Pavel Arsenev: "Afgan-Kuzminki". Nach einem dramatischen Gedicht von Keti Chukhrov

Pavel Arsenev und Keti Chukhrov "Afgan-Kuzminki" © Foto: Pavel Arsenev

Mi, 26.07.2017

15:00 Uhr

Neue Bühne des Alexandrinski-Theaters

Site Specific Performance im Rahmen des Festivals "Punkt der Erreichbarkeit"

"Die sowjetische Revolution hat den russischen Alltag deutlich verändert. Des Weiteren hat sie die Frauen befreit. Alexandra Kollontaj, Revolutionärin und Diplomatin, befürwortete die freie Liebe und war erfolgreich im Kampf um das Recht auf Abtreibung. Lenin sprach von 'Ehe als legalisierter Prostitution': um dieser 'Form der Prostitution' zu entfliehen sollten Eheleute nicht nur Liebhaber und Liebhaberinnen, sondern auch Kameraden und Kameradinnen sein. Falls diese freundschaftliche Verbindung scheiterte, war es leicht diese wieder zu lösen: eine Scheidung galt als rechtlich, wenn einer der Ehepartner den jeweils anderen per Brief über die Scheidung informiert hatte. Die sowjetische sexuelle Revolution währte jedoch nicht lange, denn schon in der Stalin-Ära wurden die meisten dieser revolutionären Erfolge wieder rückgängig gemacht. Obwohl die sowjetische Propagandamaschinerie viel über die Gleichstellung der Frauen sprach und große Reden über ebendiese Gleichberechtigung schwang, sah sich die sowjetische Frau genötigt eine doppelte Tätigkeit auszuführen; ihren Beruf und die Hausarbeit. Dafür erhielt sie weder eine Entschädigung noch jeglichen Respekt. Die zwischenmenschlichen Beziehungen heutzutage werden durch den Kapitalismus geprägt und haben sich den revolutionären Idealen von damals nicht wieder angenähert.

Mit diesen historischen und sozialen Gegebenheiten im Hinterkopf wurde das Stück "Afgan-Kuzminki" von dem Künstler und Poeten Pavel Arsenev basierend auf einem dramatischen Gedicht von Keti Chukhrov erdacht. 'Die Route des Stückes', wie sie der Autor nennt, beginnt auf dem Apraxin-Markt, der an das Große Dramatische Theater angrenzt, und endet in der Neuen Bühne des Alexandrinski Theaters. Das  Gedicht reflektiert die raue und profane Alltagssprache, die auf dem Markt Ton angebend ist, und verbindet diese mit dem ihr innenwohnenden Potential zur dichterischen Sprache. Denn diese besondere Sprache erwächst bekanntlich aus Müll.  "Die durch den harten Alltag geprägten gefühllosen Grausamkeiten nehmen eine unerwartete Wendung, wenn 'Liebeserklärungen' ausgesprochen werden." (Roland Barthes) "Dies ist vor allem mit Hilfe der poetischen Sprechweise möglich, die nicht automatisch zu einem lyrischen Monolog führt, sondern immer der Zwei- oder Mehrstimmigkeit einen Platz einräumt, und somit aus einer lyrischen Situation eine theatralische schafft." – erklärt Pavel Arsenev.

Das Sujet ist fast schon bis zum Vulgären einfach: Hamlet, der Besitzer einiger Marktstände, bietet der Verkäuferin Gala eine 'Beförderung' an – den Übergang von Kurzwaren, Dessous und Pelzen in ihren Eigentum – wenn sie mit ihm das Bett teilt. Solche Beziehungen, zu welchen die Protagonisten durch die Logik der Verwandlung von Allem in Waren gezwungen werden, schließen die Möglichkeit auf intimen, zwischenmenschlichen Kontakt bzw. auf irgendeine andere Form des Kontaktes eigentlich aus. Jedoch selbst in solch einer hoffnungslosen ökonomischen Beziehung zwischen zwei Menschen besteht stets die Möglichkeit auf ein Wunder – und zwar nicht aufgrund der Wiedergewinnung 'der geistigen Verbundenheit' oder dem Wirken von irgendwelchen himmlischen Kräften, sondern trotz ihnen.

Seit wir "Afgan-Kuzminki" 2008 zum ersten Mal im Journal [Translit] herausgaben,  und wenige Jahre darauf die Gesamtausgabe dramatischer Gedichte von Keti Chukhrov mit dem Titel "Einfache Leute", sind solche Gedichte heute bereits eine bibliographische Seltenheit geworden. Einige Herren, die versuchen die Literatur in ihrem Sinne zu steuern, haben mit der Faust auf den Tisch gehauen und gesagt, dass solch ein Dichter und solche Gedichte keine Existenzberechtigung besitzen. Fast zehn Jahre später versuchen wir weiterhin diese quasi  marginale Position in der Literatur mit Hilfe von Theorie, zeitgenössischer Kunst und zeitgenössischem Theater zu hybridisieren. Aufgrund dessen führen wir dieses Stück auf dem Apraxin-Markt, inmitten einer realen Umgebung und inmitten von Händlern, auf. Mit dem Staub und Lärm der Straße führen wir außerdem auch eine Intervention im Alexandrinski Theater durch: Dezentralisiert, wird nicht nur die Einheit von Ort und Handlung verletzt, sondern auch werden die Besucher gezwungen sich von ihren Plätzen zu erheben. Das Stück fängt auf dem Marktplatz an und endet etwas nördlicher in der Neuen Bühne, die sich in der Fontanka Straße befindet".

Regisseur: Pavel Arsenev
Autorin: Keti Chukhrov 
Performer:
Vladislava Milovskaya, Petr Chizhov

  

Totschka Dostupa Goethe © Foto: Goethe-Institut

Die Performance ist Teil des vom Festival "Punkt der Erreichbarkeit" und vom Goethe-Institut St. Petersburg gemeinsam organisierten Programms "Vom Möglichkeitssinn. Zum 100. Jahrestag der Revolution". Kurator des Programms ist Florian Malzacher (Deutschland). Das Sommerfestival der Künste "Punkt der Erreichbarkeit" findet vom 20. Juli bis einschließlich 6. August 2017 in St. Petersburg statt. Auf dem Festival werden Theater- sowie interdisziplinäre Projekte kontextbezogen und in jeweils angemessenem Raum aufgeführt.

 

Zurück