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Schweden

Nachruf: Olof Modigh 1945-2021
„Ich bin kein Schwede, ich bin Mitteleuropäer“

Im Nachlass von Olof Modigh (1945-2021) wurden 39 Tagebücher und Notizbücher aus den Jahren 1991 bis 1994 und 2008 bis 2014 gefunden.
Im Nachlass von Olof Modigh (1945-2021) wurden 39 Tagebücher und Notizbücher aus den Jahren 1991 bis 1994 und 2008 bis 2014 gefunden. | © Goethe-Institut

Als Olof Modigh am 5. Juni 2021 starb, wurde sein gesamter Besitz testamentarisch dem Goethe-Institut in Stockholm vermacht. Wer war er? Johannes Tångeberg versucht sich einem Menschen zu nähern, den er persönlich nie getroffen hat.

Als Olof Modigh 1991 an einem warmen Frühlingstag aus dem Fenster seiner neuen Wohnung in Malmö blickt, schaut er auf eine Straße „voller Leben und Bewegung“, und ihm ist bewusst, dass in diesem Augenblick am Ende dieser Straße ein „Kurierauto aus Dänemark“ steht. Die Hauptstadt des südlichen Nachbarlands liegt um die Ecke, ebenso Mitteleuropa, Deutschland. Auf dem Stortorget kommen Reisebusse aus Sassnitz an, an Bord „Ostdeutsche, denen endlich die Welt offen steht“.

Und Olof empfindet ähnlich, „endlich öffnet sich die Welt nach all den Jahren, sogar für mich.“

Es ist eine Zeit des Aufbruchs für Olof, und eine Zeit des Umbruchs in der Welt. Der Ostblock ist zerbrochen und Deutschland wiedervereinigt. Schweden schlittert in eine Wirtschaftskrise. Gleichzeitig lernt Olof seinen neuen Wohnort kennen. Er ist 45 Jahre alt und gerade bei der Bank entlassen worden, für die er sein Leben lang gearbeitet hat. In Stockholm, wo er vorher gelebt hatte, hat er die Arbeitslosigkeit als zermürbend empfunden: „Man könnte meinen, der graue Arbeitsalltag sei einseitig, aber wenn einem nicht mal mehr das bleibt, fühlt es sich noch schlimmer an.“ Jetzt, nach dem Umzug nach Malmö, ist die Stimmung besser. Er hofft, dass er sich in Südschweden wohlfühlen wird, näher an Mitteleuropa. Vielleicht eine neue Karriere beginnen, ein neues Leben? Er habe sein Ziel erreicht, „wenn auch nicht das Ziel meiner Träume, dann doch zumindest das Ziel, das nunmehr realistisch ist“.

In dieser Situation begegne ich Olof Modigh zum ersten Mal: arbeitslos, vor einem Neuanfang, noch immer mit einer gewissen Zuversicht für die Zukunft.

Als er dreißig Jahre später stirbt, im Sommer 2021, stellt sich heraus, dass er seinen gesamten Besitz dem Goethe-Institut in Stockholm vermacht hat. Wieso? Wer war er?

Ein paar biografische Eckdaten, die sich leicht zusammentragen lassen, verraten recht wenig: Olof Ragnar Richard Modigh, geboren am 19. September 1945. Die Mutter, Karoline, kommt aus Österreich. Der Vater, Ragnar, ist Schwede. Zur Familie gehört noch die große Schwester Saga, geboren 1936.

Realschulabschluss. Anstellung bei der Götabanken. Unverheiratet. Keine Kinder.

Zu seinem Nachlass gehören 39 Notizbücher mit Tagebucheinträgen. Diese liegen der hier geschilderten Erzählung über Olof zum größten Teil zugrunde. Zudem sind ein paar alte Dokumente aus Österreich und Schweden erhalten, die einen Überblick über seinen Stammbaum sowie sein Bildungs- und Arbeitsleben geben.

Ist es möglich, eine tote Person kennenzulernen? Die Antwortet lautet Nein. Das Leben eines Menschen einzufangen, ein gerechtes Bild zu entwerfen, lässt sich beinah ebenso wenig bewerkstelligen. Nun gut. Da bin ich jetzt, mit einem Umzugskarton voller Tagebücher und Urkunden. Wer war Olof, und was hatte es mit Deutschland, der deutschen Sprache und Österreich auf sich, dass er seinen gesamten Besitz dem Goethe-Institut vermachte? Als ich vorsichtig die alten Dokumente aus Österreich öffne – manche so empfindlich, dass sie auseinanderfallen – und im ersten Tagebuch anfange zu lesen, wird meine Neugier geweckt.

