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Melike Koçak
Weder traurig noch lyrisch, weder verrückt noch prinzessinnenhaft

Hatice Meryem begann ihren Vortrag in der Diskussionsveranstaltung „Autorinnen der Gegenwart“ mit der Frage: „Beim wem kann ich mich anlehnen?“ Ich leihe mir diese Frage aus, um Texte von Autorinnen vom Osmanischen Reich bis hin zur Republik und die Autorinnen selbst einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen. Auch wenn diese Betrachtung gewissermaßen aus der Vogelperspektive geschieht, so sollte sie doch Aufschluss darüber geben, welche Autorinnen uns mit welchen ihrer Eigenschaften heute noch als Inspirationsquelle dienen.

Duygu Asena

Wir Frauen in den Vierzigern haben vor Jahren ein Buch gelesen, das unser Leben veränderte: Kadının Adı Yok [dt.: Die Frau hat keinen Namen – Eine Türkin entdeckt die Folgen des kleinen Unterschieds] von Duygu Asena (1946–2006). Das war eines der ersten Bücher, das uns zeigte, wie wir unserer Sprache, unserer Körper und unserer Wünsche beraubt wurden. Wir erfuhren, dass Staat und Gesellschaft stets bedacht waren, uns durch Familie, Schule und Nachbarschaftsbeziehungen zu tüchtigen, häuslichen und umgänglichen Personen zu formen. Das Thema Sexualität hat dementsprechend in einem Land wie der Türkei, in dem das Reden über den Körper tabuisiert ist, eine revolutionäre, befreiende Wirkung.

Latife Tekin

Wir wuchsen, indem wir nach jedem Sturz wieder aufstanden; indem wir wiederholt gegen Wände prallten. Eine harte, wilde, rebellische und lautstarke Coming-of-Age-Geschichte kam uns zu Hilfe. Es war die Geschichte eines Mädchens, das Fragen stellte, niemals aufgab, neugierig, leidenschaftlich, erfinderisch und träumerisch war. Darüber hinaus führte sie ein Tagebuch und schrieb Gedichte. Ihr habt richtig geraten, es handelt sich um Dirmit, die Hauptfigur in Latife Tekins (geb. 1957) Sevgili Arsız Ölüm [Lieber schamloser Tod]. Zudem lehrte uns die Autorin, wie man Sprache für seine eigenen Zwecke umgestaltet und über sie hinauswächst. Das Buch wechselt ständig zwischen Bewusstsein, Unterbewusstsein, Vorstellungskraft, Traum und Wirklichkeit hin und her. Risse, Spalten und Brüche, die sich in Seele, Geist und Körper durch die ihnen zugefügte Gewalt auftaten, spiegeln sich in der Form des Textes. Die Geschichten der Menschen sind mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Zeit verflochten. Es scheint, als könnte sich diese fragmentarische Struktur jederzeit auflösen. Ist es nicht genau das, was Befreiung ausmacht?

Latife Tekin Latife Tekin | Foto: Muhsin Akgün

Nezihe Meriç

Dann kamen die 1990er. Wir versuchten, unsere Weiblichkeit – so gut wie wir konnten – auszuleben. Wir trafen auf die Frauen, die Nezihe Meriç (1925–2009) erfunden hatte: Ilgıncar, Meli, Naciye, Despina, Remziye, Madame Gabrielle, Nurhan, Nesrin, Sofiya, Zümrüt und Frau Kıpırtı. Mit ihrer Hilfe und Meriçs erfrischender Sprache nahmen wir unseren Mut zusammen und riefen aus: „Vertraut mir, ich bin hier!“ Mit offenen Augen und Ohren für alles, was von draußen kam, sammelte sie Stimmen, Silben, Doppeldeutigkeiten, Verdichtungen, Sprichwörter, Ausrufe und verarbeitete sie zu einer klangvollen Geschichte. Es war, als würden wir unsere Sprache neu lernen. Im fliegenden Wechsel zwischen drinnen und draußen hielten wir uns in den Küchen und Höfen, auf Balkonen, an Türschwellen, bei langweiligen und fröhlichen Gesprächen zu Tisch, an menschenleeren Stränden, in der Stadt und auf den Straßen auf. Wir haben beides lieben und schätzen gelernt. Wir lernten uns für die Geschichten drinnen und draußen gleichermaßen zu öffnen, aber vor allem lernten wir, Frau zu sein, ohne uns von irgendjemand und irgendetwas abhängig zu machen.

