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Bücher
Der Bus, mit dem ich die Welt entdeckte

Bücherbus BUMPER, Moskau
Das Innere eines Bücherbusses | Foto (Ausschnitt): © readymedia.com

Nichts hat das Leben der Schriftstellerin Hatice Akyün so verändert wie der Duisburger Bücherbus. Jetzt hat sie seinen Erfinder getroffen. Von Hatice Akyün

Im Sommer 1978 steige ich das erste Mal in den Bus, der einmal in der Woche in die Zechensiedlung in Duisburg-Marxloh kommt. Er steht dann in der Nähe unseres Hauses. Genau eine Stunde lang wird er bleiben, dann fährt er wieder. Bevor er losrollt, steige ich aus. Denn dies ist kein gewöhnlicher Bus. Sondern ein Bücherbus. Mein Bücherbus.

Auf den Straßen von Marxloh habe ich die deutsche Sprache gelernt. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie, nur daran, dass mein Vater immer sagte: „Geh raus, spiel mit den deutschen Kindern.“ Er sagte es auf Türkisch, zu Hause sprachen wir nichts anderes. Mein erstes deutsches Wort, an das ich mich erinnere, ist „Rotzlöffel". Als ich einmal im Garten unserer Nachbarin Anni Stachelbeeren klaute, sah sie mich und rief aus dem Fenster: „Du Rotzlöffel!“ Ich wusste nicht, was das bedeutete.

Neun Jahre bin ich alt, als ich den Bücherbus zum ersten Mal betrete. Ich kann gut Deutsch, im Gegensatz zu meinen Eltern, die nicht mal auf Türkisch richtig lesen und schreiben können. Bis dahin kenne ich nur Schulbücher, ein richtiges Buch mit Geschichten habe ich noch nie in der Hand gehabt. Bei uns zu Hause steht nur der Koran auf dem kleinen Holzregal, daneben ein Abreißkalender mit den Gebetszeiten.

Bin ich noch so klein, oder ist der Bus so groß? In sein Inneres führen drei Stufen. Drinnen steht eine Frau an einem Tisch. „Komm ruhig rein", sagt sie, „die Kinderbücher sind dahinten.“ In diesem Moment fällt mir keine Antwort ein. Ich bleibe vor einem Regal stehen, lege den Kopf zur Seite und lese die Buchrücken. Wonach suche ich eigentlich? Ich ziehe Grimms Märchen heraus, öffne das Buch, blättere und flüstere mir selbst „Es war einmal“ zu. Dann schiebe ich das Buch zurück in das Regal.

„Du darfst es mit nach Hause nehmen", ruft die Frau vom anderen Ende des Busses. Sie hat mich offenbar beobachtet. Sie trägt ein hellblaues Kleid. Nicht so kurz, wie es die Mütter meiner deutschen Freundinnen tragen. Nicht so lang wie die Kleider meiner Mutter. „Das musst du von deinen Eltern ausfüllen und unterschreiben lassen", sagt sie und drückt mir ein Kärtchen in die Hand. „Leserausweis“ steht oben, darunter sind Linien für Name, Geburtsdatum und Adresse. „Diesen Ausweis bitte immer mitbringen“ steht ganz unten.

Die Freude über meine Entdeckung ist weg. Wie sollte ich meinen Vater dazu bringen, die Karte zu unterschreiben? Ich stecke sie in meine Tasche und drücke enttäuscht die Tür auseinander. Vielleicht, denke ich, verbietet es mein Vater, dass ich andere Bücher als den Koran lese.
Ich tue, was vielleicht jedes neunjährige Mädchen in dieser Situation tun würde: Ich nehme einen Stift, schleiche mich in die Laube unseres Gartens, ziehe die Karte aus der Tasche, schreibe „Hatice Akyün“, mein Geburtsdatum, unsere Adresse darauf – und unterschreibe mit dem Namen meines Vaters. Seine Unterschrift ist nicht schwer zu fälschen. Einmal habe ich gesehen, wie er dafür die Buchstaben R und A mit einem Kringel verbunden hat, die Anfangsbuchstaben von Vor- und Nachnamen. Die Karte bewahre ich sieben Tage unter meinem Kopfkissen auf. Jeden Abend schaue ich nach, ob meine Mutter sie vielleicht beim Aufräumen gefunden hat.