Als Olof die dänischen Kurierautos und deutschen Reisebusse erahnt, kommt Fernweh in ihm auf. „Ich bin kein Schwede, ich bin Mitteleuropäer“, schreibt er 2008. Eine typische Formulierung. Während seiner dreißig Jahre in Malmö, und sicher auch schon früher, will er eigentlich woanders hin. Er sehnt sich weiter gen Süden.

Dies ist auch der Grund für den Umzug nach Malmö. Er hofft, dass hier seine Deutschkenntnisse auf dem Arbeitsmarkt stärker gefragt sind. Dass die ideale Endstation eigentlich noch weiter hinter Malmö liegt, ist ihm bereits während des Umzugs klar, und er schreibt, dass er lediglich beinahe das Ziel seiner Träume erreicht habe. Malmö macht sich gut, weil es von dort aus nicht weit bis nach Mitteleuropa ist. Aber es ist immer noch Schweden.

Das Leben beginnt auf der anderen Seite des Öresund. Olof genießt die Nähe zu Kopenhagen, wohin er oft fährt, manchmal jede Woche. Er lobt das gute Warenangebot in der dänischen Hauptstadt, schätzt die Atmosphäre, das Großstadtgefühl, den Menschenmassen zuschauen und Bier im Supermarkt kaufen zu können. In Kopenhagen kann er aufatmen. „Dies ist nicht Schweden“, stellt er „mit einem Seufzer der Erleichterung“ fest. „Dies ist die Rettungsleine hinaus zu etwas, das mir besser passt.“

Ohne Kopenhagen wäre das Leben in Malmö hoffnungslos langweilig. Aber gleichzeitig: ein Ort, „hinaus zu etwas, das mir besser passt“, eine Öffnung, ebenfalls keine Endstation. In Kopenhagen spaziert Olof durch Wohnviertel, die ihn an deutsche Städte erinnern, und die ihm weiter nördlich fehlen. Aber nicht mit Dänemark identifiziert er sich, sondern mit Mitteleuropa, vor allem mit dem deutschsprachigen Europa, zu dem er in seinen Tagebüchern immer wieder zurückkehrt und nach dem er sich unablässig sehnt.

„Deutsch ist die emotional wichtigste Sprache für mich“, stellt er fest. Die Verbundenheit war natürlich durch die Mutter gegeben. Trotzdem dauerte es eine Weile, ehe er sich der deutschen Sprache und Kultur öffnete und diese schließlich lieben lernte. Im Schweden der Nachkriegszeit als „Deutscher“ aufzuwachsen, war nicht einfach (dass seine Mutter aus Österreich und nicht Deutschland kam, spielte dabei keine Rolle). Die Bekehrung erfolgte als 15-Jähriger auf einer Reise nach Westdeutschland, wo er „Frieden fand“, wie er schreibt. Nach dieser Reise, und vor allem nach dem Besuch in Köln, konnte er sich vollkommen Deutschland sowie der deutschen Sprache und Kultur zuwenden. Zur „grenzlosen Freude“ seiner Mutter.

Anschließend folgten mehrere Reisen. 1964 in die DDR. Die Begegnung mit Ostdeutschland bezeichnete er im Nachhinein als schockierend, als er verstand, wie prekär die Menschen dort lebten, sogar in der Hauptstadt Berlin. Das Interesse für die DDR blieb bestehen, und er sollte zu diesem Land ein kompliziertes Verhältnis entwickeln, wie er es formulierte. Als die ostdeutschen Touristen endlich ausreisen dürfen und er ihnen in Malmö begegnet, ist das eine große Sache. Für die Unterdrückung in der DDR hat er kein Verständnis, hier lässt er keine mildernden Umstände gelten. Dennoch holt er jedes Jahr am Nationalfeiertag der DDR, dem 7. Oktober, einen kleinen DDR-Wimpel hervor.

1988 war er ein weiteres Mal in Köln. Als er sich später an die Reise erinnert, schreibt er, dass er dort „einen von wenigen total harmonischen Tagen“ in seinem Leben verbracht hat. In Berlin war er sowohl im Oktober 1989 als auch im Oktober 1990. Dramatische Jahre: der bevorstehende Zusammenbruch der DDR und ein Jahr später, die Wiedervereinigung.

