Patrick Hahn
„Davor“ war einmal. Post-Pandemie in den Performing Arts

Post-Pandemie in den Performing Arts
© Goethe-Institut

Im November 2020 eröffnete der österreichische Philosoph Armen Avanessian eine Tagung über das „Post-Pandemische Theater“ mit der Differenzierung, dass es ein «Nach-der-Pandemie» nicht so leicht geben würde. «Dieses ‹Danach› wird nie mehr sein wie vorher. [...] Postpandemisch meint, dass das Pandemische uns bis aufs Weitere begleiten wird.» Patrick Hahn besucht deutsche Zuschauerräume und blättert durch Saisonbroschüren und denkt in seinem Essay über die Folgen der Pandemie für den Kulturbetrieb nach.
 

Mit einem Tweet brachte der von Publikum wie Presse gefeierte Regisseur Christopher Rüping kürzlich zum Ausdruck, was viele Kulturschaffende in Deutschland derzeit bewegt. Er postete den Saalplan seiner bevorstehenden Premiere mit dem Hashtag #Publikumsschwund. „Bricht mir das Herz.“[1] Ein Blick in die Zuschauerräume von Theatern und Konzerthäusern scheint derzeit all jenen Recht zu geben, die bereits seit langem warnen, dass ein Ende von Maskenpflicht und Testnachweisen noch lange keine Rückkehr zu einer „Normalität“ bedeuten würde, mit Abonnenten die zahlreich die Sitzreihen im Vorhinein füllen und erlebnishungrigen Einzelkartenkäufern, die sich um die Restkarten an der Abendkasse reißen.

Zwei Jahre des Musizierens, Spielens und Veranstaltens unter den Bedingungen des Virus haben Spuren hinterlassen – nicht nur bei den Institutionen, sondern auch beim Publikum. Es zögert noch, zurückzukehren. Dabei haben viele Institutionen und Künstler alles gegeben, um den Kontakt zum Publikum zu halten. Sie „verströmten“ sich und ihre Kunst den widrigen Umständen zum Trotz in den sozialen Netzwerken, sie luden zum Twitter-Konzert ins heimische Wohnzimmer, vereinten sich zu virtuellen, auf dem Split-Screen vereinten Orchester, statt mit den Füßen ließen sich die Ausstellungen mit dem Mauszeiger durchwandern. In einer Mischung aus Abenteuerlust, Improvisationsgabe, Experimentierfreude, Selbstvergewisserung und, gelegentlich, auch nackter Verzweiflung entdeckten Theater, Orchester, Konzerthäuser und Museen ihre neue Bühne im Netz: «Ich streame, also bin ich noch.» Ganze Festivals, ob das ECLAT-Festival Neue Musik Stuttgart oder das Berliner Theatertreffen, zogen ins Internet um. Unterstützt von Online-Tools wie wonder.me wurden gar Online-Begegnungen im Foyer virtuell wieder möglich: Ungreifbare Surrogate für «atavistische Stammesrituale der Nahgesellschaft», wie Peter Weibel es nannte. Untergangstrunken prophezeite der Medientheoretiker und -künstler schon vor zwei Jahren, «dass die gigantischen Stadien und Opernhäuser die Pharaonengräber der Zukunft sind. Übersteigerte bizarre Architektur-Signaturen, bereits geschaffen im Bewusstsein des Todes der Unterhaltungsformen der Nahgesellschaft, werden sich in Kürze als überflüssig erweisen.»

Inzwischen scheint die erste Corona-Lektion, dass jede Kulturinstitution in postpandemischen Zeiten auch ein Medienhaus sein müsse, bereits in Vergessenheit zu geraten. Von der Zeitenwende, von der viel die Rede war, ist in den Saisonprogrammen der Theater, Orchester und Konzerthäuser wenig zu entdecken. Schlägt man die Vorankündigungen auf, die dem durch Absagen, Änderungen und Ausfälle gebeutelten Publikum wieder Lust auf Abonnements machen wollen, schlägt einem eine Sehnsucht nach „alter Normalität“ entgegen, die man sonst gerne den Zuschauern nachsagt: Es wird programmiert, als hätte es Covid nicht gegeben.

Nachdem der öffentliche Nahverkehr in Deutschland gegenwärtig durch die (zeitlich begrenzte) Einführung eines Neun-Euro-Tickets einen Popularitätsschub erfährt, schlägt das Gratismusikmagazin Concerti bereits ein Neun-Euro-Ticket für Kultur vor, um die Säle zu füllen, was der Deutsche Musikrat als „einen zukunftsweisenden Impuls für ein lebendiges Musikleben“ lobt. Solche Vorschläge mögen die Entscheidung für ein Kulturangebot unter finanziellen Aspekten vereinfachen. Doch kann das genügen, um das Publikum vom Angebot der Kulturinstitutionen zu überzeugen?

Konservative Geister wie der Journalist Simon Strauss wähnen bereits die Todesstunde einer ganzen Epoche schlagen, diesmal nicht ausgelöst durch die Kulturschaffenden selbst, sondern durch die Abstimmung des Publikums mit den Füßen. „Die vor gut zwanzig Jahren ausgerufene Epoche der Postdramatik könnte diesmal nicht von Kritikern, Dramaturginnen oder Theaterwissenschaftlern, also nicht vom Betrieb selbst, sondern vom Publikum beendet werden“, mutmaßt er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Wer die Konsequenz aus den Monaten mit Netflix und Pizza in einer Anpassung an die Ästhetik der Streamingdienste ausmacht, verkennt möglicherweise die eigentliche Lektion, die Covid gelehrt hat. Es wird auch in Zukunft nicht darauf ankommen, ob das Gezeigte möglichst „divers und digital“ oder besonders „psychologisch und konventionell“ ist. Sondern darauf, ob es ein Angebot formuliert, das so einzigartig ist, dass es durch nichts anderes ersetzt werden kann.

Dass erst eine Pandemie und nun ein Krieg die Welt in Ausnahmezustand versetzt hat, darf die Kulturinstitutionen nicht dazu verleiten, die Ausnahmezustände zu meiden. In einer Welt, in der alles auseinanderzustreben scheint, kann dies nur bedeuten, das schmerzlich empfundene Gebot der Lockdownmonate zu überwinden und Distanz durch Nähe zu ersetzen. Entdeckerfreude, Pioniergeist, Improvisationsgabe und Flexibilität, wie sie die Institutionen in den zurückliegenden zwei Jahren gezeigt haben, können dabei nur helfen. Gewohnheiten, Routinen und Abgehangenes drohen dagegen den Graben zum Publikum nur tiefer werden zu lassen. Denn wie davor, das wissen wir nun sicher, wird es danach nie wieder sein.

[1] https://twitter.com/CRueping/status/1518501872520339459

Über den Autor:

Patrick Hahn
Patrick Hahn
Patrick Hahn ist Autor, Dramaturg und Musikmanager. Seit 2015 ist er Künstlerischer Programmplaner des Gürzenich-Orchester Köln, zuvor war er ab 2011 Dramaturg an der Staatsoper Stuttgart. Neben publizistischen Veröffentlichungen zu Themen wie Dekolonialisierung und Digitalisierung in der Klassischen Musik schreibt er auch Textvorlagen für Musiktheater- und Konzertwerke. 


 

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