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Zinaida Lindén
A Good European

Von Zinaida Lindén


- I am just learning how to be a good European.

Sie ist zierlich wie eine Porzellanpuppe. Zu viel Make-up. Ein kurzes, enges Kleid. Ein verschwitzter Händedruck. Sie ist bemüht und angespannt. Nicht gerade der akademische Typ. Sie hat in Nischni Nowgorod – oder war es Weliki Nowgorod? – promoviert und dort Europäische Literatur gelehrt. Jetzt hofft sie, noch einmal promovieren zu können, hier, in Europa.

- What do you mean?

Der nordische Professor zieht die Augenbrauen hoch.

- A good European - as opposed to what?

- I want to become a good European… researcher.


Ihr Englisch ist ziemlich holprig. Nicht gerade geeignet für ein wissenschaftliches Seminar.

Unter den Schriftstellern, die sie in ihrem Vortrag nennt, ist auch Michel Houellebecq. Sie hat keine Probleme, seinen Namen zu buchstabieren, wirkt aber ein wenig unsicher, als sie von seinem umstrittenen Roman Unterwerfung spricht. Sie möchte das so gerne korrekt, europäisch machen.

- Before I moved here I had no idea about the level of… tolerance.

Sie ist sonderbar, kennt die Regeln nicht. Weiß nicht mal, wie man sich kleidet. Diese Russinnen, müssen sie denn immer, zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, so derart ihre Weiblichkeit ausstellen?

Sie lächelt schuldbewusst und fährt eilig mit ihrem Vortrag fort. Jetzt spricht sie über die Postmoderne.

-Dans ‘Simulacres et Simulation’ Jean Baudrillard analyse comment notre société postmoderne a perdu le contact avec la réalité…

Ihr Französisch ist fließend. Macht sie das zu einer Europäerin?

Die Autorin Zinaida Lindén © Katri Lehtola Vor zweieinhalb Jahren hatte sie noch keine Ahnung, dass sie es nicht war. Sie war überzeugt davon, Europäerin zu sein. Was sonst? Sie war in Europa geboren worden, weit weg vom Ural und Kaspischem Meer. Als Kind las sie Victor Hugo und Charles Dickens. In ihrer Jugend liebte sie Paul Verlaine und Stéphane Mallarmé. Und hier im Norden soll sie keine Europäerin sein? Sie, die immer an Liberté, Égalité, Fraternité geglaubt hat. Und die alles, was in ihrem Heimatland nur im Geringsten antieuropäisch war, gemieden hat.

Hier hat sie zu hören bekommen, sie sei keine Europäerin. Stamme nicht aus Europa. Denn Europa stünde für etwas Höheres, Besseres. Jetzt heißt es also: Ärmel hochkrempeln und lernen. Das schafft sie bestimmt, sie, die doch immer so gut gewesen ist. Eine gute Doktorandin, eine gute Lehrerin, eine gute Ehefrau. Gut im Pfannkuchenbacken und im Hemdenbügeln. Und doch hat ihr Mann sie für eine Jüngere verlassen. Und eine neue, süßere Tochter bekommen.

In Russland hatte sie auf dem Partnermarkt keine Zukunft. Kein russischer Mann will eine geschiedene Mutter mit einem kleinen Kind. Zum Glück hat sie sich ihre Frische bewahrt, trotz ihrer siebenunddreißig Jahre. Zum Glück hat sie Leif getroffen, auf einer Konferenz in St. Petersburg. Leif ist ein guter Europäer, ein guter Stiefvater für ihre Tochter, ein guter Sohn, der oft seinen kränklichen Vater in einer guten, europäischen Einrichtung besucht. Zum Glück durfte sie ihre kleine Tochter hierher in den Norden holen, um dem Kind eine gute, europäische Zukunft zu geben.

Schade nur, dass ihre Mutter diese nie bekommen wird.

