Zukunftsvisionen
In der Matrix

Was ist real, was die Matrix? Auch über 20 Jahre nach dem ersten Teil der Spielfilm-Reihe zieht das Spiel mit der Wirklichkeit mit dem vierten Teil wieder Millionen Menschen in die Kinos und auf die Streamingplattformen.
Was ist real, was die Matrix? Auch über 20 Jahre nach dem ersten Teil der Spielfilm-Reihe zieht das Spiel mit der Wirklichkeit mit dem vierten Teil wieder Millionen Menschen in die Kinos und auf die Streamingplattformen. | Foto (Detail): © picture alliance/AP/Warner Bros.

Von Utopie bis Dystopie: Der Blick in die Zukunft und das Spiel mit der Frage „Was wäre, wenn…?“ ist und bleibt ein Dauerbrenner im Film – im Guten wie im Schlechten.
 

Von Georg Seeßlen

Wenn es in Film und Literatur um Zukunftsvisionen geht, befindet man sich meist im Genre der Science-Fiction. Das Genre skizziert Zukunftsprojektionen – mit mal mehr, mal weniger wissenschaftlich-technischer Ausrichtung  –, die einen klaren Realitätsbezug haben. Es sind in aller Regel sehr bildhafte Konstruktionen, die zugleich in die Gegenwart als auch in die Zukunft weisen.

Gegenwartskritik aus der Zukunft

Einerseits können Zukunftsvoraussagen natürlich als schlichte Hochrechnung angesehen werden. Das heißt: In der Zukunft würde es demnach die Technologie geben, über deren Möglichkeit heute nachgedacht wird, und zugleich würden sich daraus die sozialen Probleme ergeben, die wir heute erst erahnen können. Oder es verhält sich genau umgekehrt: Die sozialen und politischen Probleme werden sich in der Zukunft dermaßen zugespitzt haben, dass nur noch ein technologischer Entwicklungssprung hilft – die Raumfahrt gegen Überbevölkerung etwa oder der Robo Cop gegen die unerträgliche Zunahme der Straßenkriminalität.

Andererseits können Zukunftsvisionen aber auch ein logisches Spiel nach dem Prinzip „Was wäre, wenn…“ sein. Was also, nur zum Beispiel, wäre, wenn in der Zukunft alle einfachen Arbeiten statt von Menschen von mehr oder weniger denkenden, mehr oder weniger autonomen Maschinen ausgeführt würden? Das könnte bis zu einer vollständigen Ersetzung mit entsprechenden emotionalen Krisen einher gehen, wie in dem 2021 veröffentlichten Film von Maria Schrader Ich bin dein Mensch. Und was wäre, wenn die Menschheit der Zukunft ihre nationalen und kulturellen Konflikte überwunden hätte, um ihre intellektuellen und organisatorischen Energien zu bündeln und einen neuen Aufbruch in den Weltraum zu ermöglichen? Dies war die Ausgangsposition der kleinen Welle von Science-Fiction-Filmen, die in den sechziger und siebziger Jahren in der DDR entstanden. Während im ersten Fall also aktuelle Möglichkeiten weiterverfolgt werden, geht es im zweiten Fall wenig um die Realisierbarkeit (Zeitreisen, Raumflug mit Über-Lichtgeschwindigkeit, Teleportationen), sondern die Geschichte spielt eine Art Denksport-Aufgabe durch. So wie etwa im beliebten Spiel mit Zeitreise-Paradoxien oder im „Beam me up, Scotty“ als größtmögliche Parabelspringerei des Erzählens. 

Beide Konstruktionen jedoch beziehen sich auf vorhandene Modelle, Menschenbilder, Gesellschaftsbilder und moralische Codes. Die technische Fantasie wird erst zum Erzählstoff, wenn sie auf psychologische, soziologische, politische und ästhetische Systeme angewendet wird. Aus dem positivistischen „Was wäre, wenn…“ lässt sich also das mahnende „Was geschieht, wenn wir jetzt (nicht)…“ folgern. So wird aus der Zukunftsvision in einigen Fällen eine Kritik der Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft.

Kapitalismus, Sozialismus und Autokratie

Die kapitalistische Zukunft ist sehr, sehr einfach zu projizieren: Alles, was technisch machbar ist, was medial vorstellbar gemacht wird und was Profit verspricht, das wird auch realisiert. Spannend wird es, wenn mindestens eines dieser Kriterien nicht erfüllt ist. Oder wenn, wie in Rainer Werner Fassbinders Welt am Draht, die Übersicht der Ordnungen von Wirklichkeit, Simulation und Simulation in der Simulation verloren geht. Immer wieder taucht in Science-Fiction-Erzählungen daher als Motiv auf, dass eine technische Möglichkeit – etwa zur Rettung der Welt – nicht genutzt wird, weil sie keinen Profit verspricht. In Roland Emmerichs frühem Film aus Deutschland, Das Arche Noah Prinzip aus dem Jahr 1984, ist die ökologische Katastrophe, die uns immer näher rückt, schon so dargestellt, dass sie im ökonomisch-politischen System der Gegenwart nicht abzuwenden ist. In anderen Erzählungen bringt die technische Nicht-Realisierbarkeit die Fantasie von Simulation und „Matrix“-Suggestionen in Gang: Weil die Reise in den Weltraum nicht wirklich funktionierte, wendet sich die wissenschaftliche Neugier nach innen. Auf die Fantasie der Explosion folgt die der Implosion. Weil die materielle Wirklichkeit nicht mehr viel abwirft, wird sie zugunsten von Traum- und Wunschmaschinen abgeschafft. Schon lange bevor Arnold Schwarzenegger in Running Man zum Gaudium des Publikums um sein Leben kämpfen musste, war in dem BRD-Fernsehspiel Das Millionenspiel von Wolfgang Menge die Menschenjagd als Super-Entertainment in einer hoffnungslosen Welt imaginiert. Es ist, in der Cyberpunk-Version des Genres vollendet, was Rosa Luxemburg einst die „innere Landnahme“ nannte: Was als Imperialismus an seine Grenzen gelangt ist, wirft sich mit Feuereifer auf die noch nicht kapitalisierten Elemente des Menschen, neben seinen Lebensmitteln wie Wasser und Luft auch noch auf solche im Tieferen: die kapitalistische Kolonialisierung der Seele.

