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İpek Şahbenderoğlu
„Glaubt ihr wirklich, ihr könntet den Fluss des Wassers stoppen?“

„Der Verstand brauchte meine Hilfe, um zu überleben.“

Susan Sontag, Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke: Tagebücher 1964–1980

Wenn es um den Körper, um Verlangen und Lust geht, stemmen sich Semra Topals Werke gegen jede Form von Anstand und Sitte, um die Sprach-, Geschlechts-, Identitäts-, Gedächtnis-, und Machtstrukturen der sozialen Ordnung aufzubrechen – oder, wie Hande Öğüt es ausdrückt: „die chthonische Natur offenzulegen, die vom patriarchalischen System unter Verschluss gehalten wird.“[1] Aus Topals Texten spricht eine geradezu unheimliche Stimme, die das Groteske feiert und die Leser*innen durchgehend in Atem hält. Nachdem sie mit dem Yaşar-Nabi-Nayır-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, gab Semra Topal im Juli 1992 ein Interview für das Varlık-Magazin, in dem sie konstatierte: „In meinen Geschichten kann man sich auf nichts verlassen.“ In den meisten ihrer Erzählungen und Romane ist ein chthonisches karnevaleskes Lachen latent spürbar, das explosionsartig auftaucht. Ja – Topals Erzählungen nähren sich von allem, was explodiert, sich entlädt, entgleist, nicht in ein Schema passt, nicht verhindert werden kann, von Natur aus da ist und nicht mehr in den Körper, den Gegenstand, den Topf, den Raum, das Land, die Sprache, die Kultur, das Geschlecht, das Gedächtnis und das Gefühl hineinpasst und überläuft.

Andererseits nehmen in ihren Texten die Kindheit beziehungsweise das Kindsein und der Wunsch, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen, einen zentralen Platz ein. Tod und Kindheit zu thematisieren, ist für ihre Geschichten unumgänglich, um aufrichtig und erbarmungslos sein zu können – genauso wie der Akt des Schreibens an sich. Aus Topals Sicht lassen sich die Antworten auf die Fragen, was Wahrheit ist, wem sie gehört und wie man ihr auf die Spur kommt, fast immer in der Kindheit finden. Ihr Blick ist sowohl derjenige eines Kindes als auch ein Blick, der das kulturelle Konstrukt umkehrt, das in der Kindheit errichtet wird, wie aus einem Satz ihres Romans Fagin hervorgeht, in dem die Kindheit als etwas Heiliges beschrieben wird: „Kleine Kinder [...] spielen nicht nach den Regeln der Erwachsenen, sie leben an einem heiligen Ort. Ist dieser Umstand nicht Machtlosigkeit und Erlösung zugleich? [...] Jeder machtvolle Erwachsene, der sich dieser Heiligkeit nicht bewusst ist, [...] ist immer hilflos, immer ein Dummkopf vor dem Kind.“

  • Semra Topal: Gece Gülüşü Bild: www.kafekultur.com
    Semra Topal: Gece Gülüşü
  • Semra Topal: KirliHanımlar Bild: www.kafekultur.com
    Semra Topal: KirliHanımlar
  • Semra Topal: Kürklü Gece Bild: www.kafekultur.com
    Semra Topal: Kürklü Gece
  • Semra Topal: Mukaddes cildin parçalanışı Bild: www.kafekultur.com
    Semra Topal: Mukaddes cildin parçalanışı



Darüber hinaus ist die Kindheit für Topal eine Zeit, in der der Mensch herausfindet, wie er sich der Realität widersetzen kann, in dem er sie transformiert und neu erschafft. Im Zuge des Heranwachsens in einer modernen Fortschrittsgesellschaft mit ihrer Konsumkultur und ihren vorgestanzten Bildungsschablonen verliert der Mensch jedoch diese Fähigkeit – oder um es mit den Worten aus Topals Roman Gece Gülüşü [Das Lachen in der Nacht] auszudrücken: „Wir versuchen die Menschen zu verstehen. Menschen kann man nicht mit Ultimaten regieren. Der Mensch besteht seit seiner Geburt aus Chaos und ich scherze nicht, wenn ich sage, dass die verblüffendsten Fantasien im Kindesalter am weitesten fortgeschritten sind. Leider können wir das aber nicht völlig verstehen. Tatsächlich wurden diese Fantasien dem Vergessen anheimgegeben.“

In diesem Zusammenhang bedeutet Schreiben: den Mut aufbringen, sich der Realität zu stellen und das, was in Vergessenheit geraten ist, zu suchen, zum Vorschein zu bringen und zu präsentieren. Deshalb ist Semra Topals Beziehung zur Sprache mit der Kindlichkeit verknüpft: „Auf sich allein gestellt ist die Sprache hohl und morsch. Sie ähnelt einem stacheligen, glänzenden Material, das auf hartem Beton ausgebreitet wird. Vielleicht ähnelt sie auch einem Tier. Es ist wichtig, sie aufzuheben, zu schleifen, geschmeidig zu machen und wie ein Kind zu lieben. Nur die ‚Seele‘ kann das fertigbringen. Nur die Seele kann die Sprache ausfüllen und sie von Ort zu Ort tragen. Wenn ihr die Sprache gedankenlos anpackt, bricht sie zusammen und unterscheidet sich nicht von den Fenstern, die ihr ständig putzt. Die Sprache liegt im Leben selbst, sie atmet Leben bis ins Mark. Sie ist nicht wie Kleingeld, das ihr aus einer Büchse hervorholt und ausgebt, ohne darüber nachzudenken. Wenn ihr der Sprache keine Seele gebt, ist sie auf sich allein gestellt und hat keine Bedeutung.“[2]

