Stadtfilme über Berlin
Durch die Zeit hindurchblicken

Der Himmel über Berlin von Wim Wenders
Der Himmel über Berlin von Wim Wenders | © Wim Wenders Stiftung

Berlins Selbstbild entsprach lange dem einer spätentwickelten Stadt. Man war der Meinung, dass Berlin im 19. Jahrhundert sowohl hinsichtlich seiner Größe als auch seiner kulturellen und historischen Bedeutung Städten wie Rom, Paris oder London hoffnungslos hinterherhinkte. Erst zu Beginn des 20. Jahrhundert wurde die Stadt zu einer modernen Metropole, was eng mit der zweiten industriellen Revolution verknüpft war, welche Automatisierung, Bewegung, elektrisches Licht, Konsum und Amusement als deutliche Großstadtphänomene hervorbrachte.

Deshalb nahm der Film - als die am stärksten hervortretende neue Kunstform des 20. Jahrhunderts - in Berlin eine Sonderstellung ein. Er warf ein anderes Licht auf die Stadt, deutete soziale Wirklichkeiten und Begegnungen, begleitete Bewegungen und Zustände. Die Filmemacher versuchten, Rhythmus, Zufall und Unverbindlichkeit der Stadt aktiv zu nutzen – wie in Berlin. Die Sinfonie der Grosstadt (Regie: Walther Ruttmann) von 1927, bei dem die ganze Idee des Films auf einer verstärkten Wahrnehmung räumlicher Prozesse sowie auf der Komplexität basiert, Teil der Maschinerie und Arithmetik der Stadt zu werden. Der Film rückte die Bewegung der Stadt in den Mittelpunkt, nicht zuletzt durch die einleitende, sinnbildliche Art, sich der Stadt zu nähern – durch die Zugfahrt. Die Reise mit dem Zug in die Stadt und durch die Stadt.

Der beinahe zeitgenössisch anmutende Film Menschen am Sonntag (Regie: Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer) von 1929 verhält sich ganz anders zur Stadt als Lebensmilieu und Erlebnis. Menschen am Sonntag ist ein Film, der vor allem den Menschen näherkommen, ihre Beziehungen untereinander darstellen will. Die halbdokumentarische Schilderung junger Leute in Berlin, ihre Begegnungen und Ausflüge an einem sommerlichen Sonntag, knüpfte an die Neue Sachlichkeit an, die in anderen Kunstgattungen bereits ihren Durchbruch erlangt hatte. Als Zustandsschilderung einer zeitgenössischen Generation trägt der Film außerdem deutliche Züge einer Sozialreportage, ein wiederkehrendes charakteristisches Merkmal auch für spätere Berlinfilme wie Prinzessinnenbad (Regie: Bettina Blümner) von 2006.

Während es bei den amerikanischen Großstadtschilderungen innerhalb der Filmkunst eine klare Hinwendung zu grandiosen Dystopien gegeben hat, haben die Berlinfilme eher innegehalten und ihren Fokus auf tatsächliche Risse, auf das Brüchige und Zusammenhangslose der Großstadt, sowohl als Ausdruck von Verzweiflung wie auch als Möglichkeit zur Befreiung, gerichtet. Hier kann man einige der bedeutendsten Großstadtfilme der Nachkriegszeit – z.B. Die Legende von Paul und Paula (Regie: Heiner Carow) von 1973 wiederfinden – der zwischen Burleske und Sozialrealismus, zwischen grenzenlosen Träumen und kleinbürgerlichem Mief pendelt und wie eine kongeniale Diagnose über den Zustand Ostberlins in der geteilten Stadt anmutet.

