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Maskulinität
Alte stolze Kerle

Alte stolze Kerle
© Hans Winkler

Im 21. Jahrhundert werden viele traditionelle Vorstellungen neu gedacht. Was macht das mit der Maskulinität? Und was mit Macht und Stärke, ihren Attributen? Arthur Grand ist der Ansicht, dass die alte Welt nicht gerade den brennenden Wunsch verspürt, eine neue zu werden – weshalb sie archaische Bilder benutzt und vervielfältigt, um daraus Kapital zu schlagen.

Von Arthur Grand

Patriarchat und Femizid

In seinem Roman „2666“ beschreibt Roberto Bolaño die fiktive mexikanische Stadt Santa Teresa, in der über einen Zeitraum von vielen Jahren hinweg Morde an Frauen verübt werden. Für die Stadt gibt es einen Prototyp, und für die Verbrechen eine reale Grundlage.  Ciudad Juárez liegt im Norden Mexikos; seit 1993 wurden dort die Körper ermordeter Frauen aufgefunden. Ein Großteil der Opfer waren junge Frauen und Mädchen aus armen Regionen, die in Maquiladoras (Fabriken, die auf billige Arbeitskräfte setzen) arbeiteten. Die Zahl der Ermordeten lag bei mehr als 370. Ein Drittel von ihnen ist vergewaltigt worden. Das Phänomen bekam die Bezeichnung „Femizid“. 
  Arthur Grand Arthur Grand | © privat
Die Verwaltungsorgane der Stadt taten nur so, als ob sie sich ernsthaft mit dem Problem befassen würden, und die Polizei übte sich zum großen Teil lediglich in der Imitation einer Aufklärung der Verbrechen. In Schauprozessen wurden einige Täter verurteilt, doch Journalist*innen und Gesellschaft hatten noch viele offene Fragen, was die Schlüssigkeit der verhandelten Taten anging. Alles schien darauf hinauszulaufen, dass die wirklichen Mörder nicht bestraft wurden. Man könnte also fragen: wer (oder was) ist denn der wahre Mörder?
 
In Ciudad Juárez hat sich eine zutiefst patriarchale Atmosphäre etabliert. Der Mann gilt als das Alpha-Tier, steht oftmals in Verbindung zu kriminellen Geschäften und ist ein vollberechtigtes Subjekt, die Frau hingegen die Herrin des häuslichen Herds und der Gemütlichkeit – ein Objekt mit hinfälligen Rechten eines Subjekts. Als Frauen begannen, in den Maquiladoras zu arbeiten, Geld zu verdienen und Anspruch auf eine wie auch immer geartete Unabhängigkeit zu erheben, nahmen die Männer dies mit Verbitterung auf. In ihren Augen war es ein Anschlag auf ihre Identität, ihre Macht und überhaupt die Ordnung der Dinge im Universum. In Ciudad Juárez gilt grobe männliche Gewalt fast schon als sakral, und daher war es für die Machtorgane einfacher, den Femizid einfach zu ignorieren, denn hätte man ihn mit wachem Blick wahrgenommen, hätte dies ja bedeutet, öffentlich an der Adäquatheit der städtischen soziokulturellen Landschaft zu zweifeln – und das heißt, an sich selbst. Die Vergewaltiger und Mörder haben zwar konkrete Vor- und Nachnamen, doch der wahre Mörder ist das finstere Patriarchat.

Starke Präsidenten

Jetzt könnte man nach dem Motto argumentieren: na ja, das ist eben Mexiko, die Dritte Welt, der kriminellste Ort der Erde (und in etwa diese Idee propagiert auch Denis Villeneuves Film „Sicario“), die Vorstellungen von Maskulinität und Macht sind dort ja gewissermaßen aus dem Mittelalter. Aber fassen wir die Geographie doch einmal etwas weiter.
Illustration Präsidenten © Hans Winkler
Der Präsident der USA ist Donald Trump, welcher das Bild des starken, mächtigen Mannes ideal herausarbeitet: so eine Art reich gewordener Cowboy, der sich zusammen mit seiner Frau, dem Model, gewissermaßen in den Sattel des Oval Office schwingt. Die Beliebtheit des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der in den Medien gern demonstriert, wie gut er sportlich in Form ist, baut auf altmodischen Vorstellungen eines männlichen Anführers, Beschützers und Rächers auf. Zum Präsidenten Brasiliens wurde Jair Bolsonaro, dessen Rhetorik an die Reden der Erbauer des sogenannten Dritten Reichs erinnert, angereichert mit einer Archaik und der mit ihr verbundenen Körperlichkeit, die als das ultimative Diktat der Gendernorm daherkommt. Ich möchte betonen, dass ich hier nicht über die persönlichen Eigenschaften der Politiker spreche und nicht über ihre Führungspraxis, sondern allein über ihr Abbild in den Medien, für das die Leute ja im Endeffekt ihre Stimme abgeben. Die Macht ist in der modernen Welt nach wie vor mit denen, die Hologramme von Maskulinität in den Massenmedien entwerfen, die auf alten Mustern aufbauen.

