Interview: Nadja Weiss
„Wenn wir nicht fragen, geht die Welt verloren“

Nadja Weiss im Orionteatern
Foto: Markus Huss

Diesen Herbst bringt das Orion-Theater in Stockholm eine Inszenierung von Peter Weiss’ Theaterstück Die Ermittlung in Regie von Nadja Weiss auf die Bühne. Markus Huss hat die Regisseurin getroffen und ihre Herangehensweise an das Stück mit ihr diskutiert.

Die Ermittlung von Peter Weiss wurde am 19. Oktober 1965 an nicht weniger als 14 Bühnen in Ost- und Westdeutschland uraufgeführt. Im Jahr darauf spielte das schwedische Nationaltheater Dramaten eine Inszenierung von Ingmar Bergman, mit einem Bühnenbild von Gunilla Palmstierna-Weiss. Das Stück basiert auf dem ersten Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965, bei dem sich 22 Angeklagte wegen Täter- und Mittäterschaft an den in Auschwitz begangenen Verbrechen zu verantworten hatten. Mehr als eine Million Menschen – die meisten von ihnen Juden – waren in Auschwitz ermordet worden. Die Ring-Uraufführung der Ermittlung war ein für die damalige Zeit außergewöhnliches Medienereignis und löste vor allem in Westdeutschland eine heftige Debatte aus. Man stritt um die Auseinandersetzung der deutschen Bevölkerung mit dem Holocaust und auch um die Frage, ob es angemessen war, Auschwitz auf dem Theater zu verhandeln.
 
Etwas mehr als 50 Jahre später, rechtzeitig zum 100. Jubiläum der Geburt des Verfassers, wagt sich Nadja Weiss – Regisseurin, Schauspielerin und Tochter von Peter Weiss –  am Orion-Theater in Stockholm (in Zusammenarbeit mit Dramaten) an eine Neuinszenierung.
 
Als ich mich Anfang des Sommers mit Nadja Weiss im rustikalen Ambiente des Orion-Theaters zu einem Gespräch treffe, ist sie gerade von einer Reise nach Polen zurückgekehrt: zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie die Gedenkstätte Auschwitz besucht.
 
Für mich war es sehr wichtig, Auschwitz zu sehen, gerade vor Probenbeginn, auch wenn ich vor der Reise fast das Gefühl hatte, ich sei schon einmal dort gewesen, so viel, wie ich davon gelesen und mich in letzter Zeit damit beschäftigt habe. Es war ein schwindelerregendes Gefühl, dorthin zu fahren, ich war nervös, wie es mir damit gehen würde:  Bilder knipsende Familien mit Kindern und verliebte Paare, die an den Baracken und Krematorien vorbeischlendern. Als ich dann dort war, musste ich viel an die Gerüche und Geräusche von damals denken, an so einem warmen Sommertag muss es ganz anders gerochen haben, nach Schweiß, Blut und Exkrementen, nach dem Rauch. Aber die Luft roch gut nach frisch gemähtem Gras, und als ich aufschaute, sah ich einen zwitschernden Vogel. Der Kontrast zwischen dem Inferno, das hier gewütet hat, und der Natur, die einfach nur ist, dauert an. Ich musste auch an die Stille denken, trotz der vielen Menschen und Gruppen von Besuchern war da diese Stille. Auch wenn ich Die Ermittlung lese, kann ich die Stille deutlich spüren. Aus Zeugenberichten wissen wir, wie im Lager gesprochen wurde, ganz leise, fast ohne die Lippen zu bewegen. Über diesem Ort muss eine ganz eigenartige Stille gelegen haben, anders als die, die man heute erlebt.
 
Hat diese Erfahrung etwas daran geändert, wie Sie das Stück gestalten wollen?
 
Die Reise hat mich in meiner Vorstellung, wie ich Die Ermittlung inszenieren will, nur bestärkt. Es war so greifbar, wie um das Grauen herum das Leben einfach weitergeht. Und heute, mit all den fürchterlichen Sachen, die in der Welt passieren, ist es genauso, das Leben geht ungerührt weiter.

Das Erlebnis, wenn Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen, lässt sich nur schwer in Worte fassen, darum arbeite ich lieber mit Klang, Musik und Bildern, anstatt das Stück umzuschreiben oder an die heutige Sprache anzupassen. Die Zeugenberichte im Stück stammen von Menschen, die tatsächlich dabei waren, ihre Worte haben Gewicht. Zu beschreiben versuchen, wie es damals war, steht uns anderen nicht zu. Aber wir können ein Gespür vermitteln für die Ereignisse danach und was damit zusammenhängt, wie wir damit umgehen.
 
Warum haben Sie sich entschieden, gerade dieses Stück zu inszenieren?
 
Mir ist klar geworden, dass so vieles von dem, was in Auschwitz geschehen ist, noch unbekannt ist und erzählt werden muss, auch wenn viele meinen, sie wüssten bereits alles. So viele verschiedene Gruppen von Menschen sind ermordet worden, und das Lager war nicht immer gleich, es gab mehrere Phasen. Das muss wieder und wieder gesagt werden, in den Schulen und an den Universitäten. Was die Zeugen und die Angeklagten in der Ermittlung zu erzählen haben, darf nie in Vergessenheit geraten, die Leugnungsversuche der Angeklagten und das Zeugnis der Opfer.
 
