenden China, nur dann eine Chance hat, eine relevante Größe zu bleiben, wenn es sich tatsächlich als Europa begreift. Ich halte es jedoch für völlig kontraproduktiv, wenn prominente Europabefürworter die Vorstellung propagieren, Europa sei in erster Linie ein Projekt, dass dazu dient, uns von den „bösen“ Nationalstaaten zu befreien. Dies schürt lediglich antieuropäische Ressentiments bei denjenigen, die an ihren jeweiligen Ländern hängen – und das ist die Mehrheit der Europäer. Klüger wäre es darüber zu reden, wie die einzelnen europäischen Nationalstaaten und Europa heute zusammenhängen, auf welchen Politikfeldern wir sinnvollerweise gesamteuropäisch entscheiden und handeln müssten, beim Umweltschutz etwa, bei der Verteidigung oder beim Versuch, die Digitalisierung einzuhegen, und wo wir jedem Land seine Entscheidungs- und individuelle Gestaltungssouveränität getrost lassen können.

Wo hört der Patriotismus auf und fängt die Xenophobie an?
 
Diese Grenze ist heute relativ leicht zu ziehen. Fragen Sie einen Menschen, ob er sein Land liebt. Wenn er Ihnen als erstes zu erzählen beginnt, wie schlimm alles geworden ist, seit dort so viele Einwanderer und/oder Flüchtlinge leben, ist er vermutlich ein Rassist. Wenn er Ihnen erzählen kann, was er an seinem Land liebt, ohne auf das Thema „Migration“ zu kommen, ist er ein Patriot. Wer sich und sein Land in ruhigem, solidem Selbstbewusstsein liebt, hat es nicht nötig, auf Fremdes allergisch bis feindselig zu reagieren. Das machen nur Leute und Länder, die sich ihrer selbst nicht gewiss sind.

Mit Berücksichtigung der Reaktionen der Pegida Bewegung und der AfD gegen den Islamismus, wie schätzen Sie die Entwicklung der Deutschen Gesellschaft angesichts der Flüchtlingskrise ein?
 
Die Stimmung im Land ist gereizter, aggressiver geworden. Gerade weil ich mich viel mit der deutschen Geschichte beschäftigt habe, wird mir mulmig, wenn ich erlebe, dass die Deutschen Vernunft und Augenmaß verlieren. Die Entscheidung von Angela Merkel, die Grenzen 2015 nicht zu schließen, als Viktor Orbán Tausende von Flüchtlingen aus Ungarn in Richtung Österreich und Deutschland schickte, halte ich nach wie vor für richtig. Als schwieriger habe ich den extremen moralischen Überschwang empfunden, der im Spätsommer 2015 in Teilen der deutschen Bevölkerung herrschte. Der damalige Außenminister Sigmar Gabriel hat unlängst darüber gesagt, auch in der Regierung sei man berauscht gewesen von dem Gefühl, der Welt endlich zeigen zu können, wie „gut“ wir Deutschen geworden sind. Ich bin sehr glücklich, dass sich in Deutschland immer noch zigtausende Bürger in der Flüchtlingshilfe engagieren: mit großer Empathie, aber auch ganz konkret und pragmatisch. Unwohl wird mir, wenn Flüchtlinge ideologisch vereinnahmt, als „Besserungsmittel“ für die Deutschen verklärt werden. Noch viel unwohler wird mir jedoch, wenn AfD und Co. heute wieder versuchen, Politik zu machen, indem sie Rassismus schüren. Rassistische Hetze ist in jedem Land abstoßend. Dennoch tragen wir Deutschen eine besondere Verantwortung, dieser mörderischen Idiotie nie wieder Raum zu geben. Diese Verantwortung ist für mich essentieller Bestandteil eines aufgeklärten deutschen Patriotismus.

Wie sollte eine Gesellschaft, die stolz auf ihr Heimatland, ihre Geschichte und ihre Kultur ist, die von den Migranten mitgebrachten Kulturen und Religionen integrieren – wenn sie denn sollte? Sind Sie mit Angela Merkel einverstanden darüber, dass der Multikulti-Ansatz gescheitert ist?
 