Vergötterung als Schutzmaßnahme

Der beliebte kanadische Psychologe Jordan Peterson erhebt Anspruch auf intellektuelle Macht im weltweiten öffentlichen Raum (2,3 Millionen Menschen haben seinen YouTube-Kanal abonniert). Gleichzeitig ist er einer der leidenschaftlichsten Verfechter traditioneller Maskulinität. In einem Interview hat er gesagt: „Der Westen hat den Glauben an die Idee der Maskulinität verloren, und das ist gleichzusetzen mit dem Tod Gottes.“ Bemerkenswert ist hierbei noch nicht einmal die eschatologische Überzeugung Petersons vom Status der Maskulinität in den westlichen Ländern (welcher höchst fraglich ist), sondern der hier angestrengte Vergleich. Der kanadische Professor vergöttert die Maskulinität, was für einen Intellektuellen des 21. Jahrhunderts ziemlich naiv und extravagant ist. Dabei befürwortet er eine gewisse primitive Männlichkeit und natürliche Eigenschaften des Mannes, wobei unverständlich bleibt, wer den Männern denn da etwas absprechen möchte (oder überhaupt dazu in der Lage ist). Die Vorstellungen der Menschen von einem „richtigen Mann“, altmodische aufoktroyierte Bilder und Ideale, die für alle diejenigen funktionieren, die (jedwede) Macht anstreben, werden in Frage gestellt. Es würde nur noch fehlen, dass Peterson sagt: es gibt keine Maskulinität, alles ist erlaubt. Doch wenn Nietzsche dem Tod Gottes mit Beseeltheit gegenüberstand, sieht der Kanadier in ihm den Untergang der Zivilisation.
 
Übrigens ist Peterson häufiger Gast eines Programms, das Gavin McInnes, ein rechter kanadischer Autor und politischer Kolumnist, auf seinem YouTube-Kanal betreibt (in einer der Folgen tritt er mit einer Frauenperücke auf und erklärt, dass „der Feminismus einen Krieg mit der Männlichkeit führt“). McInnes ist Mitgründer von Vice Magazine, eines der grundlegenden modernen Hipster-Medien und hat außerdem die „Proud Boys“ erschaffen, eine neonazistische Organisation, in die nur Männer eintreten können (für Frauen wurde die Untergruppe „Proud Girls“ gegründet). Die „Proud Boys“ praktizieren Sexismus und Misogynie in den USA, Kanada, Australien und Großbritannien und bemühen sich darum, den fallenden Gott der Maskulinität neu auferstehen zu lassen.

Eine junge Bedrohung

In der Diskussion um Männlichkeit fällt oft der Begriff „toxisch“, aber ich würde ihn nicht im Sinne des Begriffs „Toxizität“ verwenden. Denn darunter versteht man etwas Vergiftendes, Kontaminierendes, und der Kampf gegen das Gift erfordert die Suche nach dem Reinen, Gesunden, Sittsamen. Aber ist nicht unter den Fahnen dieser Begrifflichkeiten die Nazi-Ideologie entstanden („Reinheit der Rasse“, „Gesundheit der Nation“)? Man sollte in der Wahl der Stilmittel etwas vorsichtiger sein.  
 