In Topals Geschichte Bayan Mira’yla Ufak Bir Gezinti [Eine kleine Wanderung mit Frau Mira], versucht der Erzähler die Momente, Objekte und ihre Bedeutungen aus seinem Gedächtnis wie eine Patchwork-Decke zusammenzutragen, die aus alter Kinderkleidung besteht. Alles in dieser Geschichte ist wie in einem Kinderspiel, ist wie ein Gedanke aus der Kindheit oder wie die Märchen, die man Kindern erzählt. Sogar die Sprache dieser Geschichte ist am Stil von Märchen angelehnt. Der wandelnde Erzähler, der See, Frau Mira, der Hund, der Fuchs, Frau Miras Stiefel, die zu eng für ihre Füße sind und Feuchtigkeit durchlassen – all diese Bilder gehen ineinander über. Jedes Objekt, jedes Lebewesen, jedes Wort ist durchlässig. Der Erzähler wünscht sich mit Frau Mira Frau Mira zu sein, mit dem See der See zu sein, mit dem Fuchs der Fuchs zu sein. Weder der Erzähler noch Frau Mira können ohne eine Form der Verbundenheit leben. Frau Mira, „die unentwegt über ihren eigenen Körper stolpert“, kann nicht atmen ohne die „Kälte in ihrem Körper“ zu spüren und allem eine Bedeutung zu verleihen: „Ich sah nicht die Seen, die Bäume, das Eis oder die Vögel, sondern ich sah das grenzenlose Leben. Denn im Wald gegenüber steht Thomas Hardy und der Regen gehört Tarkovsky.“

Aus Topals Werken kann man den Wunsch herauslesen, sich von sämtlichen Erinnerungen und Assoziationen zu befreien, wie ein Kind alles neu zu entdecken und diesen Entdeckungen magische Bedeutung zu verleihen. Ein weiterer Wunsch bezieht sich auf das Wasser: „Glaubt ihr wirklich, ihr könnt den Fluss des Wassers stoppen? Der Traum, den man im wachen Zustand träumt, ist wie überquellendes Wasser. So etwas hast du noch nie gesehen. Stell dir vor, wie dein geliebtes Wasser in die Häuser eindringt und deine Stiefel füllt; stell dir das Wasser vor. Es soll kein einfacher Traum sein, aber es soll etwas sein, das mich vom Hocker reißt.“ In dieser Geschichte ist das Bewusstsein gegenüber der Natur machtlos. Frau Mira wäre im Angesicht der Natur bei normalem Bewusstsein bewegungsunfähig, sie würde erstarren. Die Natur schließt sie in ihren eigenen Rhythmus ein: „Genauso wie man Kindern hinterherrennt, die sich schlecht benommen haben, werde ich vom Regen verfolgt und sogar geschimpft und das nur, weil ich meinen Spaziergang überzogen habe.“ Das Wandern ist in dieser Geschichte eine hochbedeutsame Aktivität. Frau Mira, die wie ein Geist umherschwebt, der Erzähler, die Vögel, der Fuchs, der Hund und beinahe auch der Wald – sie alle wandern umher. Das Wandern schwingt in einem Rhythmus hin und her, in dem das Bewusstsein ausgeschaltet ist und in einer Art performativem Erinnern neuen Bedeutungen hinterherjagt – genauso wie es in unserer Kindheit der Fall ist: „Ich bin gekommen, um mich von all den Menschen, die ich gesehen habe, von all den Orten, an denen ich war, von all den Geschichten, die ich erzählt habe und von all meinen inneren Haltungen zu befreien. Ich bin gekommen, um die unauslöschlichen Gemälde im tiefsten Inneren zu zerreißen, die alles bisher Erlebte zusammentragen. Der Grund für mein Kommen ist so simpel wie unmöglich, aber ich bin nicht bloß deswegen hier. Ich handle niemals aus konkreten Beweggründen. Vielleicht bin ich auch nur hier, um zu wandern.“

Walter Benjamin drückte dies folgendermaßen aus: „Weil [die Kinder] dies aber rein sehen, ohne sich seelisch verdutzen zu lassen, ist es etwas Geistiges: der Regenbogen / bezieht es sich nicht auf eine züchtige Abstraktion, sondern auf ein Leben in der Kunst. [...] Die Kinder schämen sich nicht, denn sie haben keine Reflexion, sondern nur Schau.“[3]

[1] Interview mit Semra Topal in Mesele, Nr. 40., April 2010

[2] Interview mit Semra Topal in Varlık, Nr. 1018, Juli 1992.

[3] In: Ausgewählte Werke von Walter Benjamin, e-artnow, 2017 

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