Sprache und Grenzen
Die Schlaflosigkeit der Emigranten

Berlin
Berlin (Ausschnitt) Foto: Goethe-Institut/Bernhard Ludewig

Im Werk von Peter Weiss spielt das Flüchtlings- und Emigrantendasein eine zentrale Rolle. Von den intellektuellen Kreisen in den europäischen Metropolen des Exils gingen radikale Ideen und neue Impulse für die Kunst der Zeit aus. Der Schriftsteller Maxim Grigoriev macht sich in Berlin, das in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts auch »Moskau an der Spree« genannt wurde, auf die Suche nach Spuren russischer Exilschriftsteller.

Berliner Winter können mild sein, mit wenig Schnee. Unter den kahlen Platanen und Ahornbäumen lugen braune Grasflecken hervor. Aus einigen Schornsteinen steigt Rauch aus Kohleöfen auf, zwischen den Häusern hängt der Geruch von Kohle in der Luft.
 
Auch der Winter 1922–23 war mild, es hatte kaum geschneit. In diesem Jahr hielten sich rund 100 000 Russen in der Stadt auf. Die meisten von ihnen in der Hoffnung, bald in ihre Heimat zurückzukehren. Wohl fühlte sich von ihnen in dieser Stadt kaum einer. Sie schliefen unruhig.
 
Unter den entwurzelten Flüchtlingen, die mit einem Schlag alles verloren hatten, waren Dichter und Schriftsteller, deren Namen später synonym mit „“
„Russischer Literatur“ werden sollten. Anfang der 20er Jahre lebten in Berlin für jeweils kurze oder längere Zeit Nabokov, Chodassewitsch, Bely, Pasternak, Schklowski, Zwetajewa, Berberowa, Remisow, Aldanow, Alexei Tolstoi, Gorki und viele andere. Auch Majakowski und Jessenin machten in Berlin Station.
 
Die Russen mieteten sich in Pensionen in Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg ein. Sie gründeten Klubs, Vereine und eine Vielzahl von Verlagen, sie bevölkerten die Cafés am Prager Platz. Charlottenburg bekam den Spitznamen Charlottengrad und Berlin selbst scherzhafte Beinamen wie "Moskau an der Spree" und "Dritte Hauptstadt Russlands". Auf einem Schild in einem der vielen russischen Lebensmittelgeschäfte soll gestanden haben: "Man spricht auch deutsch". Aber schon in den Jahren 1923 und 1924 zogen viele Emigranten weiter, nach Paris, Prag oder zurück nach Russland.
 
Selten wirkt ein in die Wand geritztes Hakenkreuz so unbehaglich wie frühmorgens in einem dunklen, anonymen Hauseingang in einem der Randgebiete von Prenzlauer Berg, wenn man auf die verlassen daliegende Straße tritt. Dagegen gehört es zum ewigen Schicksal der Flüchtlinge, dass ihre Geschichte ausgelöscht wird: sie kommen und gehen, passen sich an oder ziehen weiter. All die großen Denkmäler in der Stadt stehen der Erinnerung eigentlich nur im Weg. Sucht man aber zu Fuß die Adressen auf, die man in den Tagebüchern, Briefen und Memoiren jener unglücklichen russischen Emigranten findet, wird man kaum fündig. Hier und da eine vereinzelte Gedenkplakette, das ist alles. Die Gebäude um den Prager Platz, dem ehemaligen Herz des russischen Berlin, wurden im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt. Auch sonst ist nicht viel geblieben.
 
Dabei gibt es nach wie vor viel russisches Leben in Berlin. Da sind zum Beispiel die Russlanddeutschen, von denen nicht wenige ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer Identität haben. Einen anderen großen Teil machen die russischen Juden aus. Man kann die Wochenzeitungen Berlinskaja Gazeta und Russkij Berlin lesen, Pelmeni und Smetana kaufen und russische Konzerte und Veranstaltungen besuchen.
 
