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Mehmet Fatih Uslu
Die verlorene Generation in der türkischen Literatur

Am Rande der Weltliteratur: Zabel Yesayan

Von Mehmet Fatih Uslu

Im neunzehnten Jahrhundert erlebte das Osmanische Reich einen beispiellosen Aufschwung der Literatur. Nicht nur im Türkischen, auch im Arabischen, Bulgarischen, Armenischen, Persischen, Griechischen und vielen anderen Sprachen zeichneten sich wichtige Wendepunkte in der Modernisierung der Literatur ab. Bei diesem fruchtbaren Aufeinandertreffen unterschiedlicher Literaturen, ihrer wechselseitigen Einwirkung und Verbreitung, spielte Istanbul eine zentrale Rolle. Die Stadt avancierte zu einer „Metropole der Weltliteratur“, gesegnet mit einem kulturellen Reichtum, der nur sehr wenigen Orten der Welt zuteil wird.

Die armenische Literatur ist einer der interessantesten Belege dieses Reichtums. Auf der Basis eines intensiven Austauschs mit westlicher Literatur, insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, schuf eine Vielzahl brillante Autor/-innen und Dichter/-innen Romane, Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke in einem zunehmend authentischen Armenisch, das sich von der klassischen Kunstsprache ablöste und dem Westen in nichts nachstand. Und eine der spannendsten Vertreter/-innen dieser Generation ist Zabel Yesayan.

Zabel Yesayan wurde im Istanbuler Stadtteil Üsküdar geboren und erhielt im Alter von 17 Jahren die Möglichkeit in Paris zu studieren: ein absolutes Novum, denn keine osmanische Frau hatte jemals zuvor eine Universitätsausbildung erhalten. Paris wurde für Yesayan zur zweiten Heimat, in der sie mit der dortigen literarischen Avantgarde in Berührung kam. Obwohl sie zwischenzeitlich immer wieder nach Istanbul reiste, fiel ihre endgültige Rückkehr wie bei vielen armenischen Intellektuellen mit dem Beginn der zweiten osmanischen Verfassungsperiode 1908 zusammen. Die Hauptstadt des Osmanischen Reiches entwickelte sich in der kurzen Zeitspanne bis zum Ersten Weltkriegs zu einer freien, produktiven und aufregenden, aber auch chaotischen und von Zweifeln geplagten Bühne der Kunst und des Intellekts. Und Yesayan war eine der prägenden Figuren dieser Szene. 

Als der Krieg ausbrach und die Tage von Leid gezeichnet waren, war Zabel Yesayan eine der beiden Frauen auf der Liste mit armenischen Intellektuellen, die am 24. April 1915 verhaftet werden sollten. Um dem zu entgehen, floh sie nach Bulgarien. Nachdem sie eine Weile in verschiedenen Ländern gelebt hatte, zog sie wieder nach Paris und schließlich 1933 nach Sowjetarmenien, in der Hoffnung, eine neue Heimat zu finden. Doch die Dinge sollten nicht so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatte. 1937 wurde sie im Zuge der Stalin’schen „Säuberungswellen“ verhaftet und verlor in den frühen 1940er Jahren unter bis heute ungeklärten Umständen ihr Leben.

Ungeachtet ihres stürmischen Lebens war Zabel Yesayan eine äußerst produktive Autorin, die unaufhörlich schrieb – von ihrem ersten Roman Isbasman Srahin Meç [tr. Bekleme Odasında, dt. Im Wartezimmer], der 1903 in Paris entstand, bis zu ihrem längsten Werk Barba Khaçig [tr. Khaçig Amca, dt. Onkel Khaçig] aus dem Jahre 1937, den sie kurz vor ihrer Verhaftung vollendete. Romane und Novellen machen den größten Teil ihres Schaffens aus, sie verfasste aber auch zahlreiche Erzählungen, Zeitzeugnisse, Erinnerungen und sogar ein Reisebuch.