Am nächsten Donnerstag gehe ich wieder zur Haltestelle. Die Frau im Bus trägt ein grünes Kleid. Als ich ihr das Kärtchen gebe, lächelt sie. An diesem Tag nehme ich so viele Bücher mit, wie ich tragen kann. Zu Hause verstecke ich sie unter meinem Bett. Am Abend ziehe ich meine Taschenlampe hervor und lese heimlich unter der Bettdecke. Mein erstes Buch heißt Märchen aus 1001 Nacht. Es sind Geschichten über prächtige Paläste und fliegende Teppiche, von schönen Prinzessinnen und mutigen Männern. In dieser Nacht träume ich von Scheherazade. Sie lebt in einer Märchenwelt, die es so nicht gibt. Das weiß ich. Aber dennoch fühle ich mich ihr verbunden, auch wenn ich die Geschichte um ihre List, dem Tod zu entgehen, noch nicht verstehe. Vielleicht ist sie mir so nah, weil sie mir ähnlich ist mit ihren langen, schwarzen Haaren und den braunen Augen. Vielleicht, weil sie Kleider trägt, wie sie die Frauen tragen in unserem anatolischen Dorf. Lang und bunt, aus Samt.

Meine deutschen Freundinnen sagen oft zu mir, dass meine Familie komisch sei. Mein Vater kam 1969 nach Deutschland, er arbeitete als Bergmann. Als ich drei Jahre alt war, hat er mich, meine ältere Schwester und meine Mutter nachgeholt. Wir essen anders, wir sprechen anders, und meine Mutter trägt ein Kopftuch. Die Geschichten in den Büchern beruhigen mich. Es gibt offenbar Mädchen, die noch sonderbarer sind als ich. Ich tauche in neue Welten ein. Buch um Buch, Geschichte um Geschichte. Dornröschen, Aschenputtel und Rotkäppchen. Enid Blytons Fünf Freunde und die Bände von Hanni und Nanni, Zwillingsschwestern, die in einem Internat leben. Ich weiß nicht, was ein Internat ist, und schon gar nicht kann ich mir vorstellen, dass Mädchen in meinem Alter nach der Schule reiten. Ich muss nach der Schule in den Koranunterricht. Lesen wird für mich der Blick in eine Welt, die ich bis dahin nicht kannte. Mit jeder neuen Geschichte, mit jedem neuen Buch, das ich aus dem Bus trage, wird mir Deutsch vertrauter. Manchmal lachen meine Klassenkameraden darüber, wie ich mit ihnen rede. Sie sprechen Ruhrpottdeutsch und sagen „mamma Fensta auf“ und „mamma Tür zu“. In meiner neuen Welt aber öffnen sich Fenster und schließen sich Türen.

Bücher machen neugierig, und diese Neugier wird zu Wissen. Als Kind verstehe ich das noch nicht. Meine Eltern sind Analphabeten. Sie können mir keine Geschichten vorlesen. Jetzt zeigt mir jede Geschichte Lebensweisen, die nicht richtig oder falsch sind, sondern anders. Gefühle wie Liebe und Freundschaft werden in Worten beschrieben, die ich bisher nicht kannte. Ich frage mich, wie es sein kann, dass es eine deutsche Sprache gibt, die selbst meine deutschen Freunde nicht benutzen.

Es gibt eine Welt da draußen, die mir fremd ist und der ich mich durch Sprache nähern kann. Dieses Fremde zieht mich ungeheuer an. Jeden Donnerstag stehe ich nun an der Haltestelle. Meistens schon, bevor der Bus da ist. Fast immer bin ich die Erste, die einsteigt. Nach mir kommen andere Kinder, türkische Männer und Frauen, die kaum Deutsch sprechen, denn Marxloh ist ein Migrantenviertel. Oft haben sie graue Umschläge in der Hand, Behördenschreiben, die sie nicht verstehen. Die Leute aus dem Bus sind so nett, sie zu übersetzen. Meine Eltern kommen nie, denn ich übersetze für sie die Briefe. Beim Arzt dolmetsche ich und im Kaufhaus. Für die Gastarbeiter wird der Bus zur rollenden Sozialberatung. Die Angestellten werden zu Dolmetschern und Sozialarbeitern, vermitteln, soweit es ihnen möglich ist.

