„Who is that Critic? And why?“ / Veranstaltung verschoben

Kerstin Stakemeier © privat

Mi, 25.03.2020 –
Do, 26.03.2020

20:00 Uhr

Zentrum für zeitgenössische Kunst Winzawod Moskau

Drei Vorlesungen des Goethe-Instituts Moskau und des Labors für Kunstkritik am Zentrum für zeitgenössische Kunst Winzavod

 

Um die Gesundheit unserer Besucherinnen und Besucher zu schützen, verschieben wir alle für März und April geplanten Veranstaltungen auf ein späteres Datum. Sobald ein neuer Termin feststeht, informieren wir Sie umgehend. Wo möglich, stellen wir unsere Angebote auf Online-Formate um. Vielen Dank für Ihr Verständnis!

Im Rahmen der Reihe:
Ein plombierter Wagen: Gebrauchswert des Schreibens über Kunst

Vortrag # 3: Kerstin Stakemeier: „Who is that Critic? And why?“ – Anmerkungen zur Funktion der Kunstkritik
 

Welche Bedeutung hat kritisches Schreiben für die Öffentlichkeit? Und welchen Beitrag leistet es für die Gesellschaft und den internationalen Kulturaustausch? Diese Fragen sind, unter Bezugnahme auf die historische „Reise“ der Kritischen Theorie von Deutschland nach Russland, Ausgangspunkt der vom Labor für Kunstkritik am Zentrum für zeitgenössische Kunst Winzavod gemeinsam mit dem Goethe-Institut organisierten Vortragsreihe.
 
„Ein plombierter Wagen" bezeichnet den Einfluss von Ideen des Marxismus, der die Tradition der deutschen Philosophie  fortschreibt. Wladimir Lenin, der sich viele Jahre mit dem Studium des deutschen Denkens befasst hatte, kehrte in einem solchen, vermutlich für geheim erklären Wagen 1917 über Deutschland nach Russland zurück. Die deutsche Philosophie entwickelte ihre Wirkung in Russland zu einer Zeit aus, als die progressive öffentliche Wahrnehmung unter anderem auf dem Wunsch nach ästhetischer Klärung und Transformation beruhte.
 
Hieran knüpft sich die Frage nach dem Nutzen und der Funktion von Kunstkritik. In der abstrakten, gesellschaftlich notwendigen Arbeit, die die Kunstkritik leistet, liegt ein wichtiger Nutzen. Welches Bedürfnis bedient die Kritik dabei?
 
Die Vortragsreihe stellt aktuelle Ideen vor, die sich aus einem traditionellen Kontext und einer theoretischen Sprache herleiten. Es geht hierbei um den gesellschaftlichen Wert der Arbeit, um das Schicksal der Kunstkritik und das Wesen der Kunst im Kapitalismus.

Kerstin Stakemeier: „Who is that Critic? And why?“ – Anmerkungen zur Funktion der Kunstkritik

Seit dem Aufkommen der Kunstkritik im 18. Jahrhundert spielt diese eine stabilisierende Rolle, wenn es darum geht, bestimmte ästhetische Praktiken als Kunst zu institutionalisieren. Kritik macht Kunst affirmierbar, domestiziert sie und ermöglicht so Akte politischer Repräsentation und wirtschaftlicher Vergegenständlichung. Doch haben Texte zu ästhetischen Praktiken diese Rolle auch immer wieder abgelehnt. Sie verkörperten somit keine Kritik, sondern andere Formen der ästhetischen Auseinandersetzung mit Kunst, als Kunst und über Kunstgrenzen hinweg. So gibt es unzählige historische und zeitgenössische Beispiele für derartige Formate (politische Schriften, radikale Prosa, epistolare Texte, Mail Art usw.) und ebenso viele Diskussionen darüber. Auch die Rolle anti-etatistischer Organisationsformen, aber auch Fragen der Distribution und Konversion von Fertigkeiten und Virtuosität ebenso wie die radikale Neuartikulation des Autors – all dies ist heute äußerst relevant. Solche textlichen Formen ästhetischer Praxis lassen das Genre der Kunstkritik – deren soziale Funktion sich in den letzten Jahren ohnehin drastisch verändert hat – deutlich in den Hintergrund treten. Da Kunstkritik stets an den Liberalismus gebunden war, der der „eigentlichen Kunst“ (art proper) innewohnte, hat das allmähliche Hinscheiden des Liberalismus in jüngster Zeit nicht nur die Kunst selbst, sondern auch die Kunstkritik in Mitleidenschaft gezogen. Als mithin nostalgisches Gewerbe signalisiert die heutige Verstetigung der Kunstkritik nur den immer wieder neu erhobenen liberalen Anspruch auf die „eigentliche Kunst“ (siehe z. B. die jüngste Re-Institutionalisierung des Artforum oder den Vorstoß zur Rettung der Kritik durch TzK). Heute steht Kunstkritik sinnbildlich für den Wunsch nach „Neuinitiierung“ einer kritischen Haltung, die liberal und zugleich unvoreingenommen ist (was sie natürlich nie war). Diese leicht katastrophalen Versuche, an den liberalen Idealen der Kritik festzuhalten, sehen sich jedoch antiliberalen Ressentiments ausgesetzt (wie sie für die jüngsten Debatten in Zeitschriften wie Spiked prägend sind). Diese multiplen Unvereinbarkeiten, vor denen wir heute stehen, erzeugen eine Debatte über Kunst und Kunstkritik, in der es um die historische wie zeitgenössische Konfrontation (und natürlich auch Verschmelzung) mindestens dreier Stränge geht: der einstürzenden Institution moderner Kritik, der ordnenden sozialen Praxis ästhetischen Schreibens sowie des postliberalen Brutalismus der Kunstbewertung.
 
Kerstin Stakemeier (*1975) lehrt Kunsttheorie an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. Sie lebt in Berlin. Gemeinsam mit Manuela Ammer, Eva Birkenstock, Jenny Nachtigall und Stephanie Weber arbeitet sie seit 2017 an dem langfristigen Ausstellungs- und Zeitschriftenprojekt Klassensprachen. 2007/2008 initiierte sie in Hamburg den „Aktualisierungsraum“ (mit Nina Köller) und war 2009/2010 Researcherin an der Jan van Eyck Academie (Maastricht) zum Thema „Realisms in (Contemporary) Art“. 2011 promovierte sie über „Entkunstung – artistic models for the end of art“ am University College London. Sie schreibt u. a. für Artforum, Flash Art und Texte zur Kunst. 2012 veröffentlichte sie Painting – The Implicit Horizon (mit Avigail Moss), von 2014 bis 2016 Power of Materials/Politics of Material, Fragile Identitäten und The Present of the Future (alle mit Susanne Witzgall, bei diaphanes) sowie ebenfalls 2016 Reproducing Autonomy: Work, Money, Crisis and Contemporary Art (mit Marina Vishmidt, bei Mute), 2017 erschien ihre Monografie Entgrenzter Formalismus. Verfahren einer antimodernen Ästhetik bei b_books, Berlin.
 

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