Leyla Erbil

So ging es weiter, bis wir auf Leyla Erbil (1931–2013) stießen. Ohne sich ausschließlich auf das Thema Frauen zu beschränken, öffnete sie ihre Literatur für soziale und politische Realitäten: von der Ermordung Mustafa Suphis, der Verbrennung von Schriftsteller*innen, Dichter*innen und Intellektuellen in Sivas, der Ermordung des Journalisten Metin Göktepe und von sieben jungen Mitgliedern der Türkischen Arbeiterpartei (TİP) über das Massaker in Gazi bis hin zu den Verbrechen des Staates und ungeahndeten Straftaten. Sie kritisierte Wettbewerbe, Jurys, Preisvergaben und diskutierte in intellektuellen, links-sozialistischen und revolutionären Kreisen über Klassenzugehörigkeit, Kultur, Geschichte, Gender und Politik. Sie entlarvte Risse, Unzulänglichkeiten und notdürftig übertünchte Bruchstellen in Politik und Gesellschaft. Sie erweiterte die Grenzen des Erzählens und erfand ihre eigene Sprache und Form. Von ihr haben wir gelernt, genauso mutig zu schreiben wie zu leben.

Sevgi Soysal

Dann kamen wir in den 2000er Jahren an. Uns wurde von Neuem die reale Existenz von Massaker, Vertreibung und Migration vor Augen geführt, die wir bereits aus dem Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in den 1990er Jahren und den vor fast 100 Jahren am armenischen und griechischen Volk verübten Gräueltaten kannten. Es waren die Jahre, in denen eine Klimakrise und das große Erdbeben in Istanbul auf uns warteten und wir der Täuschung erlagen, dass wir uns als Land endlich demokratisieren würden. Hrant Dink wurde getötet. Wir brauchten neue Möglichkeiten, um mit diesen Dingen fertig zu werden, und wir brauchten einander.

Wir hielten uns an der wiederentdeckten Sevgi Soysal (1936–1976) fest. Sie hatte mit Normen bezüglich Familie, Ehe, Mutterschaft, Körper und Sexualität abgerechnet, sie wahrhaft dekonstruiert. Während sie die Moral der Mittelschicht kritisierte, konnte sie anhand eines einzigen Moments oder einer einzigen Fotografie von dem Wagnis erzählen, sich aus einem kleinbürgerlichen Leben heraus als Revolutionär*in zu versuchen – konnte darstellen, auf welche Weise der Kapitalismus eine Stadt ökonomisch, kulturell und sozial prägt. In ihren Werken verflocht sie globale und lokale Probleme mit den Themen Weiblichkeit und Männlichkeit. Der Staat ließ sie jedoch nicht ungestraft, als sie darüber sprach, wie der Faschismus sich eben gerade durch staatliche Hand auf Patriarchat und Kapital übertrug; als sie von Razzien, Verhaftungen, Befragungen und Folter in einer der düstersten Perioden der Türkei, dem [Militärputsch vom] 12. März 1971, erzählte. Die Texte, die sie während ihrer Inhaftierung schrieb, besaßen trotz alledem eine fröhliche Sprache. Ihr Mut war ansteckend. Sie lehrte uns, wie stark die Beziehung zwischen Leben, Schreiben und Widerstand sein kann.

