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Eine Einführung
Jazz aus Deutschland

Till Brönner
Der Trompeter Till Brönner gehört international zu den bekanntesten deutschen Jazzmusikern der Gegenwart. | Foto: © Ralf Dombrowski

Deutscher Jazz ist vielfältig. Kaum eine andere nationale Jazzszene Europas verfügt über eine derartige Bandbreite an Stilen, Traditionen und Spielhaltungen. Von Blues, Boogie und Dixieland über Swing, Bebop und Cool Jazz bis zu Jazzrock, Free Jazz und verschiedenen Mischformen von Jazz mit Neuer Musik, Weltmusik, HipHop, Ambient, Folklore und Popularmusik erfreuen sich nahezu alle Spielarten improvisierender Musik einer breiten Basis.

Jazz wird viel und vor allem live gespielt, von jungen Hochschulabsolventen wie von alten Hasen des Geschäfts. Er hat ein großes und erfahrenes Publikum, eine wechselhafte und ereignisreiche Geschichte, die aufgrund des föderalen politischen Systems bis heute zahlreiche regionale Besonderheiten aufweist, und eine künstlerische Dynamik, die in den Jahren nach dem Mauerfall zunehmend auch international wahrgenommen und geschätzt wird. Kurz: Jazz aus und in Deutschland hat inzwischen eine eigene Identität, die aus der Historie ebenso resultiert wie aus der Ausbildungssituation, der Konzert- und Clublandschaft und den strukturellen Eigenheiten der politischen regionalen Gliederung.

Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Gegenwart

Deutschland ist ein föderaler Staat, der über vier Jahrzehnte in zwei politische Systeme geteilt war. Im Westen bestimmte nach der Emanzipation von US-amerikanischen Vorbildern spätestens seit Ende der 1960er-Jahre die Balance zwischen Traditionshinterfragung und Konservatismus die Entwicklung. Zwar schien der Free Jazz nach 1970 durch den dominanten Einfluss der Wuppertaler Szene um Musiker wie den Saxofonisten Peter Brötzmann besser aufgestellt als andere Stilrichtungen. Insgesamt jedoch war der westdeutsche Jazz durch ein breites Spektrum an Ausdrucksformen gekennzeichnet, das von den Experimenten Albert Mangelsdorffs bis zum Jazzrock Klaus Doldingers reichte.

Die Musiker der DDR gingen ihren eigenen Weg im Spannungsfeld zwischen staatlicher Kontrolle und künstlerischer Identität. Einige wie der Pianist Ulrich Gumpert entwickelten neben dem Free Jazz einen nationalen Stil-Cocktail aus Volkslied, Arbeitersong und sächsischem Barock, der aber nach dem Mauerfall wenig Nachahmer fand. Demgegenüber gab es bereits vor 1989 trotz politischer Grenzen zahlreiche fruchtbare Kontakte zwischen den Jazzszenen beider deutscher Staaten etwa auf Festivals und Tourneen, die das Zusammenwachsen der Szenen nach der Wiedervereinigung erleichterten.

Treffen der Generationen und Stilwelten, von Ost und West: Günter 'Baby' Sommer und Till Brönner bei den 34.Leipziger Jazztagen 2010. Quelle: Youtube

Strukturelle Besonderheiten

Die Qualität des deutschen Jazz ist durch ein dichtes, landesweites Netz von Institutionen, Aktivitäten und Fördermaßnahmen gesichert. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Rundfunk. Die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunk-Anstalten Deutschlands (ARD) kann mit ihren regionalen Stationen nicht nur das Augenmerk auf einzelne Zentren des Jazz richten, sondern mit Mitschnitten und dem Support von Festivals und Clubs auch aufbauend und fördernd in das musikalische Geschehen eingreifen und es darüber hinaus umfassend archivieren.

'Jugend jazzt' 2013 Session mit jungen Musikern beim Wettbewerb 'Jugend jazzt' 2013 | Foto: © Ralf Dombrowski Ein dichter Teppich von Jazz-Festivals garantiert darüber hinaus den Austausch der nationalen Jazzszene mit internationalen Künstlern. Der Fokus reicht dabei vom Dixieland Festival Dresden über das Total Music Meeting Berlin, das sich der freien Improvisation verschrieben hat, bis zum MoersFestival, das neue Tendenzen aus Rock, Weltmusik und Elektronik aufgreift. Auch das Ausbildungsangebot für Jazzmusiker ist in Deutschland vielfältig und differenziert. Derzeit 18 Musikhochschulen und Konservatorien bieten über alle Bundesländer verteilt Studiengänge für Jazz an. Auf lokaler und schulischer Ebene wird darüber hinaus viel dafür getan, angehende Musiker bereits im Kindesalter an den Jazz heranzuführen.