Ich bin schon erwachsen, als ich meinem Vater beichte, dass ich seine Unterschrift gefälscht habe, um an den Leserausweis zu kommen. Er lacht, als ich es ihm erzähle.
Der Bus, die Bücher, die Frau im Kleid. Plötzlich sind die Erinnerungen wieder da. Dabei ist es fast 40 Jahre her. Es ist ein Fernsehauftritt, der mich zurück zu dem Bücherbus führt. Am 30. November 2015 bin ich Gast in einer Talksendung, ausgestrahlt auf 3sat, einem öffentlich-rechtlichen Spartensender, an einem Montag, um 23.10 Uhr. Wer sollte das schon um diese Zeit gucken?

Der Moderator ist ein wenig zu beeindruckt von meinem „bemerkenswerten Deutsch“. Ich fühle mich wie ein Zirkuspferd, das in der Integrationsmanege als Paradebeispiel vorbildlicher Eingliederung in die Gesellschaft vorgeführt wird. In der Sendung erzähle ich auch von dem Bücherbus, wie ich ihn als Kind entdeckt habe und davon, wie er mein Gefühl für die deutsche Sprache geprägt hat. Es ist nichts Neues, davon habe ich schon so oft erzählt. In Interviews, in meinen Büchern. Aber diesmal bekomme ich nach der Sendung eine Mail.

„Sie erwähnten Ihre Begegnung mit Büchern im Duisburger Bücherbus. Das hat mich sehr berührt. Aus einem ganz persönlichen Grund. Ich habe in den siebziger Jahren als Beamter im Bonner Bundesbildungsministerium die Fahrbibliothek in Duisburg als ein Modellprojekt initiiert und finanziert. Jetzt Ihre Karriere zu sehen und ein wenig dazu beigetragen zu haben, erfüllt mich mit großer Freude. Da hat dann eine Investition doch einmal Gutes bewirkt. Einen herzlichen Gruß sendet Ihnen Erhard Schulte, inzwischen 77 Jahre alt.“

Meine Kindheit, unsere Zechensiedlung, der Bus – viele Bilder sind gleich wieder da. Wer ist dieser Mann, der mit seiner Idee dazu beigetragen hat, dass ich heute als Schriftstellerin arbeiten kann, dass die deutsche Sprache gefühlt zu meiner Muttersprache geworden ist? Ich muss ihn treffen und schreibe ihm zurück.

Sechs Wochen später stehe ich in Duisburg an der Haltestelle, an der gleich der Bücherbus eintreffen soll. Es gibt ihn noch. Und die Haltestelle liegt nur ein paar Hundert Meter von der Stelle entfernt, wo ich früher eingestiegen bin. Die Geschäfte von damals, die zweistöckigen Zechenhäuser mit den gepflegten Vorgärten, all das gibt es nicht mehr, so wenig wie die Bergarbeiter. Das Einzige, was sich nicht verändert hat, sind die rauchenden Schornsteine, die Himmelskulisse mit den Hochöfen.

Zur Jahrtausendwende, mit Anfang dreißig, verließ ich Duisburg. Nicht weil ich unbedingt hier wegwollte, nicht wegen der Eintönigkeit. Nein, weil Duisburg mir für ein ganzes Leben zu wenige Möglichkeiten bot und nur eine Enge zuließ, die, wenn man die große, weite Welt gesehen hat, erdrückend ist.

„Hallo, Frau Akyün.“ Ich drehe mich um. Erhard Schulte ist sehr groß, hat ein freundliches Gesicht mit einem gepflegten, kurzen Oberlippenbart, wie ihn auch mein Vater trägt. Er ist bescheiden gekleidet, dunkle Stoffhose, dunkelgrüner Pullover, um den Hals hat er locker einen Schal geschwungen, so wie ihn ältere Männer gerne tragen. Ich umarme ihn, als würden wir uns nach vielen Jahren wiedersehen.