Es war interessant zu beobachten, wie die traditionelle Maskulinität erst vor kurzem in einer Diskussion um nicht metaphorische, sondern wortwörtliche Toxizität sichtbar wurde – nämlich in der um Umweltverschmutzung und Klimawandel. Die junge schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg hatte im Rahmen des UNO-Klimagipfels eine flammende Rede gehalten. Oder vielmehr keine Rede, sondern eine Invektive, die sich an die aktuelle politische Elite richtete (welche zum Großteil aus Männern besteht).
Illustration Greta Thunberg © Hans Winkler
Donald Trump schrieb in einem sarkastischen Tweet hierzu, dass Greta auf ihn wirke wie ein „sehr glückliches junges Mädchen, das sich auf eine strahlende und wunderbare Zukunft freut“. Wladimir Putin teilte die „allgemeine Begeisterung“ anlässlich ihres Auftritts nicht und bemerkte, dass hier jemand das Mädchen im Sinne eigener Interessen ausnutze. Zwei Präsidenten erwiesen sich somit als fähig zu kleingeistiger Herablassung und zu Bemerkungen in Richtung einer Verschwörungstheorie. Was im Prinzip einfach zu erklären ist: für beide, sowie für ihre konzentrierten Bilder von Männlichkeit und Macht, ist die junge Schwedin eine klare Bedrohung.

Wichtig ist also nicht, was vor der UNO gesagt wurde (das meinen ja viele, darunter auch Jugendliche), sondern von wem und wie. Einen sterbenden Gott kann sich ein „Proud Boy“ gut zurecht-polemisieren, die Vorwürfe eines jungen Mädchens aber machen ihn hilflos – denn in einer Welt der Archaik und männlichen Macht ist so etwas nicht üblich. Dazu kommt, dass Greta Thunberg (und die Jugend, die sie verkörpert) bereits nach der realen Macht greift, und ihr Auftritt ist ein Faktum der Weltpolitik, das einen breit gefächerten Aufschrei der Medien nach sich zog.

Ich habe mir die Facebook-Kommentare angesehen, die nach der UNO-Rede der Aktivistin explodierten. Symptomatisch ist, dass sich vor allem die Traditionalisten an den Kopf griffen. Ihre Vorstellungen von Maskulinität hielten der Prüfung durch Greta Thunberg nicht stand. Und während sie noch aufgebracht wütende Posts schrieben, ging die nicht mehr ganz junge Jane Fonda auf ein Protestmeeting zum Klimawandel vor dem Kapitol in Washington und zeigte sich begeistert über die „unglaubliche Bewegung, die die Jugend in Gang gebracht hat“. Sie wurde übrigens festgenommen.

Anstelle einer Schlussbemerkung

In Russland ist es heute aus vielerlei Gründen schwierig, ein ernstzunehmendes öffentliches Gespräch über Maskulinität zu führen: aufgrund einer staatlichen Propaganda traditioneller Werte, einer hierarchischen Gesellschaft, totaler Monologizität und des Fehlens öffentlicher Dialoge. Das Bild „Der wahre Mann und der Krieg“ hat das Bewusstsein der Männer ebenso wie das der Frauen faktisch monopolisiert. Ein eindringliches Beispiel für dieses Bewusstsein liefern die Worte des Cheftrainers der russischen Fußballnationalmannschaft, Stanislaw Tschertschessow, während der Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr; er sagte da über sich und die Mannschaft: „Wir sind wie Soldaten, die in die Armee einberufen wurden.“  

Was die Welt im Ganzen betrifft, vervielfältigen sich die Bilder der Männlichkeit in ihr, sie verändern sich; alte Bilder, die mit Macht in Verbindung gebracht werden, sind immer noch beliebt, doch es entstehen auch neue, kompliziertere, die vor Energie nur so strotzen. Noch sind sie weit davon entfernt, an Macht zu gewinnen, doch ihre Existenz allein bringt Intellektuelle wie Jordan Peterson dazu, unter dahingeschiedenen Göttern nach Verbündeten in punkto Maskulinität zu suchen.

Im Herbst und Winter führen das Goethe-Institut Moskau und Heinrich Böll Stiftung die Diskursreihe zu Maskulinität „Mann sein“ durch und veröffentlichen auf Colta.ru den Onlinekurs „Maskulinität für Dummies“. Unter den Teilnehmenden sind führende Genderforscher*innen und renommierte Expert*innen aus Soziologie, Kultur, Psychologie und Politik sowie Journalist*innen aus Deutschland und Russland.  

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