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Theater
Sturm nach Facebook und Shakespeare

Theaterstück Der Sturm
© Thalia Theater/Armin Smailovic

Beim Tschechow-Festival wird bis zum 24. Mai „Der Sturm“ des Hamburger Thalia Theaters gespielt

Ein dreistöckiges gelbes Wohnheim mit Pritschen, die an die dritte Klasse in russischen Zügen erinnern, Migrant*innen, Suchtkranke und Menschen, die Liebe und Hoffnung verloren haben, Rap und Blues an der Grenze zum Nervenzusammenbruch – all das ist „Der Sturm“ der deutschen Regisseurin Jette Steckel. „A Lullaby for Suffering“ lautet der Untertitel, mit dem sie ihre Arbeit nach Motiven aus Shakespeare-Stücken beschreibt.

Um sowohl die neue Übersetzung von Frank-Patrick Steckel als auch die Dramaturgie von Julia Lochte und Emilia Linda Heinrich entsprechend beurteilen zu können, sollte man sich vorab mit dem Inhalt der Geschichte um den Zauberer Prospero vertraut machen, einem ehemaligen Herzog von Mailand, der durch den Bruder von seinem Thron vertrieben wurde und fortan mit seiner Tochter Miranda auf einer Insel lebt.
Prospero und Miranda © Thalia Theater/Armin Smailovic
Das gegenwärtige Europa ist die Welt, die Prospero Miranda gemeinsam mit seinen Untergebenen – dem Insel-Caliban und dem Luftgeist Ariel – zeigt. In dieser Welt „tanzen die Bierdosen gemeinsam mit den Herbstblättern“, und in sieben Episoden finden sieben unterschiedliche Figuren um 4:18 Uhr morgens keinen Schlaf mehr. Von Steckel ins moderne Europa entsandt, leiden sie unter Einsamkeit und können keinen Sinn in einer Welt sehen, in der man „PR macht“; nicht verstehen, wer man ist und wozu das alles gut sein soll: Joints rauchen oder weiterleben, nachdem ein geliebter Mensch gestorben ist… Die Welt, die Prospero Miranda darbietet, ist den heutigen Moskauer*innen und überhaupt allen Bewohner*innen von Großstädten, die über einen Internetzugang und damit die Möglichkeit verfügen, sich Essen liefern zu lassen – um sich im Anschluss auf Facebook über die taktlose Werbung des Lieferservices auszulassen – mehr als bekannt.

Die Uhrzeit 4:18 scheint außerdem ein Verweis auf die Dramaturgin Sarah Kanes zu sein, die Ende der Neunziger Jahre als „neuer Shakespeare“ bezeichnet wurde und eine der Begründer*innen des „In-Yer-Face-Theaters“ ist – eines unabequemen Theaters, das den Zuschauer*innen all jenes an den Kopf wirft, was der bzw. die Autor*in über diese Welt zu sagen hat. In „4.48 Pychose“, einem Text, nach dessen Niederschrift Kane sich das Leben nahm, gibt es die Passage „Christus ist tot – und die Mönche sind in Extase“. Dies scheint der gleiche Ausgangspunkt zu sein, von dem aus auch Jette Steckel ihren „Sturm“ entfachte. Allerdings ist im Begleitheft zum Stück nicht der Satz von Kane, dem Steckel offensichtlich nachspürt, sondern ein Text des slowenischen Sozialphilosophen und Kulturkritiker Slavoj Žižek abgedruckt: „Die alten kognitiven geographischen Landkarten – die christliche, die liberale und so weiter – haben sich als Illusion erwiesen. Wir blicken in das Antlitz der Krise und nehmen die Welt um uns herum immer mehr als Chaos wahr“.
Kaliban. Der Sturm. A Lullaby For Suffering © Thalia Theater/Armin Smailovic
Dieses Chaos entfaltet Steckel Stück für Stück. Erst sitzen ihre Charaktere auf der Vorbühne vor einem dunklen Hintergrund – das gelbe Gebäude des Wohnheims und die Welt, die ihren Verstand verloren hat, tauchen erst später auf. Die Umrisse dieser Welt wirft der Zauberer Prospero auf die Bühne, indem er einen kleinen Ausschnitt von Asche befreit.

Später wird Miranda diese Welt als eine schwarz-weiße Projektion betrachten; das wie sich hieraus lösende gelbe Haus. Zauberer Prospero wird diese Welt aus dem Orchestergraben heraus dirigieren, wobei er den Platz neben dem Dirigenten einnimmt. Den Soundtrack für das Stück liefert die Live-Performance von „Prospero's Band of Spirits”, die Jazz, Rap und Naturgeräusche miteinander vermischt – solche, über die man gut in Sachen „reinkommt“, zum Beispiel in die Bearbeitung endloser Excel-Tabellen.

„Der Sturm“ ist eine in jeder Hinsicht technische Arbeit. Die drei Etagen umfassende Konstruktion, welche 12 Zimmer umfasst, wurde innerhalb von drei Tagen aufgebaut. Und das Ensemble der Schauspieler*innen unter Leitung von Barbara Nüsse als Prospero (in ihrem Repertoire: Polonium, Ranewskaja und selbst der Herrgott) ist ein ideales Orchester, welches mit ingenieursgleicher Prägnanz agiert.

Dabei ist „Der Sturm“ ein Beispiel für eine aktuelle Theaterversion, die sich aus Tradition speist. Ein sehr deutsches Stück, das nicht nur den Schauspielenden, sondern auch den Zuschauer*innen höchste Konzentration abverlangt.

Was Technik und Arbeitsweise des dramaturgischen Grundprinzips angeht, harmoniert Steckel mit den „Drei Schwestern“ von Simon Stone aus dem Theater Basel, die vor nicht allzu langer Zeit Moskau eroberten. Stone verpackt dabei seine Stellungnahme zur modernen Welt in ein „angenehmer“ zu konsumierendes Format: sein Stück ist ein Produkt, mit dem moderne Europäer*innen leichter zurechtkommen. Steckels „Der Sturm“ erfordert eine zuschauerische Arbeit, die sich allerdings in der nachträglichen Reflexion bezahlt macht. So war der erste große Artikel zur Regie Jette Steckels, die mit 36 Jahren etwa 30 Stücke auf die Bühne gebracht hat, mit „Hunger nach dem Sinn“ übertitelt – eine, wie sich nun herausgestellt hat, sehr treffende Zuschreibung.
 
 

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