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Migration und Integration
Syrische Subkultur in Istanbul

Die offizielle türkische Statistik zählte 2015 allein in Istanbul 400.000 syrische Flüchtlinge. Tatsächlich dürften es aber mindestens eine halbe Millionen sein. Etwa 3000 von ihnen leben in bitterer Armut, es wurden aber auch allein 2015 bereits 750 syrische Firmen gegründet. Viele Dissidenten der Ober- und Mittelschicht leben über die ganze Stadt verteilt. Langsam entsteht eine Subkultur, die vor allem von den Kulturschaffenden getragen wird.  

Das kleine Holzhaus liegt im historischen Viertel Ayvansaray ganz in der Nähe des Goldenen Horns. Samer al Qadri hat es kunstvoll renovieren lassen. Den Innenräumen verleihen Backsteinwände ein warmes, freundliches Ambiente. In den Regalen liegen: Bücher, Bücher und nochmals Bücher. Vor allem arabischsprachige Literatur, aber auch Kochbücher, Graphiknovellen und Zeichenzubehör warten auf Kunden und interessierte Leser. Ein Café im Eingangsbereich und eine Kinderabteilung im dritten Stock locken vor allem syrische Besucher an.
Samer al Qadri hat Malerei studiert, doch bereits in Damaskus besaß er ein erfolgreiches auf Kinderbücher spezialisiertes Verlagshaus. Intellektuelle wie er sind dem syrischen Regime ein Dorn im Auge. Nur mit Glück entging er 2012 seiner Verhaftung, er befand sich auf der Buchmesse in Abu-Dhabi, als Polizisten ihn in seinem Verlagshaus verhaften wollten. Al Qadri ging mit seiner Familie zunächst nach Jordanien, dann verliebte er sich bei einem Besuch in die Metropole am Bosporus. „Hier in der Altstadt fühle ich mich manchmal wie in Damaskus”, schwärmt der sympathische 41-jährige lächelnd. „Die Architektur und die Atmosphäre ähneln sich.”

Neben der Literatur bietet der Kulturtreff „Pages“ auch Musikabende und Diskussionsveranstaltungen an. Für 2016 sind eine Reihe von kreativen Werkstätten geplant. Filmemachen, Schreiben, Malen, Sprachunterricht sollen Syrer, aber auch ein internationales Publikum anziehen. “Für mich ist es wichtig, dass Begegnungsstätten entstehen, um unserer Kultur die Freiheit zurückzugeben, die sie momentan in Syrien nicht hat”, unterstreicht Samer al Qadri.
 
Das gleiche Ziel verfolgt der Fotograf Omar Berakdar in Kadıköy auf der asiatischen Seite Istanbuls. “Arthere” ist ein Kunstraum mit offenen Ateliers, einer Galerie und einem Café. Jeder kann herkommen und hier arbeiten oder seine Werke ausstellen. Berakdar, der sowohl französischer als auch syrischer Staatsbürger ist, organisierte bereits in Syrien internationale Kunst-Events. Bis 2012 hatte er in seinen Arbeiten vor allem den sozialpolitischen Wandel in Syrien dokumentiert. Einen Tag lang etwa photographierte er in einer Bleistiftfabrik in Damaskus, die ein Monument für die verfehlten Modernisierungsbestrebungen des Assad-Regimes ist. Veraltete Maschinen und Bilder von Hafez Assad karikieren den sogenannten “Korrekturkurs” der Baath Partei. Heute liegt die Fabrik in Schutt und Asche, sie wurde in den Kampfhandlungen zwischen Rebellen und Assad-treuen Truppen zerstört.
Omar Berakdar wollte bereits in Syrien ein Künstler-Kollektiv mit einem entsprechenden Ort zum Arbeiten und Ausstellen gründen, doch das Projekt scheiterte an der ausschließlich staatstreue Künstler fördernden Bürokratie. In Istanbul strebt Arthere die Teilhabe am internationalen kulturellen Netzwerk an, das es Flüchtlingen ermöglichen soll, trotz begrenzter Reisefreiheit künstlerisch international zu arbeiten.
 
Das Documentarist-Film-Festival widmete 2015 ebenfalls der Flüchtlingskrise einen Schwerpunkt. Das Goethe-Institut Istanbul fördert seit Dezember 2014 eine Filmworkshop-Reihe des Istanbuler Vereins Diyalog Derneği. „Wir bilden sowohl Anfänger als auch Fortgeschrittene darin aus, mit einfachen Mitteln Kurzfilme herzustellen“, führte der Filmemacher Thomas Büsch während des Festivals die dort an Beispielen vorgeführte Filmreihe „Searching Traces“ ein. Die Workshop-Teilnehmer Bassel Halebi und Mohammad Fares etwa sind Palästinenser aus dem Damaszener Viertel Yarmouk, das 1958 zunächst als Camp für palästinensische Flüchtlinge  eingerichtet wurde. 2011 demonstrierten viele Bewohner gegen das Assad Regime. Die Freie Syrische Armee setze sich nach massiver Repression des Viertels durch die syrische Regierung dort fest. Yarmouk geriet zwischen die Fronten, Bassel und Mohammad flohen vor Bombenhagel und Hungersnöten. In dem beeindruckenden Film „Beyond the Station“ schleppt Bassel Halebi einen großen Koffer durch das Istanbuler Viertel Balat. „Wir wollten zeigen, wie ein jeder seine Geschichte mit sich herumschleppt“, erzählte Mohammad Fares nach der Präsentation des Films. Die Istanbulerin Nazlı Mayuk zeigte einen Kurzfilm über das verfallende Gebäude eines ehemaligen griechischen Waisenhauses auf der Prinzeninsel Büyükada. Sie berichtete dem Publikum, dass die gemeinsame Filmarbeit mit Syrern, Palästinenser und internationalen jungen Filmemachern ein Netzwerk hätten entstehen lassen, das mittlerweile über die Grenzen der Türkei hinausragt. Die Teilnehmer halten über eine Facebook-Gruppe Kontakt untereinander und zu den Freunden, die mittlerweile entweder nach Syrien zurückgekehrt sind oder weiterzogen. Ihr Zentrum ist jedoch nach wie vor Istanbul.
 
Am Bosporus formiert sich eine wachsende arabische Subkultur. „Wir können hier aus dem Exil, anders als unsere Freunde in Syrien, weiter an der Entwicklung einer freiheitlichen syrischen Kultur- und Kunstszene weiterarbeiten“, reflektiert die seit Sommer 2014 in Istanbul lebende und arbeitende Schauspielerin und Musikerin Batool Mohamad. Ihre innovativen Musikclips gehören zu den Favoriten im arabischsprachigen Internet.

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