Nicht weniger fatal ist natürlich eine sozialistische oder techno-autokratische Zukunftsvision. Hier wird alles Unberechenbare und Unvernünftige mit Gewalt unterdrückt oder gar ausgemerzt. Während das eine System alles attackiert, was (noch) nicht Kapital ist, greift das andere System alles an, was (noch) nicht Arbeit ist – in Jean-auf Godards Alphaville gehört die Liebe wie die Poesie dazu. Louis Malle drehte in Deutschland seine apokalyptische Vision von einem erbarmungslosen Kampf zwischen Männern und Frauen: Black Moon. In Jugend ohne Gott dagegen zählt in naher Zukunft nichts anderes mehr als Leistung, Macht und Karriere, alle anderen Werte und Hoffnungen sind verpönt. 

Die Grenzen der Menschheit

Möglicherweise gibt es eine Unzahl von Verknüpfungen der beiden Enden der Parabel, doch stehen sie allesamt im Schatten des 1798 veröffentlichen Essays On the Principle of Population von Thomas Robert Malthus. Er setzt dem Wachstum der Menschheit eine erste Grenze: Die Ressourcen der Natur limitieren sowohl das Wirtschafts- als auch das Bevölkerungswachstum. Oder anders gesagt: Die Grenzen jeder Zivilisation sind entweder durch einen Sprung (die Ausdehnung, die am Ende nur als Aufbruch zu den Sternen gedacht werden kann) zu überwinden, oder sie bedeuten das Ende dieser Zivilisation, deren Energien an der Grenze als Destruktion auf sich selbst zurückgeworfen werden. Das ist die Dystopie aller Endzeit-Filme: dass sich die Menschen selber zu viel geworden sind, und sich deswegen nach ihrer grenzenlosen Ausdehnung wieder in barbarische Horden verwandeln, die eine neue Form der gesellschaftlichen Organisation und der zivilisatorischen Werte erst wieder finden müssen – auf der Basis archaischer Kämpfe wie in Lars Kraumes Die kommenden Tage (2010).

Und hier begegnen sich Science-Fiction-Phantasie und Kunst-Inszenierung. Wie sehr unsere Zukunft „gebaut“ wird, ahnte schon Fritz Lang in seinem Metropolis, wo der technisch-ökonomische Fortschritt nicht nur in einen Bürgerkrieg zwischen den ausgebeuteten und unterdrückten Arbeiter*innen und der kleinen Elite der Besitzenden mündet, sondern auch in eine Dekadenz der Empfindungen, wie sie sich in den lange verschollen geglaubten Szenen im Vergnügungsviertel widerspiegelt. Der bedingungslose Fortschritt führt immer zu einer äußeren ebenso wie zu einer inneren Krise. Und was, wenn sich die Verhältnisse zwischen der gesellschaftlichen und ökonomischen Basis und dem künstlerischen und „magischen“ Überbau einfach umkehren? In Robert Bramkamp/Susanne Weihrichs Art Girls beginnt die Kunst die verlässliche Wirklichkeit zu zersetzen. Das Design bestimmt das Bewusstsein. Und ein chaotischer Einbruch des Designs bedingt eine Chaotisierung der Wirklichkeit.

Mehr als der angelsächsische Science-Fiction-Film mit seinem Faible für Effekte und Helden, die die Katastrophe in letzter Minute abwenden, handelt das Genre in Deutschland von den Verheerungen, die für die menschlichen Subjekte zu erwarten sind, wenn sich das Prinzip Fortschritt auf die im 19. Jahrhundert begonnene Weise fortsetzt und nicht nur Gesellschaft und Umwelt zerstört, sondern auch den menschlichen Geist oder seine Seele. Metropolis oder Welt am Draht, die beiden vielschichtigsten Science-Fiction-Klassiker aus Deutschland, erzeugen Zukunft als Illusionsraum, aus dem nur ein Akt der Erkenntnis befreien kann – oder eben auch nicht mehr. Die Geschichte des Genres folgt im Großen und Ganzen dem Weg von der äußeren in die innere Katastrophe. Aber im deutschen SF-Film spielt, nicht allein aus technischen Gründen, die Lust am Untergangen als Mega-Spektakel eine geringere Rolle als im angelsächsischen Pendant. Die Katastrophe spielt sich vielmehr in den Personen ab. In der deutschen Spielart des Genres verbindet sich das soziale Experiment des „Was wäre wenn…“ mit Fragen der Identität und der Integrität. In den Zukunftsängsten und (wenigen) Zukunftshoffnungen entdeckt man, wie sehr wir vom Geist eines Idealismus geprägt sind, der die moralische Entscheidung gegen den Zwang der Systeme setzt. Was wäre, wenn uns die erste und letzte Instanz abhanden kämen, in die noch Hoffnung zu setzen wäre? Dieses Ich, das uns die Zukunft als Werdendes versprach, und das die Gegenwart so erbarmungslos attackiert?

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