Er zieht nach Malmö, um näher an Deutschland zu sein. Er liest die FAZ, während er schwedische Zeitungen links liegen lässt. Er versucht, auf den Straßen die deutsche Sprache aufzuschnappen und nähert sich, wenn er jemanden Deutsch sprechen hört. Am Kopenhagener Hauptbahnhof sieht er einen Zug mit deutschen und tschechischen Waggons, „was alles nur noch schlimmer machte“, einen Augenblick später steigt er in einen Bus und setzt sich absichtlich in die Nähe einer Frau, die Deutsch spricht, und noch dazu mit einem deutlichen Wiener Schmäh. „Das war beinahe zu viel für einen Tag“.

Zu Beginn seiner Zeit in Malmö bewirbt er sich für Jobs mit Deutschlandbezug, unter anderem eine Lübeck-Fähre, aber wird nirgends genommen. Stattdessen muss er sich intensiv mit dem Arbeitsamt auseinandersetzen. Es herrscht Rezession, „Totalstopp auf dem Arbeitsmarkt“. Der Kontakt mit dem Arbeitsamt gleicht einem schmerzhaften Kampf gegen die Bürokratie, der ihn nicht weiterbringt. Es wird von Weiterbildungen gesprochen, aber „die haben keinen Sinn, wie auch alles andere nicht“, schreibt er im Herbst 1993, obwohl er 1992 an einem „EG-Kurs“ teilnehmen durfte. Dieser mündet ebenso wenig in einen Job, dafür aber in eine Reise nach Luxemburg und Brüssel, wo er sich „zuhause in Europa“ fühlt. Anschließend belegt er weitere Kurse, unter anderem in internationaler Wirtschaft und Geschäftsdeutsch. Auch das führt zu keiner neuen Anstellung. Erst 1998–2001 und dann wieder 2002, arbeitet er bei „Schwedisch für Immigranten“, SFI. In dieser Zeit schreibt er kein Tagebuch, schaut aber später mit einer gewissen Genugtuung auf den SFI-Job zurück. In seinem Nachlass findet sich ein Zettel, auf dem seine 19 Kursteilnehmenden darum bitten, dass er bleibt: „Wir finden, dass er ein guter Lehrer für uns ist“. 2007 ist das Arbeitsleben endgültig vorbei, als Olof Erwerbsminderungsrente bezieht.
Olof Modigh (1945-2021) ist auf dem Galärvarvskyrkogården, Djurgården begraben. Olof Modigh (1945-2021) ist auf dem Galärvarvskyrkogården, Djurgården begraben. | © Goethe-Institut
Olof hat nie bereut, nach Malmö gezogen zu sein. Immer wieder beschreibt er, wie sehr er die Ausflüge nach Kopenhagen genossen hat. Aber das Leben hier ist dennoch mühselig für ihn. Er hat gesundheitliche Probleme, Beschwerden aufgrund von wiederkehrenden Wunden oder Ausschlägen, die er unter großem Zeitaufwand behandeln muss. Er findet nicht, dass man sich gut um ihn kümmert beziehungsweise dass das Gesundheitssystem in Schweden gut funktioniert. Seine Wohnung erleidet einen Wasserschaden, und er beschwert sich darüber, dass die Heizungen defekt seien. Auch kleine, für Außenstehende banale Rückschläge im Alltag, belasten ihn ständig, und treiben ihn nicht selten an den Rand der Verzweiflung. Er liest unglaublich viel und hört mindestens genauso viel Radio, am liebsten deutsche oder dänische Sender. Abgesehen von den Weiterbildungen, die Zeit bei SFI und die abschreckenden Konfrontationen mit dem Arbeitsamt, hat er wenig Kontakt zu anderen Menschen. Einige alte Freunde aus Stockholm melden sich gelegentlich, zeitweilig telefoniert er nahezu wöchentlich mit einem ehemaligen Kollegen aus der Bank. Verwandte aus Österreich schicken jedes Jahr eine Weihnachtskarte. Ab und an telefoniert er mit ihnen, aber Weihnachten sowie alle anderen Feste verbringt er alleine. Und zwar seit 1986, als seine Schwester im Alter von nur fünfzig Jahren stirbt.

Genauso groß wie das Fernweh, ist die Verachtung für Schweden. Ein kaltes und hartes Land, mit kalten und harten Menschen, schreibt er, und hat Angst, in diesem Land alt zu werden und auf Hilfe angewiesen zu sein.