Wim Wenders Der Himmel über Berlin (Regie: Wim Wenders) nimmt vielleicht innerhalb des von Zerrissenheit und Zusammenhangslosigkeit geprägten Berlinfilmgenres die bedeutendste Position ein. Figuren, die zwischen Lethargie und Ausgelassenheit schwanken und denen die Stadt Teile ihrer wiedererkennbaren Menschlichkeit genommen hat. Manche von ihnen sind zeitweise Engel, zu Besuch, mit Flügeln als Pfand. Eine Stadt auf dem Nullpunkt: das wesentliche Vertrauen dafür, dass Dinge zusammengehören können, muss erst wieder aufgebaut, geschickte Bewegungen, Maskeraden und Rollen erneut eingeübt werden. Wenders hat über das Verhältnis von Stadt und Film geschrieben, dass die Materialität der Stadt helfen kann, „durch die Zeit hindurchzublicken“. In Der Himmel über Berlin ist die Zeit stehengeblieben, kaum erkennbar zwischen bröckelnden Fassaden und Brachland. Der Himmel über Berlin wird nie aufhören, dem Zuschauer visuell den Atem zu rauben. Weil diese Stadt einst tatsächlich existierte und der Film übriggeblieben ist, können wir durch die Zeit und die Scherben der jüngsten Vergangenheit hindurchblicken.

In den 90er Jahren begann die Gegenwart die Darstellungen von Berlin zu prägen. Ein Baugerüstgenre etablierte sich mit deutlichen Metaphern darüber, was es heißt, eine Stadt zu bauen, sich selbst aufzubauen, sich ein Umfeld zu schaffen und der zu werden, der man sein möchte.

Auf Das Leben ist eine Baustelle (Regie: Wolfgang Becker) von 1997 folgte im Jahr darauf die etwas aggressivere Stadtfiktion Lola rennt (Regie: Tom Tykwer). Hier wurde der Berliner Stadtraum hyperbolisch ausgedehnt. Die Stadt bekam einen neuen Anstrich, wurde zu einer zwingenden Handlungskulisse zusammengefügt. Und hier, kurz vor der Jahrtausendwende, ändert sich die blauäugige Schilderung von Berlin und ein Normalitätsdiskurs bricht mit rasantem Tempo herein. Was tun, wenn’s brennt? (Regie: Gregor Schnitzler) von 2001 schilderte eine Gruppe früherer Autonome in Kreuzberg, die mit ihrem kleinbürgerlichen Leben und Bedürfnissen konfrontiert werden. In anderen Filmen bildete Berlin einen verräterischen und gefährlichen Rahmen – ein Paradise Lost – wo derselbe Klassenhass, dieselbe Ausbeutung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit wie in anderen Städten herrschten. Nur dass Berlin Offenheit und dunkle Sexyness zur Schau stellte  – wie in Die fetten Jahre sind vorbei (Regie: Hans Weingartner, 2004) oder Die Stadt als Beute (Regie: Miriam Dehne, Esther Gronenborn und Irene von Alberti, 2005).

Eine flexible Frau (Regie: Tatjana Turanskyj) von 2011 knüpft an diese urbankritische Filmfamilie an – mit plumpem Humor und Körperlichkeit. Die Hauptfigur Greta ist um die Vierzig und hat einen zwölfjährigen Sohn. Sie ist Architektin, jedoch arbeitslos. Um sich ernähren zu können, muss Greta in diesem „New Berlin“, das in Gestalt von townhouses und gated communities und 1-Euro-Jobs daherkommt, andere Seiten an sich entwickeln. Sie versucht, sich anzupassen, Geld zu verdienen, herauszufinden, was sie gut kann und worin ihre Berufung liegt (außer in dem manchmal äußerst schwierigen Muttersein).

