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Seval Şahin
Die Worte am Leben erproben

Sevil Sahin
Sevil Sahin | Foto: Eray Ak

In der Literatur von Aslı Biçen fungieren die Wörter als Ziegelsteine. Wir können im metaphorischen Sinne miterleben, wie ein Haus Stein um Stein vor unseren Augen errichtet wird; wie der Text langsam wächst, um urplötzlich genau dort in sich zusammenzufallen, wo er sich in die Höhe erhoben hat. Denn eines der Hauptthemen in Biçens Geschichten ist die Macht. Verschiedenste Formen von Macht in der Liebe, der Ehe, der Freundschaft und natürlich auch in Führungspositionen durchdringen ihre Werke. Und Frauen haben einen großen Anteil daran. Die stumme Frau in Elime Tutun [Halte meine Hand], die plötzlich reden kann, die außergewöhnliche Jülide in İnceldiği Yerden [Dort, wo es nachlässt], die nach jahrelangem Verschwinden wieder aufgetauchte Saliha und Cemals boshafte Halbschwester, Cemile. Solche Konflikte unter Halbgeschwistern werden in Biçens Tehdit Mektupları [Drohbriefe] fortgeführt, wo eines der Geschwister ein Todesurteil über das andere fällt.

Tehdit Mektupları ist das extremste Beispiel unter den unterschiedlichen Erzählstilen, mit denen die Autorin arbeitet. In Elime Tutun bedient sie sich in ihrer Wortwahl, den Landschaftsbeschreibungen und Szenen eines Stils, der an eine Novelle erinnert. In İnceldiği Yerden verwandelt sich eine gewöhnliche Küstenstadt plötzlich in einen ganz besonderen Schauplatz, als sie sich durch ein Erdbeben vom Festland ablöst und als ein einsames Stück Land auf dem Wasser dahintreibt. In dieser Isolation wird deutlich, zu welchem Ausmaß an Gewalt machthabende Instanzen fähig sind. Tehdit Mektupları wiederum ist ein Roman, der sich aus Gerichtsprotokollen, Tagebüchern und Briefen zusammensetzt. Die Texte von Biçen navigieren mit Leichtigkeit zwischen poetischem Wahnsinn, plötzlichem Verstummen, fantastischer Fiktion und Kriminalgeschichte hin und her.

In Tehdit Mektupları werden offiziellen Gerichtsakten persönliche Briefe und Tagebucheinträge gegenübergestellt. Erwähnt werden die Tagebucheinträge der Staatsanwältin Ülkü, Cihans Briefe, die er an seine Freundin Hale schreibt und die Briefe von Cihans Vater, Bahattin, an seinen Sohn, die aber nie verschickt werden. Intimität und Förmlichkeit stehen auf diese Weise dicht beieinander. Ülküs Leben wird auf den Kopf gestellt, als sie in den Gerichtsverhandlungen erfährt, dass sie die Halbschwester von Cihan ist. Diese Tatsache treibt sie in den Wahnsinn und ihren Bruder in den Tod. Während Ülkü mit einer kaltherzigen Mutter und einem nationalistischen, autoritären Vater leben muss, pflegt Cihan eine liebevolle Beziehung zu seinem Vater und hat eine Geliebte, nach der er sich sehnsuchtsvoll verzehrt. Ülkü ist kurz davor, jemanden zu heiraten, den sie nicht liebt, während Cihan ganz damit beschäftigt ist, seine in Paris lebende Freundin zu vermissen. Ihre Gemeinsamkeiten beschränken sich nicht bloß darauf, dass sie sich den Vater und einen Gerichtssaal teilen. Sie lesen beide einen Text, der von Ülküs Mutter verfasst wurde. Von diesem Text existieren zwei Exemplare. Das erste findet Cihan zwischen den Habseligkeiten seines Vaters. Cihan schickt es an seine Freundin, in der Überzeugung, dass den Text eine Frau geschrieben hat. Ülkü findet das zweite Exemplar im Haus ihrer Großmutter und erfährt, dass ihre Mutter den Text verfasst hat. Er sorgt bei beiden für Verwirrung. Cihan wundert sich über seinen Vater und Ülkü über ihre Mutter. Die beiden Protagonist*innen geben jedes Mal eine unterschiedliche Version des Textes wieder. Eine ähnliche Situation beschreibt Biçen in Elime Tutun: Einen Text, der vieles im Unklaren lässt, geben zwei Charakteren mit geringfügigen Veränderungen unterschiedlich wieder.