Mir kommt Olofs „Mitteleuropa“ wie ein Traumbild vor, wo alles besser ist, verglichen mit Schweden, wo er so stark leidet. Vielleicht auf ähnliche Weise wie die zwanzig Jahre jüngere Frau, auf die er immer wieder in seinen Tagebüchern zu sprechen kommt, und die er einige Monate lang traf. Sie sei der strahlende Lichtpunkt in seinem Leben gewesen, sie habe „meine Würde gerettet und mir mein Leben zurückgegeben“, schreibt er – aber nimmt nie wieder Kontakt auf.

Gleichzeitig kommen mir meine Vermutungen anmaßend vor. Er sah, was er sah; erlebte, was er erlebte; und fühlte, was er fühlte. Deutschland, Österreich, Mitteleuropa und die jüngere Frau sind real, und Olof ist allen wahrhaftig begegnet und erlebte diese Begegnungen als wertvoll.

Ich kann mich mit seiner Sehnsucht identifizieren. Wir haben einen ähnlichen Hintergrund, Olof und ich, als Schweden (oder zumindest wohnhaft in Schweden, Olof sah sich selbst ja nicht als Schwede) mit einer deutschsprachigen Mutter, mit Interesse für die deutsche Sprache und Kultur, und dem Gefühl, in dieser zuhause zu sein.

Ich hätte dich gern kennengelernt, Olof. Ich glaube, wir hätten uns viel zu sagen gehabt. Wir hätten Reisepläne schmieden können, uns eventuell sogar in diesen Zug in Kopenhagen setzen können … ich hätte dich gerüttelt und dich dazu gebracht, dich endlich auf den Weg zu machen!

Aber mir ist bewusst, dass es unmöglich ist, und gewesen wäre. Nicht nur aufgrund der offensichtlichen Tatsache, dass ich erst nach Olofs Tod von seiner Existenz erfahren habe, sondern auch, weil er – zumindest während der letzten zwanzig Jahre seines Lebens – nicht fähig gewesen zu sein schien, weiter als bis nach Kopenhagen zu fahren.

Zu Beginn der 1990er Jahre reiste er noch recht ausgiebig. Ein Tagesausflug nach Sassnitz. Die Reise mit dem EG-Kurs nach Brüssel. Mit den anderen Kursteilnehmenden nach Rostock 1993. Nach Berlin 1995. Sogar eine größere Rundreise von Deutschland über Prag bis nach Wien, wo er seine österreichischen Verwandten besuchte. Dort fühlte er sich wohl und blühte auf. Aber dann, Anfang der 2000er Jahre, wurde sogar eine Reise zum Freund in Stockholm übermächtig, musste aufgeschoben, im letzten Augenblick abgebrochen und schließlich ganz abgesagt werden.

Die Sehnsucht blieb, trotz allem, manifestiert durch regelmäßige Besuche in Kopenhagen; deshalb wurde die Begegnung mit den deutschen Waggons und der Frau mit dem Wiener Schmäh „beinahe zu viel“. Die Welt lag dort draußen, aber für Olof öffnete sie sich nicht ganz so weit, wie er wohl an jenem Frühlingstag 1991 gehofft hatte, als er gerade nach Malmö gezogen war. Vielleicht kam er gerade so weit, „wie es nunmehr für mich realistisch möglich ist“.

Ich habe Olof nie getroffen, ich habe kaum eine Vorstellung davon, wie er ausgesehen hat. Das einzige Foto von ihm, das ich gefunden habe, ist das auf seinem 2011 abgelaufenen Personalausweis. Ich weiß nicht, wie seine Wohnung eingerichtet war. Aber hinsichtlich seiner ausführlichen Tagebuchschilderungen über seine Lesegewohnheiten, muss diese bis unter die Decke mit Büchern gefüllt gewesen sein. Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn da sitzen, allein, über ein Buch gebeugt, oder einer deutschen Radiosendung lauschend. Vielleicht trinkt er ein Bier, das er in Kopenhagen gekauft hat, und denkt an harmonische Tage in Köln oder umwälzende Zeiten in Berlin, an die lieben Verwandten in Österreich, an Mutter und Vater, und an Schwester Saga. Und in dieser Vision ist er, auch wenn ich nie die Gelegenheit hatte, ihn im wirklichen Leben kennenzulernen, in heller Erinnerung bewahrt.
 

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