Interview mit Rui Neves
"Die Zukunft des Jazz liegt in der Konzeptualisierung"

Rui Neves im Garten des Goethe-Instituts
Foto: Teresa Althen © Goethe-Institut Portugal

Rui Neves ist seit der Gründung von Jazz im Goethe-Garten im Jahr 2005 dessen Kurator. Vor allem aber ist er ein unverzichtbarer Ansprechpartner, wenn wir über Jazz in Portugal sprechen wollen. Im Dossier „In Zukunft“ spricht er über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Jazz.

Von Carolina Franco

Als Lissabon 1994 zur Kulturhauptstadt Europas gewählt wurde, war der Jazz bereits die Musikrichtung, die Rui Neves am liebsten hörte, selbst spielte oder Freunden und Bekannten empfahl. Zehn Jahre später, anlässlich der Europameisterschaft 2004, organisierte er in Tomar ein Festival, das eine Hommage an den europäischen Jazz darstellte. Kurt Scharf, der damalige Leiter des Goethe-Instituts in Portugal, hielt es für sinnvoll, dieses Fest zu wiederholen. Und so wurde das Festival Jazz im Goethe-Garten (JiGG) ins Leben gerufen, mit Rui Neves als Kurator. 

Rui Neves ist seit fast 50 Jahren in der Musikbranche tätig und hat noch nie in einem anderen Bereich gearbeitet. Er hat für den Rundfunk gearbeitet, Rezensionen verfasst, Platten produziert, Konzerte und Festivals organisiert. Er ist Legenden dieses Musikgenres begegnet, bewahrt diese Begegnungen in seinem Gedächtnis und unterstreicht, wie wichtig es ist, diejenigen zu würdigen, die den Weg dorthin bereitet haben, wo wir heute stehen. Doch die spannendsten Dinge, die im Jazz passieren, findet er in der Gegenwart - schon mit Blick auf die Zukunft. Und es ist wahrscheinlich, dass viele dieser Entdeckungen bei JiGG zu hören sind.

In einem Gespräch in jenem Garten, in dem das Festival stattfindet, sprach er über den Platz, den der europäische Jazz heute einnimmt, und über die Vorzüge einer Zukunft, die sich bereits abzuzeichnen beginnt.

Carolina Franco: Der Jazz ist ein Genre, das mit den Regeln bricht, das schon immer mit einer Gegenströmung verbunden war. Kann man sagen, dass der Jazz schon immer in der Zukunft gelebt hat und weiterhin lebt?

Rui Neves: Der Jazz ist in der Tat ein Genre, das mit den Afroamerikanern in einem westlichen Kontext aufkommt, doch selbst den Regeln der westlichen Musik folgt. In der Harmonielehre sind natürlich neue Phrasen erfunden worden, aber das Interessante daran ist, dass diese Musik zu einer universellen Sprache geworden ist. Wie der Rock, in gewisser Weise. Musik ist im Allgemeinen Geist; jeder entschlüsselt sie für sich selbst. Diese Fähigkeit ist phantastisch, weil sie Horizonte eröffnet und es uns ermöglicht, verschiedene Genres zu verbinden. Und auch die Musiker haben bemerkenswerte Eigenschaften, sie sind in der Regel Menschen mit sehr ausgeprägten humanistischen Zügen - und das ist es, was den Jazz so besonders macht. In diesem Moment gibt es Menschen, die Jazz aus der Vergangenheit machen, die Jazz aus der Gegenwart machen, und die Jazz machen, der vielleicht aus der Zukunft kommt. Diese Arten von Ausdrücken existieren alle parallel.

Was hat Sie von Anfang an am meisten am Jazz begeistert?