Die Beziehung zwischen Ülkü und Cihan entspricht der Beziehung zu dem Text, der beide verbindet. Sie stammen vom selben Vater ab, wurden jedoch von unterschiedlichen Müttern geboren. In Biçens Werken ist die Halbverwandtschaft eine Möglichkeit, um genderspezifischen Rollen zu entkommen: Sie sind einerseits Geschwister, andererseits auch wieder nicht. In İnceldiği Yerden besteht zwischen Cemal und Cemile ebenfalls eine Halbverwandtschaft. Diese Art von Verbindung bewahrt die Charaktere vor einer Rollenverteilung, die die Gesellschaft ihnen ansonsten auferlegen würde. Die Wut von Cemile in İnceldiği Yerden und Ülkü in Tehdit Mektupları richtet sich auf ihre Brüder. Diese Wut wird sie zerstören und deshalb scheuen sie sich schließlich nicht davor, mit den machthabenden Instanzen zusammenzuarbeiten. In Tehdit Mektupları tut Ülkü als Staatsanwältin – anstatt Cihan gehen zu lassen – alles in ihrer Macht stehende, um seine Bestrafung zu forcieren. In İnceldiği Yerden geht Cemile eine Affäre mit dem unheimlichen Polizeipräsidenten der Stadt ein. Ülküs Mutter Şeyda Öncü in Tehdit Mektupları konnte ihrer Tochter keine Liebe entgegenbringen. Im Gegenteil beschwerte sie ihre Tochter mit der Last eines Lebens, das sie sich nicht ausgesucht hatte, und nährte so eine alles verzehrende Wut in ihr. Şeydas Trennung von Bahattin, dem leiblichen Vater von Ülkü, war die Konsequenz eines Missverständnisses. Beide Parteien fielen ihrem Stolz zum Opfer und verloren zu viel Zeit, um die Dinge wieder einrenken zu können. Wenn die Frauen in diesen Geschichten eine Beziehung zu machthabenden Instanzen aufbauen, so tun sie dies nicht aus Ergebenheit. Sie nutzen die Macht, um sich gegen die Rollenverteilungen von Mutter, Schwester, Ehefrau und Geliebte aufzulehnen. Aber mehr noch protestieren sie dagegen, dass die Figur der Schwester in der Literatur als „engelsgleiches“ Wesen dargestellt wird, das beschützt und behütet werden muss.

Ihre Wut macht Ülkü und Şeyda zu Vertreterinnen einer destruktiven Haltung, die nach Zerstörung trachtet. Gegen Ende des Romans werfen die Gerichtsaussagen von Şeyda und Ülkü Fragen über Bahattin auf. Diese offenen Fragen sind ein Beispiel für die Ungewissheit, die in allen Werken Biçens präsent ist. Die Protagonist*innen aller drei Werke besitzen eine undurchsichtige Seite. Diese Ungewissheit tritt vor allem bei den weiblichen Charaktere in Erscheinung: die stumme Frau in Elime Tutun, die braungekleidete Frau auf der Fähre aus demselben Roman, Saliha in İnceldiği Yerden und Ülkü in Tehdit Mektupları. Die Protagonistinnen verbergen immer etwas vor uns Leser*innen. Dieser Umstand nährt eine Ungewissheit, die die Texte beherrscht.

Tehdit Mektupları spielt in einer Zeit, in der der Militärputsch vom 12. September 1980 kurz bevorsteht. Die Beziehung von zwei Halbgeschwistern und die Beziehung zwischen Frau und Mann stehen stellvertretend für die Stiefbeziehung zwischen dem Staat und seinen Bürger*innen. Das Buch handelt davon, wie sich Verrat auf die Persönlichkeit des Individuums auswirkt. Und an diesem Punkt müssen wir bedenken, dass Tehdit Mektupları von einer Zeit erzählt, in der sich „Geschwister gegenseitig ans Messer lieferten“.

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