Sevgi Soysal Sevgi Soysal | Foto: İletişim Yayınları

Suat Derviş

Diese Einstellung hat sich mit Suat Derviş (1903–1972) verfestigt. Wir haben uns erst spät kennengelernt. Das war aber nicht gänzlich unsere Schuld. Senem Timuroğlu konstatiert in ihrem Artikel „Anlatılan ‚Bizim‘ Hikâyemiz Değil“ [Es ist nicht „unsere“ Geschichte, die erzählt wird], dass türkische Literaturhistoriker im Übergang von der Tanzimat-Epoche zur Republik den Einfluss der Literatinnen auf die feministische Bewegung im Osmanischen Reich bewusst vernachlässigt haben. In Bezug auf diejenigen, die nicht Teil der „drei Meilensteine“ waren, die die Literaturgeschichte der Republik konstituierten, ab 1948 veröffentlicht wurden und die Zeit nach 1950 prägten (Nihat Sami Banarlı, Ahmet Hamdi Tanpınar, Kenan Akyüz), schreibt sie: „Wir können erkennen, dass Autorinnen entweder ganz ignoriert oder unter der Kategorie von Autor*innen einsortiert wurden, die noch ganz am Anfang ihrer Laufbahn stehen und sich erst entwickeln müssen. Außerdem wird in keinster Weise die Frauenbewegung erwähnt – ein politisches und historisches Phänomen, das die Grundlage dieser Literatur bildet.“* Suat Derviş ist eine von ihnen.

Derviş untersucht in ihren Romanen das Verhältnis von Weiblichkeit, Klasse und Patriarchat und spricht dabei Themen an wie Armut, Ungleichheit, soziokulturelle und wirtschaftliche Klassenunterschiede und ihre Auswirkungen auf alle Arten von Beziehungen, Tod, Einsamkeit, Liebe, Verlangen, Betrug, Machtverhältnisse, Moral, Gesellschaft und Körper. Mit Elementen der gothic novel erzeugt sie mitunter eine dunkle und angespannte Atmosphäre, die die Innenwelt der Frau widerzuspiegeln vermag. Während sie die Wurzeln des Patriarchats und seinen Nährboden durchleuchtet, zeigt sie gleichzeitig auf, wie man ihm entfliehen kann. Menschen außerhalb der Norm stellt sie niemals als Opfer oder Pechvögel dar. In ihren intensiven literarischen Streifzügen durch die Stadt, auf denen wir sie begleiten, stellt sie uns Menschen aus allen möglichen Schichten mit den unterschiedlichsten religiösen, sprachlichen, ethnischen und soziokulturellen Hintergründen vor. Mit ihrem Fokus auf Weiblichkeit, soziale, klassenspezifische und politische Themen hat sie sich zu einem leuchtenden Vorbild für uns entwickelt.

Sevim Burak

Die 2000er Jahre und unsere Dreißiger waren schnell vorüber. Es war eine Zeit, in der wir lernten, dass das menschliche Sein kontinuierlich und fließend ist. Manches in unserer Sprache und unserem Körper hatte sich verfestigt, anderes wiederum ließ sich nicht fixieren oder war deplatziert. Die Gezi-Park-Proteste hatten noch nicht begonnen.

Dann erschien ein (Sprachen-)Geist aus der Wunderlampe: Sevim Burak (1931–1983). Wiederholungen, gebrochene Wörter und Sätze, Assoziationen, Geräusche, Metaphern, Brüche in der Zeit, Aufzählungen, die fremdsprachige Aussprache türkischer Wörter, Muttersprache, mythologische Elemente, fantastische Atmosphären, Krankenhausberichte, Handbücher für Rettungswesten, die Platzierung von Bildern im Text (Grundschultafeln, die Buchstaben und Zahlen zeigen), Namen und Referenzen aus der Thora – all diese sprachlichen und erzählerischen Elemente werden auseinandergenommen, rekonstruiert und transformiert. Diese Erzählweise fordert das Leben als solches heraus, das unentwegt zwischen Unbekannten, eigenem Besitz, Herrschaft, Marginalisierung und Tod hin- und herpendelt. Ihre Protagonist*innen sind Minderheiten, Nichtmuslime und Frauen. Burak untersucht Themen wie Entfremdung von Kultur, Religion, Sprache und Identität, kulturelle Spaltungen im Zuge der Modernisierung, Marginalisierung aufgrund von Sprache, Religion und Geschlecht, sowie den Völkermord an den Juden, ohne dabei den historischen und soziologischen Kontext aus den Augen zu verlieren. Mit ihren hochpolitischen Erzählungen, Romanen und Theaterstücken widersetzt sie sich Herrschaftsdenken und Faschismus, die man durch Sprache zu etablieren versuchte. Von ihr haben wir gelernt, dass Wiederaufbau nur durch Zerstörung möglich ist.