Eben genau diese Freiheit. Im Rock wissen wir, dass er aus dem Blues kommt und im Songformat lebt. Das Lied ist heute gewissermaßen überall zu hören. Wir schalten das Radio ein und es läuft immer ein Lied. Was den Jazz ausmacht, ist die Freiheit des Ausdrucks und ein weiterer sehr wichtiger Punkt: die technischen Fähigkeiten der Musiker. Als ich zu der Zeit, als die Beatles und die Rolling Stones auftauchten, Rockmusik hörte, fühlte ich mich völlig frei, aber als ich meinen Geschmack gefunden hatte, merkte ich, dass mich vor allem die technischen Fähigkeiten der Musiker faszinierten und was diese ihnen an Ausdruck verliehen. Die Gruppen, die ich mochte, waren Pink Floyd, Led Zeppelin, Rolling Stones... und dann kam etwas Fantastisches daher und schloss die Lücke: der elektrische Miles Davis. Von diesem Moment an entschied ich mich für eine ästhetische Richtung und begann, diese Art von Musik zu studieren. Und natürlich gibt es noch einen weiteren sehr wichtigen Punkt: die politische Seite des Ganzen. Damals, in den 60er und 70er Jahren, war die politische Komponente sehr wichtig. Zu dieser Zeit entstanden die afroamerikanischen Black-Power-Bewegungen, in Europa fand der Mai 68 statt, bei uns herrschte ein diktatorisches Regime, und die Musik war schließlich immer sehr stark mit diesen politischen Themen verbunden. All dies verleiht Stärke.
 
Heutzutage ist der Jazz eine sehr kreative Musik. Sie geht sehr autonome Wege, mit Musikern mit einer großen kreativen Kapazität, die sehr autonom sind und eine ausgeprägte musikalische Bildung haben. Aber der Jazz ist nach wie vor eine Musik für Minderheiten, so wie er es immer war.

Mit der Serie aTensãoJAZZ [Dokumentarserie über die Geschichte des Jazz in Portugal, geschrieben von Rui Neves, Anm. d. Übers.] wollte man das ausgleichen und den Jazz und sogar den Zugang zu seiner Geschichte demokratisieren?

Die Menschen, die Jazz mögen und ihn verbreiten, wollen so viele Menschen wie möglich erreichen. Aber wir sind nicht Teil der Politik des Landes, in dem Sinne, dass wir Geld geben, damit alle Menschen sehen und verstehen, ob es ihnen gefällt oder nicht. Es ist eine eher intellektuelle Musik, die mehr Kultur erfordert, um verstanden zu werden. Aber zum Beispiel in den Vereinigten Staaten funktionierte das nicht so, als Afroamerikaner anfingen, Jazz zu spielen - zur Zeit von Billie Holiday, in den 30er/40er Jahren. Sie eigneten sich die sogenannte weiße Kultur, die Broadway-Songs, für die Themen ihrer Kultur an, mit ihren Instrumenten, und das wurde zu den Jazzstandards. Das Saxophon kommt aus der klassischen Musik, ebenso wie der Kontrabass. Der Jazz hat eine Reihe von Instrumenten verselbständigt und das Schlagzeug erfunden.

Aber es gibt immer eine Idee der Subversion …

Subversion ist das, was wir in der kritischen Analyse sagen. Ich interessiere mich mehr für das, was die Musiker schaffen. Ich fühle mich in die Musiker hinein, denn ich habe auch in der Gruppe Plexus mit Carlos "Zíngaro" [Geiger] und Celso de Carvalho [Pianist] gespielt, und wir fühlten uns wie eine Art Filter der Vergangenheit. Wir haben uns viel Musik angehört, die uns beeinflusst hat, und oft entsteht durch Nachahmung etwas Neues. Als wir 1973 mit Plexus spielten, ein Jahr vor dem 25. April, war unsere Idee tatsächlich subversiv, aber das war auch dem politischen Szenario der Zeit geschuldet. So sehr, dass wir nach dem 25. April unsere Konzerte mit einer Freejazz-Version der Internationalen beendeten. Für uns war die Internationale eine Ausnahmeerscheinung der Arbeiterklasse, und als wir sie spielten, funktionierte sie sehr gut. Damals wollten wir schockieren, wir haben sogar fluxusartige Performances gemacht. Und es herrschte ein echter Geist der Subversion, den es ja auch im Jazz Mitte der 60er Jahre gab. Heutzutage sind die Dinge viel anspruchsvoller, der Jazz wurde auch von anderen Musikrichtungen wie der Klassik, der zeitgenössischen Musik, der westlichen Musik und dem Rock beeinflusst - und von Jazzmusikern wird verlangt, dass sie sich bewusst sind, was sie tun.