Es gibt kaum Ungeheuerlicheres in der Menschheitsgeschichte als Auschwitz, und dennoch kann man Vergleiche zu anderen Ungeheuerlichkeiten ziehen, die sich seitdem ereignet haben oder auch heute geschehen. Wie verarbeiten Menschen solche Extremsituationen, rein psychologisch? Das Stück hat etwas dazu zu sagen, gerade weil es ohne Psychologisierungen arbeitet und so schonungslos direkt ist. Man schlägt die Zeitung auf und sieht einen jungen Kerl mit einem Knüppel auf einen Vater einprügeln, der auf der Flucht ist, mit seinem Sohn auf dem Arm. Wie kann so etwas sein? Warum kämpft der Mensch um sein Leben, obwohl das Leben die Hölle ist? Das Stück gibt darauf keine Antwort, aber wir dürfen nicht aufhören zu fragen. Wenn wir nicht fragen, geht die Welt verloren.
 
Die Ermittlung handelt, so wie ich das Stück verstehe, davon, wie wir heute mit vergangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit umgehen sollen, aber vielleicht vor allem auch davon, wie wir uns der Verantwortung für Unterdrückung und Verfolgung in einer Welt stellen, in der so viel massive Gewalt herrscht und Millionen von Menschen auf der Flucht sind. Wie denken Sie über Vergleiche zwischen Auschwitz und der Gegenwart? Sehen Sie eine Gefahr darin, Parallelen zwischen den Konzentrationslagern und dem heutigen Geschehen zu ziehen? Es wird manchmal vor einer Relativierung des Holocaust gewarnt, vor der Verharmlosung eines historisch einzigartigen Verbrechens.
 
Natürlich muss man mit Vergleichen vorsichtig sein. Wir stehen bei den Proben für das Stück noch am Anfang. Ich will keine überdeutlichen Parallelen zu heutigen Verhältnissen ziehen, aber unsere Gegenwart soll spürbar hineinragen. Das ist ja im Stück selbst angelegt, weil das Publikum zu dem, was es auf der Bühne hört und sieht, Stellung beziehen muss. Die Stärke des Stücks liegt genau darin, dass es dem Zuschauer keine Deutung aufzwingt.
 
Ihre Inszenierung unterscheidet sich deutlich von der Dramaten-Premiere im Jahr 1966. Das Raumkonzept ist völlig neu, Publikum und Schauspieler sind anders platziert. Außerdem beziehen Sie eine Musikerin und einen Tonkünstler mit ein und arbeiten mit Projektionen. Was hat sie zur Wahl dieser Ausdrucksmittel veranlasst?
 
Ja, wir verwenden viel Mühe auf die Klänge und Bilder. Die Violinistin Anna Lindal ist eine der „Stimmen“ des Stücks. Die Geige kann von strahlender Schönheit über Unbehagen bis zur blanken Angst alles ausdrücken. Der Komponist Philippe Boix-Vives bearbeitet den Ton, um besondere Effekte zu erzielen. Für die Bildprojektion steht der Videokünstler Emil Klang. Aber ich will nicht zu viel von dem verraten, was unsere Theaterbesucher erwartet. Jedenfalls wird es um den Text herum eine ganze Welt geben.
 
Wie kommt es, dass Klänge und Musik eine so große Rolle in Ihrer Inszenierung spielen?
 
Ich will es mal so ausdrücken: Man kann Stille einfach als Stille wahrnehmen, aber ich finde, auch als eine Form von Klang – die Stille ist nie völlig still. Das ist mir beim Besuch der Gedenkstätte in Auschwitz noch einmal sehr deutlich geworden. Im Lager hat man jeden Tag jemanden schreien gehört, es wurde alltäglich, man hat es ausgeblendet. Mir schwebt ein enges Zusammenspiel zwischen der Geigerin und den Schauspielern vor, unter Einbezug des Komponisten. Der Text des Stücks ist stark rhythmisiert, das ist wichtig, damit will ich weiterarbeiten, unter anderem in den Chorpartien. Ich kann noch nicht genau sagen, wie wir das umsetzen, das wird sich im Lauf der Probenarbeit ergeben. Ob es uns gelungen ist oder nicht, entscheidet letztlich das Publikum,
 
Haben Sie eine Vorstellung, einen Wunsch, was das Publikum von Ihrer Inszenierung mit nach Hause nimmt?
 
Vielleicht, dass der eine oder andere etwas Neues dazulernt, aber ohne dass es eine Geschichtsstunde wird, das liegt mir völlig fern. Das Stück soll, auch wenn das jetzt seltsam klingt, ein Erlebnis sein. Dabei wird es bestimmt Stellen geben, die nur schwer zu ertragen sind. Man soll, wenn man diesen Saal verlässt, nicht mehr ganz derselbe sein.