Stücke der Saison 2014/2015
Aktuell, bitter, schmerzhaft

Oliver Frljić „Balkan macht frei“, Residenztheater München;
Oliver Frljić „Balkan macht frei“, Residenztheater München; | © Konrad Fersterer

Theaterautorinnen und -autoren reagieren auf Krisen und Kriege, indem sie die Abschottungstendenzen des saturierten Mittelstandes dieser Welt akzentuieren.

Das deutschsprachige Theater wurde in der Spielzeit 2014/2015 in starkem Maß von Elfriede Jelinek geprägt. In dieser Spielzeit kamen nun Jelineksche Textflächen zur Uraufführung, die zwei der derzeit brisantesten politischen Problemlagen umkreisen: die anschwellenden Flüchtlingsströme aus den Kriegsgebieten und Armenhäusern der Welt und die nationalistischen Hassausbrüche gegen Fremde, die unter anderem das gezielte Morden des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zur Folge hatte. Das rechtsextreme Terrortrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe soll in den Jahren 2000 bis 2006 neun türkisch- und griechischstämmige Kleinunternehmer ermordet haben. Mundlos und Böhnhardt richteten sich selbst, der Fall Zschäpe wird seit Mai 2013 vor dem Münchner Oberlandesgericht verhandelt. Die Angeklagte aber sagt kein Wort.

Neues Weltchaos

In Das schweigende Mädchen beschäftigt sich Elfriede Jelinek mit Beate Zschäpes Schweigen, der eigenen Hilflosigkeit und einer kaum zu zügelnden Wut, die so eine strategische Sprachlosigkeit hervorruft. Sie macht das auf mehr als 200 eng beschriebenen Seiten und es sieht so aus, als würde sie das rechte Mördertrio vor ihr ganz eigenes Weltgericht stellen. Johan Simons hat in einer seiner letzten Inszenierungen als Intendant der Kammerspiele ein leises Sprachoratorium daraus gemacht. Der Text und die Münchner Uraufführung gehören zu den herausragenden Ereignissen der Spielzeit 2014/2015 und zeigen die Reaktion der Theaterautorinnen und -autoren auf eine Welt, die in ein babylonisches Gewirr territorialer und religiös motivierter Krisen und Kriege versinkt - orchestriert von Terrorakten und Flüchtlingsströmen.

Die Uraufführungen der Spielzeit 2014/2015 spiegeln diese Situation wider und zeigen, wie der immer noch reiche Mitteleuropäer mit ganz eigenen Fluchtbewegungen auf das neue Weltchaos reagiert. Rebekka Kricheldorf zum Beispiel versammelt in Homo Empathicus eine Gemeinschaft vermeintlich konflikt- und angstfreier Menschen. In Göttingen, wo Erich Sidler das Stück zum Auftakt seiner Intendanz zur Uraufführung gebracht hat, meint man, in einem drogengeschwängerten Hippie-Nirwana jenseits von Geldgier, Neid, Misstrauen und Aggression gelandet zu sein. Tatsächlich führt Kricheldorfs dialogischer Theatertext aber vor, dass eine nach den Regeln der Political Correctness organisierte Gemeinschaft doch wieder totalitäre Züge trägt.

Politische und soziale Turbulenzen

Der Wunsch nach einer von jeder rassistischen und sexistischen Emotion gereinigten Welt verwandelt sich in den Alptraum einer abgeschotteten Brave new world, in der das Individuum Maßstab seiner selbst sein will und je nach Situation festlegt, was politisch korrekt oder inkorrekt ist. Kricheldorfs überforderte Globalisierungsmenschen ziehen sich in eine süße wattierte Traumwelt zurück, kreisen in euphemistischen Sprachspielen und stehen für eine wohlhabende Mittelschicht dieser Welt, die angesichts der weltumspannenden politischen und sozialen Turbulenzen letztlich nur den eigenen Status Quo sichern will. Eine Analyse, die auch auf Dirk Lauckes Menschen in Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute zutrifft, von Jan Gehler Ende 2014 am Schauspiel Stuttgart zur Uraufführung gebracht.

Laucke geht es um jenen rechtsnational gewalttätigen Rassismus, der derzeit in bundesweiten Neonazi-Attacken auf Flüchtlingsheime eskaliert. Er spürt die Ursprünge dieser zunehmenden Renazifizierung deutscher Dörfer und Städte aber nicht im Massenphänomen auf, sondern in all den alltäglichen Floskeln und verrutschten Sprachbildern, mit denen Trinkhallen-Proleten, mittelständische Ehepaare oder gehobene Intellektuelle sich vom Leib halten wollen, dass sich die Menschen aus den Armutszonen dieser Welt auf den Weg gemacht haben: in Richtung Mitteleuropa.

Vorzeige-Balkanese

Eine ganz spezielle Ausformung dieses Themas gab es gegen Ende der Saison mit Oliver Frljićs provokantem Balkan macht frei. Der in Kroatien lebende bosnische Autor und Regisseur thematisiert sich selbst und seine Arbeit im deutschsprachigen Theater. Er zeigt, dass ein privilegierter „Flüchtling“ wie er im Traumland Deutschland ohne weiteres eine Arbeitserlaubnis erhält, trotzdem aber darunter leidet, im Theaterbetrieb letztlich doch nur der Vorzeige-Balkanese zu sein. Frljić hat das am Münchner Residenztheater inszeniert und nicht zuletzt mit einer realen Waterboarding-Szene vorgeführt, wie aktuell, bitter und schmerzhaft Theater sein kann.