Was macht nun Zabel Yesayan als Literatin so besonders? Bei der Betrachtung ihrer Arbeiten stoßen wir auf zwei grundlegende Dynamiken: Das erste Charakteristikum – und meines Erachtens das wichtigere – ist ihr Bestreben, die Frau und ihre persönliche, innere Welt durch die Literatur verstehen und ausdrücken zu wollen. Hier sind die wichtigsten Werke vermutlich ihre Novellen, die autobiografische Spuren aufweisen: größtenteils fragmentarische und impressionistische Texte aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin, in denen die Einheit von Raum und Zeit durchbrochen ist. Yesayans Erzählerinnen sind Heldinnen, die hartnäckig gegen die Erstarrung und Kaltherzigkeit der etablierten Ordnung kämpfen, die den Frauen die Freiheit nimmt und ihnen beim Versuch, eine eigenen Stimme zu finden, die Luft abschnürt. In diese Fiktionen, die auf einer experimentellen, kühnen und modernistischen Ästhetik basieren, arbeitet die Autorin auf subtile Weise die Verflechtung von persönlicher und sozialer Krise ein.

Ein weiteres wichtiges Merkmal ihrer Literatur ist Yesayans Wut über die Ungleichheit und Ausbeutung in der Gesellschaft. Schon in ihren frühen Texten ist diese Empörung über klassenbedingte Armut unschwer zu erkennen. Bezeichnend ist, dass diese Wut in Yesayans letzten Werken das zentrale Kennzeichen ihrer emotionsgeladenen Literatur werden sollte. Texte, wie sie weiter oben beschrieben wurden, schrieb Yesayan nicht mehr, als sie begann in Sowjetarmenien zu leben und sich dem sozialistischen Realismus der vorherrschenden Kunstideologie anzupassen. In den letzten Jahren ihres Lebens ging sie zu quasi ferngesteuerten, den Klassenzorn betonenden Texten über, um sich als wahre Soldatin ihrer „neuen Heimat“ zu profilieren, statt an jenen Werke anzuknüpfen, die sie zu einer starken Autorin gemacht hatten. Mit anderen Worten: Sie gab sich einer Art Propagandaliteratur hin.

Nicht unterschlagen sollte man angesichts der Turbulenzen ihres Lebens, dass Yesayan eine öffentliche Intellektuelle war. Unbeirrt versuchte sie, eine Lösung für die Probleme ihres Volkes zu finden und griff in einer von Männern dominierten Welt nach bestem Wissen und Gewissen in gesellschaftliche Angelegenheiten ein. In Zeiten akuter Krisen besteht die Funktion des Schreibens nicht zuletzt darin, „Zeugnis abzulegen“. Als Yesayan in der zweiten Verfassungsperiode mit großen Hoffnungen nach Istanbul zurückkehrte, fiel die armenische Bevölkerung Adanas 1909 einem Massaker zum Opfer. Yesayan schloss sich dem Roten Kreuz an, das die Region unmittelbar danach aufsuchte. Dort wurde sie Zeugin des unvorstellbaren Leids, das sie in ihrem berühmten Werk Averagneru Meç [tr. Yıkıntılar Arasında, dt. Zwischen den Ruinen, 1911] verarbeitete. Unmittelbar nach 1915 bereitete Yesayan die Veröffentlichung der Aussagen zweier Zeitzeugen vor, die die schrecklichen Ereignisse überlebt hatten. Mit derartigen Werken leistete sie Pionierarbeit für ein Genre, das in den folgenden Jahren zunehmend Verbreitung finden sollte. 

Zum Abschluss möchte ich Folgendes unterstreichen: Im Fall von Zabel Yesayan stoßen wir auf einen Schatz, der der Weltliteratur über viele Jahre verborgen blieb und selbst in armenischer Sprache nicht ausreichend Leser/-innen finden konnte. Yesayan ist Zeitzeugin der Zerstörung des Osmanischen Reiches und des unglaublichen Wandels der Sowjetunion in ihren Anfangsjahren. Gleichzeitig versucht sie, mit dem unglaublichen Schmerz umzugehen, den der Verlust ihres Heimatlandes mit sich brachte. Trotz dieses intensiven und schmerzhaften Lebens konnte sie dem aufregenden Abenteuer der Literatur ihrer Generation eine besondere Prägung geben, weil es ihr gelang, ihre eigene Stimme zu finden.
Yesayans Werke warten immer noch auf Leser/-innen, die einen derartigen Schatz entdecken wollen.

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