Anfang der 20er Jahre lebten so viele Russen in Berlin, dass Viktor Schklowski treffend schrieb: „... wir leben zuhauf unter den Deutschen, wie ein See inmitten seiner Ufer.“ Schklowski wohnte im Winter 1922–23 im Pensionat Marzahn in Schöneberg und hielt sich mit schriftstellerischen Arbeiten über Wasser. Seine Angewohnheit, nachts zu arbeiten und dabei zu singen, stieß bei der Inhaberin der Pension auf wenig Gegenliebe. Worauf er das Singen kurzerhand auf die Straße verlegte. Seine lesenswerten Erinnerungen – aus heutiger Sicht ein autofiktionaler Roman – über Berlin, die russische Literaturszene der Hauptstadt und seine Liebe zu Elsa Triolet tragen den Titel Zoo oder Briefe nicht über die Liebe. Das Buch besteht aus Briefen an eine gewisse Alia, die im fernen Kreuzberg lebt – für Berliner Exilrussen ganz weit ab vom Schuss. Als trennendes Hindernis zwischen den beiden liegt Gleisdreieck mit seinem Gewirr von Schienen. Auf dem langen Weg von Schöneberg nach Kreuzberg muss das Ich der Briefe nicht über die Liebe vorbei an den schmuddeligen Ziegelmauern der Passage unter den Yorckbrücken.
 
Für Schklowski sahen die Häuser in Berlin alle gleich aus, wie Koffer. Die Straßenbahnen fuhren überallhin, aber wer hatte schon Lust, einen Ausflug zu machen. 1925 veröffentlichte Vladimir Nabokov unter dem Pseudonym Sirin eine Kurzgeschichte mit dem Titel Putevoditel’ po Berlinu (A guide to Berlin) in der russischsprachigen Tageszeitung Rul. Ein Emigrant erzählt seinem Trinkgenossen in einer Berliner Kneipe, was es in der Stadt alles zu sehen gibt: Rohre, die neben der Straße gestapelt liegen, Straßenbahnen, Bauarbeiten, der Zoologische Garten und schließlich die Bierkneipe, in der die beiden ihr Gespräch führen.
 
Bei einem Nabokov-Abend im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur erlebte ich, wie eine Formalistin alter Schule mit höhnisch-ironischer Stimme aus der Erzählung vorlas. Sie wollte mit diesem Ton verdeutlichen, wie sehr Nabokov auf die Stadt herabgesehen hatte. Ich lese Berlin – ein Stadtführer eher als eine der wenigen russischen Liebeserklärungen an die Stadt: an die unansehnlichen Seiten Berlins, an denen der Blick sonst achtlos vorbeigeht, von keinem Touristen bestaunt. Die Nähe Nabokovs zum Formalismus zeigt sich just in diesem Sinn fürs Detail.
 
Im Herbst 1922, kurz nach der Ermordung seines Vaters bei einer Veranstaltung in der alten Philharmonie in Kreuzberg, zog Nabokov in die Pension Elisabeth Schmidt in Wilmersdorf. Ein schneearmer Winter erwartete ihn, dem fünfzehn weitere folgen sollten. Die Pfützen, in denen sich die Lichterketten des Funkturms spiegelten, die Kastanienbäume an der Ecke, die Reklameschilder, all das spielte in seiner Prosa eine mindestens ebenso große Rolle wie die Flüchtlinge, die er beschrieb. Die Pension in der Trautenaustraße wurde damals „Das russische Haus“ genannt. Auch Marina Zwetajewa hatte bis wenige Monate vor Nabokovs Einzug dort gewohnt.
 
Zwetajewas Aufenthalt in Berlin dauerte bloß zehn Wochen, aber man könnte meinen, sie habe Jahre in Berlin verbracht. Hier wurde sie nach jahrelanger Trennung wieder mit ihrem Mann vereint, hier verliebte sie sich in einen anderen, stellte drei Gedichtbände zusammen, schrieb an die dreißig Gedichte, eine Brief-Erzählung und mehrere Skizzen und Essays. Und in Berlin erreichte sie auch ein Brief mit dem Absender Boris Pasternak – der Beginn einer leidenschaftlichen Dreiecks-Korrespondenz zwischen ihm, Zwetajewa und Rilke, die sich über ingesamt vierzehn Jahre erstreckte.
 