Mihrî Hatun, Rabia Hatun, Nigâr, Gülten Akın, Nilgün Marmara, Didem Madak

In dieser Zeit nahmen die Studien über Autor*innen, Dichter*innen und ihre Werken zu. Durch die Wiederbesinnung auf Lyrikerinnen der Diwan-Literatur wie Mihrî Hatun (1460–1506), Rabia Hatun (1910–1948) und der Poetin Nigâr (1856–1918) konnten wir uns ein ganz neues Feld erschließen. Gülten Akın (1933–2015) war längst zu unserem Liebling avanciert und Nilgün Marmara (1958–1987) ist ohnehin unvergleichlich. Bevor wir uns die Frage stellen konnten, ob uns noch etwas fehlte, betrat Didem Madak (1970–2011) die Bühne. Es schien, als würde sie ihre Gedichte aus ihrem Schweiß, ihrer Haut und ihren Knochen saugen. Haus, Straße, Nachbarschaft, Frauen, Märchenheld*innen, dominante Bilder der Popkultur, Lieder, Sänger*innen, Götter/Göttinnen, Prophet*innen – und oh, diese Tiere! –, Pflanzenwelt, Gesten, Gefühle und Sinne: was für berauschende Gedichte. Dinge, die einem niemals in den Sinn kommen würden oder gar erlaubt wären, fanden in Madaks Gedichten ein Zuhause – wohlwissend, dass sie dort nur auf Zeit existieren können. In jedem Augenblick können Madaks tumulthafte, sprachmächtige Gedichte von Freude in Trauer umschlagen. Sie fand sich nicht damit ab, die Gedichte zu schreiben, die man von ihr erwartete. Auch wir würden uns mit nichts abfinden, das haben wir der leider zu früh verstorbenen Didem versprochen.

Dies waren Tage der Poesie oder auch der Zuflucht. Birhan Keskin, Asuman Susam, Elif Sofya, Karin Karakaşlı, Aslı Serin ... Zusammen durchlebten wir eine düstere Zeit. Rebellion und Verstoß, Geduld und Stille, die Sprache stehlen, die Stimme erheben, die Möglichkeiten der Wildnis, die Brutalität des Speziesismus, die menschliche Boshaftigkeit – all diese Dinge lehrten sie uns, aber wir lernten auch gemeinsam, und das nicht durch Sprechen, sondern durch Schweigen; indem wir Wort um Wort kürzten, lernten wir das Schreiben. Und plötzlich verzierten Gedichte die Gehsteige, Hauswände und Straßen. Die Stadt trug uns in unsere Vierziger und mit einer Revolution nahe an die Ufer des Jahres 2020.

Die Autorinnen Sema Kaygusuz, Müge İplikçi, Şebnem İşigüzel, Jaklin Çelik und Aslı Erdoğan leisteten uns auf dem Weg zu diesen Ufern Gesellschaft und inspirierten uns durch ihre Werke und ihre literarischen und politischen Überzeugungen. Heute können wir all das, was sie in dieser in vielerlei Hinsicht sehr schwierigen und beschwerlichen Zeit geschrieben haben, viel besser verstehen.