Impulse aus aller Welt

Jazz in Deutschland wird nicht zuletzt von Musikern geprägt, die aus anderen Ländern kommen und mit ihren musikalischen Erfahrungen neue Impulse für Musiker von Flensburg bis Garmisch geben. Die Variationsbreite und potenzielle Grenzenlosigkeit des Jazz sowie die damit verbundene Offenheit von Akteuren, Veranstaltern, Medien und Publikum sind Faktoren, die Deutschland als Standort für Musiker aus der ganzen Welt attraktiv machen.

Aki Takase, Vladyslav Sendecki, David Friedman, Kalle Kalima oder Cymin Samawatie sind nur einige von vielen Koryphäen, die mit ihren Projekten und Bands internationale Impulse im Inland geben.

Klezmer-Jazzer aus Berlin: Daniel Kahn Klezmer-Jazzer aus Berlin: Daniel Kahn | Foto: © Ralf Dombrowski

Regionale Zentren

Jeder Jazzstandort hat seine stilistische Besonderheit. Frankfurt wurde von der Avantgarde-Schule um Albert Mangelsdorff und Heinz Sauer geprägt. Hamburg gilt als Hauptstadt des Modern Mainstreams, in Hannover fand einst der Acid Jazz seine Hochburg. Das bayerische Weilheim ist für seine Synthese aus Postrock und Jazzavantgarde bekannt, Wuppertal ist ein Synonym für den Free Jazz. Berlin und Köln stehen für eine Fülle unterschiedlicher Jazz-Stile, doch all diese Zuordnungen sind nur Ausgangspunkte für eine erste Orientierung.

Vor allem in Berlin hat sich in den letzten Jahren eine internationale Szene etabliert, die über alle Stil-, Genre- und Generationsgrenzen hinweg durch subkulturellen Charme und zugleich kosmopolitische Eigenständigkeit Maßstäbe setzt und den internationalen Vergleich mit New York und London nicht zu scheuen braucht. „Jazz - made in Germany“ ist daher mehr als nur ein Markenzeichen. Er ist von jeher auch eine Option, eine Chance und eine Perspektive.

Vernetzung der Szene

Angesichts hart umkämpfter Fördertöpfe und ebenso begehrter, aber rar gesäter medialer Öffentlichkeit werden allerdings auch in der deutschen Jazzszene Werbung, Selbstorganisation sowie kulturpolitisches Agieren immer grundlegender. Seit 2006 etwa trifft sich die Branche alljährlich zur Musikmesse jazzahead! in Bremen. In der schon seit 2002 bestehenden Bundeskonferenz Jazz (BK Jazz) haben sich Vertreter von Plattenfirmen, Festivals, Clubs, Musikinitiativen zusammengeschlossen, um gemeinsame Interessen handfest gegenüber Politik oder Kulturinstanzen vertreten zu können. Auch die lange inaktive Union Deutscher Jazzmusiker (UDJ) wurde 2012/13 erfolgreich wiederbelebt und gewinnt seitdem als Interessenvereinigung der Künstler an Bedeutung. Alles Zeichen, dass eine Szene sich verjüngt, neu orientiert und organisiert.

Künstlerische Profile

Zentral bleibt allerdings auch im polystilistischen, multikulturellen, migrationsoffenen Zeitalter das künstlerische Profil, mit dem sich Jazzmusiker dem Rest der Welt präsentieren. Eigenheiten sind gefragt und in einigen Sparten haben sich im Laufe des vergangenen Jahrzehnts ungewöhnliche Bands und Künstler profilieren können. So erlebt das Klaviertrio nicht nur international, sondern auch in Deutschland eine rasante Entwicklung. Gruppen wie das Tingvall Trio aus Hamburg, Michael Wollnys (em) aus Berlin oder das Kölner Pablo Held Trio schaffen es, das Publikum ebenso zu überzeugen wie mit kommunikativen, strukturellen und konzeptuellen Experimenten Neuland zu erkunden.

Das Pablo Held Trio Das Pablo Held Trio | Foto: Ralf Dombrowski Ebenfalls weit vorne liegen große Ensembles, die wie das Andromeda Mega Express Orchestra mit Dekonstruktionsmodellen spielen, wie Malte Schillers Red Balloon trotz komplexer Klangschichtungen swingen oder wie das Christian Elsässer Orchestra schillernden Klangfarbenreichtum zu entfalten verstehen. Darüber hinaus ist eine neue Generation von Komponisten und Komponistinnen herangewachsen, die wie Charlotte Greve, Benedikt Jahnel, Niels Klein, Angelika Niescier, Matthias Schriefl oder auch Henning Sieverts den gestalterischen Standard im gleichen Maße individualisieren wie internationalisieren. Die Karten für Jazz aus Deutschland sind also gut gemischt. Und im Spiel um die Aufmerksamkeit einer weltweit agierenden Szene sind einige Joker zu verteilen.

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