Ihre Mutter, die noch zu Hause wohnt und vor einem halben Jahr plötzlich erblindete. Sie hatte zwar Diabetes, aber dennoch kam die Erblindung ohne Vorwarnung. Es folgte: eine ungeplante Reise ins Heimatland, viele nervenaufreibende Krankenhausbesuche, mehrere erfolglose Versuche, die Nachbarn einzubeziehen, einige stressige Treffen mit einem überlasteten Sozialarbeiter und schließlich ein privates Arrangement mit einer sehr religiösen, aber suspekten Haushaltshilfe. Jetzt muss sie schalten und walten, unterstützen und ordnen, machen und tun. Aus der Distanz. Den Alltag der alten Frau fernsteuern, per Telefon und Computer.

Wie soll sie es schaffen, eine gute, europäische Dissertation zu schreiben, wenn ihre gesamte wache Zeit draufgeht dafür, an Mama zu denken?

Laut dem Gesetz zum Familiennachzug gehört Mama nicht zur Familie. Bis vor einiger Zeit gab es für ältere Nicht-Europäer, die in ihrem Heimatland keine Angehörigen mehr hatten, die Möglichkeit, hierher, in den Norden, zu ziehen. „Verordnung der letzten Anbindung“, so hieß es. Die letzte Anbindung ihrer Mutter, das ist sie. Aber die Klausel ist aus dem Ausländerrecht herausgenommen worden, um Sozialtourismus zu unterbinden. Damit nicht Horden von Senioren in die Festung Nordeuropa einfallen. Einige demente und von Schlaganfällen betroffene Nicht-Europäer sind sogar ausgewiesen worden.
Illustration Zinaida Lindén
„Schade, dass deine Mutter nicht politisch aktiv ist“, hat der ein oder andere barmherzige Samariter geseufzt. „Dann könnte man Asyl beantragen.“ 

Jetzt ist Kaffeepause.

Sie versucht, mit einem polnischen Linguisten zu reden, wird aber ignoriert von ihm. Sich mit dieser Schlampe aus dem Land der Unterdrücker unterhalten? Das fehlte ja gerade noch.

Der nordische Professor stellt sich in der Kaffeeschlange hinter sie. Doch nicht zu dicht: Sitzt man im Gleichstellungsausschuss der Universität, hat man einen Ruf zu verlieren.

Die Russin dreht sich um. Der Professor beugt sich höflich vor.

- Haben Sie als Kind vielleicht Ballett getanzt?, fragt er.

- Mais oui!

Ein glückliches Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, und sie zeigt ihre kleinen, ordentlichen Zähne. Die ersten französischen Wörter, die sie lernte waren Plié, Relevé, Battement tendu ...

Man kann von den Russen halten was man will, aber tanzen können sie.

Der Professor nickt sanft. Als Akademiker muss man jedoch kritisch denken. Kann sie kritisch denken? Sie, die so exotisch ist?

Eine Dame im Sari und mit einem großen roten Punkt auf der Stirn, die vor ihnen in der Schlange steht, sagt plötzlich erfreut:

- I love Tchaikovsky’s ballet music! Tchaikovsky’s my favorite European composer!

Die weißen Zähne der Dame im Sari zeichnen sich deutlich in ihrem dunklen Gesicht ab. Sie ist Bengalin. Sie spezialisiert sich auf Kinderliteratur. Auch sie hat zweieinhalb Jahre hier gelebt. Ihr Englisch ist perfekt. Macht sie das zu einer Europäerin, in Zeiten des Brexits? Noch ist sie nur Indoeuropäerin: Bengali gehört zur indoeuropäischen Sprachfamilie. Das hat die komparative Linguistik bewiesen.

- Would you like to meet over a cup of tea sometime?

Die Frauen tauschen Telefonnummern aus. Auch in der bengalischen Kultur kümmert man sich um seine alten Eltern zu Hause. Die Dame im Sari weiß sicher, wie es sich anfühlt, zu schalten und zu walten, zu machen und zu tun. Mutter seiner Mutter zu werden. Deren letzte Anbindung zu sein.

Gut, das mal zu besprechen bei einem Treffen. Reden hilft.

- Thank you for kindness, sagt die Russin in ihrem klumpigen Englisch. Nothing is stranger than kindness. The kindness of strangers.

Cover der acht Kurzgeschichten © Goethe-Institut
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