Im Hier und Heute

Wir hängen in einer bizarren und rauen Zeit fest, in der es nahezu unerlässlich ist, die eigene Perspektive erweitern und interdisziplinär zu arbeiten. Die ethische und ästhetische Verantwortung der Autor*innen ist sehr groß – je nachdem, was für eine Art Autorin beziehungsweise Autor sie oder er sein möchte. Wie sollen Autor*innen und Dichter*innen in den Fängen von Werbung, Kommerz und Marketing mit dieser Last umgehen? Wird der sexistische, misogynistische, homophobe, speziesistische und anthropozentrische Kapitalist die Destruktivität dieses modernistischen Systems implizit oder gar offen anerkennen, und es neu aufbauen? Oder wird er es völlig niederreißen? Wenn wir die Gegenwart unter diesem Aspekt betrachten: Wer sind diese Frauen, die sich von der Vergangenheit inspirieren lassen und mutig ihren eigenen Weg gehen? Welche Potenziale und Möglichkeiten haben diejenigen, die heute unter den verschiedensten Umständen ihr Leben führen?

Figen Şakacı setzt mit dem Dreigespann Bitirgen [Die Vollstreckerin, 2011], Pala Hayriye (2013) und Hayriye Hanım'ı Kim Çaldı? [Wer hat Hayriye gestohlen? 2017] die Messlatte in puncto Inspiration und Unnachgiebigkeit, die zuvor schon mit Dirmit weit oben war, noch höher. Es sind nicht bloße Coming-of-Age-Geschichten, sondern sie handeln auch von den politischen, ökonomischen und kulturellen Krisen beziehungsweise Transformationen seit den 1980ern bis in die 2000er Jahre. In ihrem Roman Kozalak [Der Tannenzapfen, 2012] streut Sema Aslan Sand in das Getriebe einer Welt, in der die Grenzen des sozialen Geschlechts klar gezogen sind und der das binäre Geschlechtssystem aufoktroyiert wurde. Den Dualismus von „Mann = befähigt, unterdrückerisch, rational“ und „Frau = benachteiligt, unterdrückt, emotional“ verhandelt sie mit Blick auf Institutionen wie Familie und Ehe, aber auch auf die Gesellschaft als solche. Zeynep Kaçar konzentriert sich in Kabuk [Die Hülle, 2017] auf die Familie und ihre Destruktivität. Die Erzählerinnen, drei Frauen aus derselben Familie, setzen sich mit Genderrollen, einer sexistischen, homo- und transphoben Mentalität und Sprache, sowie den „allgemein akzeptierten Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit“ auseinander.

Auf ähnliche Art wie Elif Sofya im Gedicht die menschliche Hülle abstreift, sie in die Erde und ein tierisches Wesen überführt, um aus der Perspektive eines Tiers auf den Menschen zu blicken, geht Deniz Gezgin in ihren Romanen vor. Sofyas Dik Âlâ [Ausgemachter Unsinn, 2014] und Gezgins YerKuşAğı [BodenVogelNest, 2017] kommunizieren miteinander und stärken sich gegenseitig in dem Bestreben, eine neue Sprache zu begründen, die im Gegensatz zur anthropozentrischen und speziesistischen türkischen Literatur steht.

Ebru Ojens fantastische Fiktion Aşı [Die Impfung, 2014] handelt von den Bewohner*innen eines Dorfes, die durch einen Impfstoff sterilisiert werden sollen. Dieses Werk hinterfragt die Assimilationspolitik des Staates und sein Bestreben, die Bürger unter seine Kontrolle zu bringen. Et Yiyenler Birbirini Öldürsün [Fleischesser sollen sich gegenseitig umbringen, 2017] stellt mit einem Fokus auf die Ausbeutung der Tiere unser gewalttätiges und barbarisches Zeitalters an den Pranger. Das Werk ist eine allegorische und fantastische Fiktion und wurde in einer harten, metaphernlosen, gar – wenn man das so sagen kann – verkeimten Sprache geschrieben. Mehtap Ceyran konzentriert sich in Mevsim Yas [Die Jahreszeit der Trauer, 2017] auf die kurdische Bevölkerung und die systematische staatliche Gewalt in den 1990er Jahren, ohne den Schmerz der Betroffenen voyeuristisch zur Schau zu stellen oder auf ihm herumzureiten. Pınar Öğünç schultert in Beterotu [Die Schlimmpflanze, 2019] eine Last unserer heutigen Zeit, die in der Literatur lange Zeit kaum thematisiert wurde. Das Buch erzählt davon, dass wir so tun, als gäbe es keine unerträglich harten Arbeitsbedingungen, die einem Menschen im Leben aufgezwungen werden; als gäbe es keine Tiere, die auf der Straße zurückgelassen werden und keine „Arbeitsmorde“. Es erinnert uns an all diese Zustände.