„Steht hier in der Nähe nicht die große Moschee?“, fragt er. Wie aus 1001 Nacht, groß und prächtig steht sie da, in der ehemaligen Zechensiedlung, als sei sie direkt vom Himmel gefallen. Das „Wunder von Marxloh“ wird sie genannt. Wunder, weil sie 2008 ohne Demonstrationen, ohne aufgeladene Bürgerversammlungen gebaut wurde. Schulte war noch nie drin, und ich biete an, sie ihm zu zeigen. Da steht er dann, in Socken, mitten im Gebetsraum, neugierig, interessiert, wachsam. So wie ich das erste Mal im Bücherbus. „Die Moschee ist nicht nur Gebetshaus, sondern auch Begegnungsstätte“, sage ich. „Wie damals der Bus.“ Er lächelt. Ich erzähle, wie ich als Kind in eine Moschee ging, die in einem verwohnten Mietshaus untergebracht war. Dass wir stundenlang in einem kahlen Raum saßen, der meistens kalt war, weil fast nie der Kohleofen brannte. Dass ich die arabischen Buchstaben lernte, aber den Koran trotzdem nicht verstand.

Wir laufen zurück zur Haltestelle. Marxloh war Ende der fünfziger Jahre ein wohlhabendes Geschäftsviertel, auch das weiß Herr Schulte. „Klein-Amerika“ nannte man es, wegen der vielen Pelzgeschäfte und Juweliere. Die Stahl- und Kohleindustrie florierte. Es kamen viele Gastarbeiter, erst die Italiener, dann die Spanier, die Griechen und schließlich die Türken.

Heute heißt Marxloh „Hochzeits-Mekka“. Brautmoden- und Goldgeschäfte, Hochzeitsfotografen und Friseure säumen die Weseler Straße, die unweit der Haltestelle liegt. Sie gehören Kindern und Enkeln der türkischen Gastarbeiter. Man könnte meinen, dass ihnen nichts Besseres eingefallen ist, als in Deutschland an den Traditionen der Heimat festzuhalten. Aber so ist es nicht. Sie bieten eine Dienstleistung an, dort, wo es die Nachfrage dafür gibt. Türkische Supermärkte, Bäckereien und Imbisse prägen das neue Bild von Marxloh. Nur die Filiale einer Sparkasse unterbricht die Szenerie. Als ich hier noch wohnte, hieß der Supermarkt Schätzlein, die Metzgereien hießen Schmieding und Dicksen, die Bäckereien Weicht und Gierbert. Es gab das Tanzlokal Damschen und den Hansa-Krug. Blumen kauften wir bei Blumen Krüger.
 
Endlich kommt der Bus. Es ist ein umgebauter Linienbus, weiß und blau lackiert wie früher, aber er wirkt viel kleiner. Und es gibt keine Stufen mehr, denn er ist barrierefrei. Ich schaue in der Kinderecke nach, ob die alten Bücher noch da sind. Hanni und Nanni finde ich. Die Schrift auf den neuen Büchern ist moderner, die Seiten sind aus festerem Papier, und die Farbe des Buchdeckels ist nicht so verwaschen, wie ich sie in Erinnerung habe. „Das Buch zum Film“ steht in bunten Buchstaben auf dem Umschlag. Meine kindliche Aufregung ist längst verflogen und weicht der Ernüchterung. Die Legende der Vergangenheit, dass ich hier alle Inhalte zwischen zwei Buchdeckeln aufgesogen habe, weicht der Erkenntnis, dass sich das Leseverhalten offenbar dem Fortschritt angepasst hat: Während ich früher mit dem Bus in fremde Welten aufbrach, Seite um Seite in mir Fragen geweckt wurden, für die ich selber nach Antworten suchen musste, werden im neuen Bücherbus auch jede Menge Antworten in Form von CDs, DVDs und Tablets mitgeliefert.

Etwa 100.000 Euro kostet der Bücherbus heute die Stadt Duisburg im Jahr. Er fährt dienstags bis freitags 34 Haltestellen an, alle in der Nähe von Schulen. Rund 35.000 Bücher wurden voriges Jahr ausgeliehen. Aber wie viele Horizonte erweitert wurden und wie viel Lust auf Neues damit geweckt wurde, davon kann keine Statistik erzählen.

Ich lade Herrn Schulte zum Essen ein. Der türkische Imbiss gehört einem ehemaligen Schulfreund. Der Laden läuft gut, er hat eine große Auswahl, natürlich auch Döner. Amüsiert beobachtet Herr Schulte meine Veränderung in Sprache, Gestus und Lautstärke, als ich unser Essen auf Türkisch bestelle. Dann zeigt er mir ein Foto. Er im Garten des Ministeriums, Anfang dreißig, die Ärmel des weißen Hemdes hochgekrempelt, dunkle Krawatte, in der Hand eine Pfeife – wie sie damals in der Bonner Republik viele rauchten, auch um seriöser zu wirken. Bei Adana Kebap und Ayran erfahre ich, wie er den Bücherbus nach Duisburg brachte.

