Frau Birkenhauer, Sie haben viele zeitgenössische israelische Autoren ins Deutsche übersetzt, darunter Aharon Appelfeld, Eshkol Nevo und nicht zuletzt David Grossman. Das sind sehr unterschiedliche Autoren, Themen und Stile. Wie entscheiden Sie sich für einen Autor beziehungsweise seinen Text?
Grundsätzlich wird alles interessant, wenn es mir als Literatur entgegentritt. Ich lese die ersten vierzig Seiten. Wenn ich den Eindruck habe, die Sprache ist subtil und präzise gewählt, dann interessiert mich der Text. Manche Themen nehme ich allerdings nicht an, weil ich sie emotional nicht in mich aufnehmen will.
Wie gehen Sie an den neuen Text heran?
Gerät dabei auch die semantische Ladung in den Fokus? Wie gehen Sie damit um?
Ich übersetze nicht nur die Phrase, sondern auch die transportierte Emotion. Dazu versuche ich die Stimmung einer Phrase im Originaltext zu spüren und sie dann funktional richtig in der Übersetzung nachzubauen.
Gibt es Werkzeuge, die sich dabei bewährt haben?
Abtönungspartikel lassen mich seit dem Studium nicht mehr los. Das sind die ganzen kleinen Worte, die die Stimmung in einem Satz ausmachen. Nimm die Frage: Wie spät ist es? Und jetzt mit Partikel: Wie spät ist es denn? Dieses Wörtchen macht den ganzen Unterschied im Ton. Meine Rohübersetzungen sind voller Abtönungspartikel, weil ich ja zunächst den präzisen Ton suche. Es ist wirklich einer der schönsten Momente, wenn die Melodie des Originals und die der Übersetzung plötzlich stimmig sind.
Es gibt in jedem israelischen Roman Anspielungen oder Pointen, die von israelischen Lesern intuitiv erkannt und verstanden werden. Wie können Sie diese Zusammenhänge einem deutschen Leser vermitteln, ohne sie zu erklären?
Welche Rolle spielt Ihr Autor in diesem Prozess?
Im Grunde ist das Übersetzen ein Dialog zwischen dem Text und mir. Das erste Lesen ist wie ein Blind Date, bei dem ich hoffe, dass der Text sich mir offenbart. Mit meinem Autor bespreche ich mich erst später, beispielsweise dann wenn ich den Eindruck habe, ein Bild stimmt nicht ganz.
Irritiert das den Autor nicht?
Erst dachte ich, ich dürfe einen Autor nicht danach fragen. Aber wir sind wie zwei kollegiale Handwerker, gerade deshalb ist das Verhältnis sehr innig. Eventuell stellt sich heraus, dass ich einen kleinen Hinweis überlesen habe. Manchmal ertappe ich auch einen Autor bei einer Inkonsequenz. David Grossmann hat diese Stellen übrigens dann in der nächsten Auflage des Hebräischen korrigiert.
Wie erleben Sie dieses intensive literarische Übersetzen mit all den Konsequenzen für den Originaltext?
Es ist meine Aufführung des Textes. Zeitweise schlüpfe ich in den Autor, den Erzähler oder eine Figur. Es ist eine Fortschreibung des Originals, wie es der Literaturwissenschaftler Peter Utz nennt. Damit wird jede Übersetzung wiederum ein Original. Das finde ich wunderschön! Immerhin stehen wir Übersetzer heute in Deutschland endlich auch mit auf der ersten Seite.
Was raten Sie Nachwuchsübersetzern?
Man muss die eigene Arbeit zur Diskussion stellen und sich mit erfahrenen Kollegen austauschen. Eine gute Übersetzung braucht Zeit. Und bei jedem neuen Text lernt oder erfindet man ein neues Werkzeug dazu, das einem weiterhilft. Übersetzen ist ein Handwerk, und im Handwerk zählt Erfahrung.