Unendlich viele andere

Während ich meine Notizen durchgehe, fällt mein Blick auf Anadipsi [Anadipsie, 2017]. Aslı Solakoğlu führt eine Art Erinnerungsprotokoll über die Gespräche mit ihrem Körper und seiner Offenheit für andere Körper. In einer experimentellen Sprache und Erzählweise behandelt sie Themen wie Weiblichkeit, Mutterschaft, das Ich, Schmerz und Verletzung. Während Nazlı Karabıyıkoğlu in Gök Derinin Altında [Unter der Haut des Himmels, 2017] die Grenzen zwischen Körper, Geschlecht und Natur auf die Probe stellt, sprechen unentwegt Lebewesen zu ihr. Sie greift auf mythologische Erzählungen, Prophet*innen und Schamanismus zurück, um eine Sprache zu schaffen, die zwischen Legende und Wirklichkeit über sich selbst hinauswächst. Sofya Kurban schreibt in Cebimdeki Taşlar [Die Steine in meiner Hosentasche, 2017], in dem nur weibliche Charaktere vorkommen, über das Thema Behinderung. Sie konzentriert sich auf zwei Formen des Andersseins: zugleich Frau und behindert zu sein. Weitere nennenswerte Autorinnen und Werke sind: Gamze Arslans Kanayak [Blutfuß, 2019]; Pelin Özers Haikus; die Erzählungen in Birgül Oğuz' Hah [Aha, 2012], die Tod und Trauer zu verstehen suchen und die persönliche Trauer zu einer gesellschaftlichen umfunktionieren; Birgül Özcans Ev Anası [Die Hausmutter, 2016], das in einer ruhelosen Sprache geschrieben ist und von den Schmerzen des Frauseins handelt; Sine Ergüns Kurzgeschichten wie Baştankara [Die Meise, 2016], die mehr aufzeigen denn erzählen, und die experimentelle und avantgardistische Sprache, mit der uns Anita Sezgener in ihren Gedichten und im Cin-Ayşe-Fanzine bekannt macht. Meine Notizen könnten noch ewig so weitergehen. Aslı Tohumcu, Hatice Meryem, Oylum Yılmaz, Nihan Eren, Tuğba Doğan – und ah, Mine Söğüt – habe ich noch gar nicht erwähnt. Offensichtlich stecken in diesem Text unendlich viele andere. Also höre ich lieber an dieser Stelle auf.

In wenigen Worten

Ich habe versucht, eine Auswahl an Autorinnen, die alle eine wichtige Position an den Übergängen der türkischen Literatur seit dem Osmanischen Reich einnehmen, aus der Vogelperspektive zu betrachten. Ich hoffe, dass es mir mit diesem Text gelungen ist, Literatinnen vorzustellen, bei denen wir – die Autorinnen der Gegenwart – uns anlehnen und Kraft schöpfen können. Wenn ich darüberhinaus daran erinnern konnte, dass diese Autorinnen und ihre Texte sich in einer von Männern dominierten Literaturwelt, die nach Homogenisierung trachtet, nicht in irgendwelche Kategorien und Schubladen haben zwängen lassen, ist es sogar noch besser. Und wenn das vor allem bei den Männern angekommen ist, ist es am allerbesten.

* Senem Timuroğlu, „Anlatılan ‚Bizim‘ Hikâyemiz Değil“, in Sema Kaygusuz, Deniz Gündoğan İbrişim (Hg.), Gaflet: Modern Türkçe Edebiyatın Cinsiyetçi Sinir Uçları, Metis-Verlag, Istanbul 2019, S. 63–79, hier S. 63.

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