Im Sommer 1969 sitzt er in seinem Arbeitszimmer in Bonn. Er ist Hilfsreferent für Weiterbildung des Bundesbildungsministeriums, es ist die Zeit des Aufbruchs. Gesamtschulen entstehen, um die eine ideologische Debatte entbrennt, die sich bis in die Gegenwart zieht. Hauptschule für die, die körperlich arbeiten werden, Realschule für die, die im Unterricht aufpassen, und Gymnasium für die Chefs von morgen – das ist für viele nicht mehr zeitgemäß. Überall erweitern Universitäten ihre Kapazität, Fachhochschulen werden aufgebaut, der zweite Bildungsweg soll Kindern aus einfachen Verhältnissen die Tore in eine bessere Zukunft öffnen. Der Himmel über der Ruhr ist noch nicht blau, aber Stahl- und Kohlekrise künden vom Ende des klassischen Industriezeitalters. Und so greifen die Länder gerne nach den Geldtöpfen des Bundes. Der möchte im Gegenzug mehr Einfluss, auch bei Bildungsangeboten.

Schulte hat oft mit seinem Land und dessen Vergangenheit gehadert, erzählt er. Etwa, dass er als Jugendlicher in Spanien am Strand ein Mädchen kennenlernte und es zu ihm sagte: „Mit Deutschen möchte ich nichts zu tun haben.“ Bitter sei das gewesen. Geschichtskenntnisse müsse man so verdichten, dass ein moralisches Bewusstsein entstehe. „Die Ungebildeten sind die Verführbaren“, sagt er. Die Begegnung mit dem Fremden im eigenen Land sei immer der erste Schritt zur Toleranz.

Bücherbusse gibt es damals bereits seit Längerem in vielen Bundesländern, aber abseits der Städte findet man sie praktisch nicht. 1971 setzt Schulte sein Projekt „Fahrbibliothek“ durch: einen Bus, der durch deutsche Landkreise rollt. Drei Jahre lang fährt er quer durch Deutschland, er bringt Bildung dorthin, wo sonst nicht viel ist. Dann soll das Projekt auslaufen. Erhard Schulte bekommt die Anweisung, den Bus zu versteigern und den Erlös dem Bundeshaushalt zuzuführen. „Aber ich hatte einen anderen Plan. Ich wollte ihn nach Marxloh schicken.“ Er ist nie in Marxloh gewesen, aber der Stadtteil ist damals schon bekannt dafür, dass dort viele türkische Gastarbeiter mit ihren Familien leben. Seine Kollegen im Ministerium spotten, Schulte sei für die Mühseligen zuständig. Doch solche Sticheleien motivieren ihn nur. Und er gewinnt: 400.000 Mark steckt das Ministerium 1974 in das Projekt. Drei Jahre später übernimmt dann die Stadt die Kosten.

Dass Schulte den Bus überhaupt finanziert bekommt, ist ein Zufall. Der verantwortliche Beamte aus dem Finanzministerium habe mal in München auf ein Taxi gewartet, erzählt Schulte, als neben ihm ein Bücherbus hielt. Menschen strömten hinein. Für den Beamten war das ein gutes Zeichen. „Planungen", sagt Schulte, „hingen damals oft von solchen Zufällen ab.“

Hoffentlich gibt es auch heute noch viele Schultes. Wenn die Kinder der Menschen, die jetzt gerade zu uns kommen, bald Deutsch sprechen und in einigen Jahren dann eigentlich schon ein Teil von uns geworden sind, werden wir verstehen, wie wichtig die Schultes für dieses Land sind.

Der aktuelle Duisburger Bus ist bereits 19 Jahre alt und fällt wohl bald auseinander. Die so klamme Stadt hat nun endlich einen neuen bestellt. Auch in Zukunft werden Kinder die Chance haben, Bücher in die Hand zu bekommen, so wie ich. Ohne den ersten Bücherbus hätte mein Leben vielleicht eine andere Richtung genommen. Ohne ihn hätte ich nicht gelernt, mich in Bücher zu vertiefen, mich anzustrengen. Ich habe es vielen Zufällen zu verdanken, dass er auf einmal in meiner Straße stand – vor allem aber Erhard Schulte.

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