Der junge Pasternak war in Berlin selbst sieben Monate lang unruhig die Charlottenburger Straßen auf und ab gegangen, während er die Vor- und Nachteile einer Rückkehr nach Moskau abwägte. Zwetajewa und er hatten sich um wenige Wochen verpasst und sollten sich erst später persönlich kennenlernen, unter noch zugespitzteren Verhältnissen.
 
Zwetajewa nannte Berlin in einem Gedicht die Stadt der Kasernen. Trotz ihrer Liebe für die deutsche Kultur schloss auch sie die graue, eintönige und einsame Metropole nie in ihr Herz.
 
Manchmal, wenn ihm der letzte Zug nach Zossen durchgegangen war und er einen Schlafplatz brauchte, bekam Zwetajewa Besuch von Andrej Bely. In Zossen waren alle Menschen schwarz gekleidet, fand er, und warfen keine Schatten. Der Vermieter seines Hauses in der Stubenrauchstraße 68 war passenderweise ein Friedhofswärter.
 
Bely hatte sich bei seiner Ankunft in Deutschland Unterstützung von der anthroposophischen Bewegung erhofft, stieß aber bloß auf ein munteres „Na, wie geht’s?“. Im Herbst 1922 zog er nach Berlin, wo er sich in Ausschweifungen stürzte. Er soff sich die Tauentzienstraße entlang, führte groteske Tänze auf und verliebte sich in eine deutsche Frau. Er jagte seinen Mitmenschen Angst ein. Männer verboten ihren Frauen den Umgang mit Bely. „Es war nicht so, dass er schlecht tanzte“, schrieb Chodassewitsch in seinen Memoiren,
„vielmehr hatte sein Tanzen etwas Furchterregendes ... er verwandelte den Tanz in eine unheimliche, ja zuweilen völlig unanständige Pantomime ... Es war mehr als nur der Tanz eines Betrunkenen: es war ... eine symbolische Herabwürdigung all dessen, was an Gutem in ihm steckte, eine Lästerung, eine teuflische Grimasse.
 
Gleichzeitig arbeitete Bely wie besessen. Genau wie Zwetajewa war er in seiner Berliner Zeit außergewöhnlich produktiv. Während seines Aufenthalts begann er auch eine Arbeit über Alexander Blok, die sich im Lauf der Zeit zu einem Erinnerungsbuch über den gesamten russischen Symbolismus auswuchs. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion schmähte Bely die ungemütliche Stadt, die ihm Zuflucht geboten hatte, in einem gehässigen Pamphlet mit dem Titel Im Reich der Schatten.
 
Vielleicht hat niemand das Verhältnis der Exilrussen zu dieser furchtbaren Stadt so gut zum Ausdruck gebracht wie Chodassewitsch. In dem Gedicht Alles aus Stein aus dem Jahr 1923 nannte er Berlin „die Stiefmutter der russischen Städte“. Auf irgendeine Weise ließ diese Stadt die russischen Emigranten an sich abprallen, und die Russen fanden ihrerseits nie so recht einen Zugang zu Berlin. Möglich, dass es von ihnen nur Nabokov gelungen ist, jene besondere Stimmung einzufangen. In dem neblig-grauen Dunkel der nächtlichen Straßen Berlins fühlt man sich bedeutender als anderswo: ein starkes Zuhausegefühl, aber ohne einen Funken Zugehörigkeit. Von den Straßenlampen fällt nur ein schwacher Schein auf die dunklen Fenster. All die Heimatlosen, die Berlin über die Jahre hinweg aufgenommen hat, haben die Stadt selbst heimatlos gemacht. Die Berliner Winter mögen mild sein, aber die Liebe der Stiefmutter ist streng.
 
Anmerkung: Eine frühere Fassung dieses Artikels erschien 2006 in der Zeitschrift Horisont.