Migration führt zu einem gesellschaftlichen Paradox. Jeder Mensch hat einen Anspruch darauf, sich dem Ort, an dem er seine Kindheit und/oder Jugend verbracht hat, heimatlich verbunden zu fühlen. Deshalb ist es verständlich, dass er – sollte er seine Heimat verlassen oder schlimmer: aus seiner Heimat vertrieben werden – versuchen wird, sich so viel wie möglich von seiner alten Heimat zu bewahren. Schließlich ist es die Welt, die ihn geprägt hat, in der er sich auskennt, die ihm Sicherheit gibt. Dies verändert aber natürlich die Gesellschaften, in die er einwandert. Deren alteingesessene Bewohner bekommen deshalb ihrerseits das Gefühl, irgendwann „fremd im eigenen Land“ zu sein. In jedem Einwanderungsland braucht es deshalb viel politisches Fingerspitzengefühl, diese tendenziell widerstreitenden Heimatbedürfnisse auszubalancieren. Was die geltenden Rechtsnormen angeht, muss allerdings darauf bestanden werden, dass es keine kulturell oder religiös begründeten Ausnahmen gibt, sonst untergräbt sich der liberale Verfassungsstaat selbst. Und schließlich sollten diejenigen, die in einer Gesellschaft neu ankommen, bei allem Respekt vor ihren jeweiligen Herkünften dazu ermuntert werden, die neue Gesellschaft als Wahlheimat für sich anzunehmen. Dies erfordert allerdings Offenheit auf allen Seiten: Weder dürfen die Alteingesessenen die „Neuen“ ausgrenzen, noch dürfen die „Neuen“ sich in ihren jeweiligen Communities abschotten. Diese Offenheit wiederum setzt aber ein gewisses Maß an „Sich-Sicher-Fühlen“ voraus, welches jedoch gerade durch das Gefühl des Heimatverlusts bedroht ist. Ein komplizierter Teufelskreis, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt.

Sie haben über die Deutsche Seele geschrieben. Wie unterscheiden Sie die Deutschen von den Anderen, im Guten wie im Schlechten?
 
Mein Interesse an dem, was die Deutschen prägt, hat nichts mit nationalen Überlegenheits- oder Unterlegenheitsgefühlen zu tun. Es geht mir schlicht darum zu begreifen, was uns geprägt hat. Bis vor zehn Jahren gehörte ich zu denjenigen, die strikt leugnen, dass irgendetwas an ihnen „deutsch“ sei. Ich fühlte mich als vorbildliche Kosmopolitin, die – zumindest in der westlichen Welt – überall zu Hause sein könnte. Erst durch einen längeren Auslandsaufenthalt in den USA wurde mir klar, dass dieser vermeintliche Kosmopolitismus eine Selbsttäuschung war: Ich hänge an der deutschen Sprache, an der deutschen Musik von Johann Sebastian Bach über Richard Wagner bis Richard Strauss, ich teile die deutsche Liebe zum Wald und zum Wandern, neige zur sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit. Einer der berühmtesten Sätze der deutschen Literatur stammt von Johann Wolfgang von Goethe, er lässt seinen Faust seufzen: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.“ Vom Deutschen sollte nur reden, wer bereit ist zu erkennen, dass es sich dabei um etwas höchst Paradoxes handelt: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt; Vereinsmeierei und Eigenbrötlertum; romantische Naturverklärung und Technikgläubigkeit; protestantische Innerlichkeit und Sehnsucht nach einem strengen äußeren Regelwerk. Die Liste der deutschen Widersprüchlichkeiten ließe sich noch lange fortsetzen.
 
Können Sie ein oder zwei deutsche Persönlichkeiten nennen, die die verschiedenen Dimensionen dieser Seele repräsentieren und erklären warum?
 
Einer der größten Deutschen ist für mich Thomas Mann: Als Schriftsteller mit Hang zum Irrationalen, Abgründigen, zu Krankheit, Nacht und Tod stand er in der romantischen Tradition. Gleichzeitig stand er in der Tradition des aufgeklärten deutschen Bürgertums, bei dem Werte wie Ordnung, Leistung und Disziplin, aber auch Vernunft und das Vermeiden von rauschhaften Lebensextremen zählen. Nach dem Ersten Weltkrieg entdeckte Thomas Mann in sich als dritte Dimension den engagierten Bürger im Sinne des „Citoyen“. Er war einer der ganz wenigen deutschen Intellektuellen, die im Bewusstsein ihrer demokratischen Verantwortung für die Weimarer Republik gekämpft haben. Bewundernswert.
               
 

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