Die Zukunft des Jazz liegt in der Komposition, in der Konzeptualisierung. Darauf kommt es an, nicht darauf, der Vergangenheit nachzueifern und so zu spielen, wie die Musiker der Vergangenheit gespielt haben. Heutzutage gibt es mehr Jazzschulen und -kurse, es gibt mehr Wissen, das sich über all die Jahre angesammelt hat, und was passiert, ist genauso interessant wie zu der Zeit, als Coltrane auftrat und alle staunten. Aber eines der interessantesten Dinge in meinem Berufsleben war es, Musiker aus meinem Umfeld wie Miles Davis und Ornette Coleman kennenzulernen und mit ihnen zu arbeiten. Sie machen einem bewusst, was Jazz ist.

Befindet sich ein Musiker, der gleichzeitig Kurator ist, in einer Position des ständigen Lernens?

Ich habe das Gefühl, dass ich mich immer in die Lage eines Studenten versetze. Ich höre immer neue Musik und lerne ständig dazu, und ich werde nie aufhören, so zu sein, denn ich bleibe nicht stehen und mag nur das, was ich vorher mochte. Ich habe einen offenen Geist. Es ist wie im Leben: Wir sind so alt, wie wir sind, und wir müssen uns bewusst sein, wie alt wir sind. Ein Mensch wie ich, der schon viele Jahre alt ist, hat eine viel breitere historische Perspektive auf das Leben als ein Mensch in seinen 20ern. Sie gibt uns eine andere Art von Weisheit. Und ich kenne mich mit Jazzmusik bestens aus, weil ich die Entwicklung dieses Genres seit Ende der 1960er Jahre bis heute verfolgt habe.


Und Sie machen auch das Festival JiGG schon seit einigen Jahren. Wie entwickelt man diesen Blick eines Kurators und die zugehörige Sprache? 

Ein Kurator steht zwischen dem Musiker, der schafft, und dem Publikum, an das er sich wendet. Der Kurator weiß, dass ein Musiker ein Publikum braucht, und er weiß, was das Publikum zu entschlüsseln vermag. In der Vergangenheit gab es Leute, die den Jazz als „Klang der Überraschung“ definierten, und die Wahrheit ist, dass die Menschen überrascht sein müssen, wenn sie Musik hören. Und wenn die Musik originell ist, sind die Leute dafür empfänglich. Natürlich hören die meisten Leute die Musik, die sie schon kennen, aber wer Jazz hört, dem macht es nichts aus, Gruppen zu hören, die er noch nie gehört hat.

Es ist eine sehr sinnliche Erfahrung.

Manchmal hören wir Musik, die uns zum Weinen bringt, wie wenn wir ins Kino gehen und eine bestimmte Geschichte sehen, die uns bewegt. Hier zählt alles, aber das Wichtigste ist Aufgeschlossenheit.

Und was zählt bei JiGG?

Die Programmlinie von JiGG war schon immer der Jazz Europas. Im Rahmen dieses Konzepts suchen wir nach Menschen, die ihre eigene Sprache haben wollen. Alle Musiker, die dieses Jahr hierher kommen, sind Musiker, die ihre eigene Identität haben. Beim Jazz geht es sehr stark um Individualität, die nur in der Gruppe funktioniert. Es ist wie in der Gesellschaft: Wir sind individuelle Wesen, aber wir müssen miteinander verbunden sein, um eine gemeinsame Sprache für alle zu finden.

Man sagt gemeinhin, dass wir mehr und mehr in einer Gesellschaft leben, die der Individualität großen Wert zuschreibt - auf Kosten des Gemeinschaftssinns. Was können wir aus dem Jazz für den Alltag mitnehmen?

Was ein Jazzmusiker letztendlich will, ist, dass er - ob in einer kleinen Gruppe oder in einem Orchester - in einem harmonischen Gleichgewicht zwischen all diesen Wünschen spielt. Das ist am Ende alles. Das spiegelt sich auch in einem klassischen Orchester wider: Jeder der Musiker ist mit dem Kollektiv beschäftigt. Musik kann diese Idee in die Gesellschaft tragen. Teilen. Mit der Gruppe, die mit einem Musiker spielt, und mit den Menschen, die ihm zuhören.

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