Der Film mutet wie ein langer Kommentar zur Kehrseite der urbanen, unverbindlichen Ökonomie an, mit dem besonderen Fokus auf Frauen und (Mangel an sinnvoller) Arbeit. Er ist von schockierender, ungestümer Verzweiflung geprägt. Die Männer sind lauter Statisten; labile Pappfiguren, die nie in dieselbe Klemme zu geraten scheinen wie die Frauen, sondern stattdessen die richtigen Posen suchen und finden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es gibt wiederkehrende Szenen mit Männern mittleren Alters, die tanzen, ins Nirgendwo. Auf einem offenen Feld versuchen zwei von Gretas unzuverlässigen Freunden, ihr die Bewegungen des Leids und des Pathos‘ beizubringen. Tanzen als plötzlicher Ausbruch von Weltfremdheit ist eine starke filmische Idee. Es ist, als hätten jahrzehntelange Klubbesuche und nächtliche Tanzorgien im ewigen Aquariumlicht die Kommunikationsformen dieser 40plus-er geprägt. Der Tanz macht sie unglaublich präsent und hoffnungslos zugleich.

Eine flexible Frau schwelgt in der Halbfertigkeit des großen Stadtraumes, im Brachland zwischen stillgelegten Industrieanlagen. Berlin, der Alternativismus der Stadt und das Vagabundentum haben Greta deformiert, sie ist eigensinnig und persönlich, aber gleichzeitig zu dünnhäutig und authentisch für die Stadtnorm, der sie sich anpassen muss.

Sommer vorm Balkon (Regie: Andreas Dresen, 2005) stellt ebenfalls Frauen ins Zentrum, zwei Freundinnen, Nike und Inke, mädchenhaft, jedoch nicht mehr ganz jung, die, was Beruf und Familie betrifft, beide ihr Päckchen zu tragen haben. Nike arbeitet als Altenpflegerin; sie wechselt alten Leuten die Windeln, füttert sie und erzählt ihnen Märchen. Inke ist arbeitslos. Sie besucht nutzlose Kurse für Arbeitssuchende und verfällt abends zunehmend dem Alkohol.

In einer einleitenden Szene radelt Nike durch den Prenzlauer Berg, der wie sommerliche Reflexe einer Stadt der Möglichkeiten flimmert; dazwischen Geschlossenheit, Vielfalt und alle möglichen Geheimnisse.
Die Palette des Ostberliner Flairs reicht von offenen Fenstern hinter Florgardinen in den Plattenbau-Siedlungen über Akkordeons bis hin zu verkommenen Hinterhöfen und schmutziger Bettwäsche. Im Film wird eine Geborgenheit projiziert, die eigentlich ein Stadtmilieu zeigt, wie es vor geraumer Zeit aussah, wie um die Leute zu schützen, die sich wiedererkennen, sich vielleicht mit dem Leben, das der Film schildert, identifizieren werden.

Die beiden Freundinnen leben in einer Stadt, die sich kaum verändert hat. Man joggt am Samstagmorgen über die große Brücke. Die Häuser sind riesig. Die Fassaden sind abgeblättert und lädiert. Dem Traum tut das keinen Abbruch, er wird sich dennoch nicht erfüllen. Am schönsten Abend umweht ein Hauch von Trauer den Balkon, in der Sommerwärme und der schützenden Dunkelheit. Wenn der Geliebte auf Armeslänge herangerückt und immer näher kommt, die Einsamkeit jedoch den ganzen Platz einnimmt.
Der Film ist bemüht zu zeigen, dass die Gemeinschaft nicht zerbricht, wie so vieles rundherum. Das verleiht dem Film etwas Altmodisches, aber auch Zwiespältiges. Das ist unbeholfen, jedoch angenehm. “A woman’s place is in the city”, schrieb Gerda Wekerle in einer klassischen feministischen Stadt-Studie von 1979. Dennoch bleibt offen, ob Nike und Inke an ihrer Freundschaft festhalten werden, wenn der Abend dunkel über den Balkon hereinbricht, oder ob sie sich dort draußen verschanzt haben, mit Vertraulichkeit und Intimität als Schutz vor einer Stadt, die sich schnell bis zur Unkenntlichkeit verkleidet und bald Unmögliches von ihnen fordern wird.