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Oylum Yılmaz
„Was suchst Du? Was wirst Du finden?“

Zeynep Kaçar: Kabuk [Die Hülle], Doğan Kitap, 2019

Von Oylum Yılmaz

Zuerst schlägt Euch eine Stimme ins Gesicht und obwohl mehrere Figuren reden, scheinen all diese Stimmen aus nur einer einzigen zu bestehen; die schwermütige Stimme einer einzigen Frau, sie ist traurig, sie regt sich auf, sie nimmt Vernunft an, wird aber gleichzeitig immer verrückter, sie weint, klagt und mit ihrem schallenden Gelächter betäubt sie Eure Ohren! Ist das eine technische Störung? Keine der Figuren ist verständlich. Wer steht mit wem in Verbindung? Saliha, Semiha, Efsun, Füsun...

Während die Namen – die sich noch dazu ständig vermischen, als seien sie miteinander identisch – ihre Generations- und Klassenzugehörigkeit, die Zeit, in der sie leben und ihr eigenes Alter nicht preisgeben, wird die Stimme immer lauter. Ist das hier vielleicht gar kein Roman? Es ist schwer, mit dieser dominanten Frauenstimme klarzukommen. Gerade als wir aufgeben wollen, beginnt sich die Stimme endlich zu zerteilen und schließlich offenbart sich vor unseren Augen die Geburt einer Geschichte über drei Generationen. Ich sage Geburt, weil Zeynep Kaçars Kabuk [Die Hülle] vor allen Dingen ein Roman ist, der von Mutterschaft handelt. Ein Roman über diejenigen, die ihre Mutter suchen, Waisenkinder in ihre Obhut nehmen, ihr Muttersein nicht im Griff haben und jene, die sich in ihre eigene Kindheit flüchten, jedes Mal, wenn sie zu Müttern werden...

Ist das denn in Ordnung? Wollten wir nicht die Frau jenseits der Mutterschaft denken und definieren?! Offensichtlich haben wir es mit einem Roman zu tun, der das politisch Korrekte beiseiteschiebt und sich auf die Realitäten des Körpers konzentriert. Ich sage es ganz klar: Zeynep Kaçar hört auf die Stimme ihres Herzens und setzt uns eine Geschichte vor, die betont, dass wir weder Weiblichkeit noch Männlichkeit ohne Mütterlichkeit denken können – und das ganz gleich, ob wir selbst Mütter sind oder nicht. Vielleicht sagt der Roman auch Folgendes: Es ist an der Zeit, diese Angelegenheit mit dem Verstand und dem Herzen anzugehen – mit den Realitäten des Körpers und den Feinheiten der Sprache, ohne sich in einer wie auch immer gearteten political correctness zu verheddern.

Wir lügen uns alle in die Tasche

Saliha, die Quelle der zersplitterten Einzelstimme, verlor bei einem Feuer in ihrem Haus zuerst ihre Schönheit, später ihren Sohn und zuletzt ihren Verstand. Zurück bleibt keine Mutter mehr, sondern eine ausgehöhlte Person, die in komatösem Zustand unaufhörlich vor sich hin redet und sich vor dem Leben in den Schlaf flüchtet. Die Stimme zerteilt sich und wird zu Sezin, der hübschen Tochter von Saliha, selbst wiederum Mutter von Semiş und Füsun. Sezin ist eine verzweifelte Mutter, von deren einst glücklicher Ehe nichts mehr übrig ist und deren Persönlichkeit vom Geist ihres ersten Kindes überschattet wird, das sie verloren hat. Ununterbrochen kocht sie und versucht, den Hunger in ihrem Herzen zu stillen, indem sie andere ernährt. Und schließlich Füsun, die mit dem Wahnsinn umzugehen versucht, der ihr von ihrer Mutter und Großmutter vererbt wurde, und mit einer Schwester lebt, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Füsun kämpft darum, dass man ihr genauso viel Liebe schenkt wie ihrer Schwester. Sie versucht, einen Körper, ein Leben und eine Seele für sich zu entdecken, indem sie sich am Bewusstseinsverlust, den nebulösen Erinnerungen und gebrochenen Herzen zweier Generationen von Müttern abarbeitet. Die Speisen ihrer Mutter, die Maschen, Stoffe, Fäden, Stickereien und Nähte ihrer Großmutter fliegen in der Luft umher. Zusammen mit der mysteriösen Tante Efsun, die niemand kennt, kämpft sie um ihr Überleben. Bis Efsun urplötzlich und zu einem höchst ungünstigen Zeitpunkt verschwindet und zu einem Geist wird...

Fortan befasst sich der Roman mit der Selbstsuche unserer Protagonistin Füsun, die die Stimmen unzähliger Frauen in sich trägt: „Immer diese Scheisshoffnung, die keinen Cent wert ist. Was suchst du, was wirst du finden? Falls du es findest, wird es dir reichen, wirst du damit ein Leben lang auskommen können? Nur noch das bisschen, mehr will ich gar nicht – wie oft wirst du dieser Lüge Glauben schenken? Wann hört der Wunsch endlich auf, nach etwas zu suchen, irgendetwas finden zu wollen? Diese Frau wird für immer glücklich sein, wenn sie den Mann findet, den sie sucht. Wenn jener Mann den Job bekommt, den er will, wird er bis zur Rente arbeiten, ohne sich zu beschweren. An dem Tag, an dem dieser junge Papiersammler einen Goldring findet, wird die Welt ihm gehören... Wir lügen uns alle in die Tasche.“

Füsuns Suche nach sich selbst kreist bis zum Schluss um Fragen des sozialen Geschlechts, des Körpers, der Mutterschaft – letztlich indirekt um die Familie. Die Suche der Protagonistin steuert in spannenden Szenen auf ein unerwartetes Ende zu, womit es der Autorin gelingt, eine Krimidramaturgie in die Geschichte einzubauen. Und sie schafft das, ohne sprachliche Ausdruckskraft einzubüßen.

In den Sätzen Kaçars verwandelt sich der Körper in eine Hülle, in der wir entweder Zuflucht suchen oder die uns immer weiter einengt, bis wir uns zerteilen. Zuerst stellt die Autorin eine Parallele zwischen Körper und Familie und danach zwischen Körper und Gesellschaft her. Die Hüllen gehen ineinander über, das Geschlecht, das den Körper umgibt, die Familie, die die sexuellen Identitäten umgibt, die Gesellschaft, die die Familie umgibt, der Staat, der die Gesellschaft umgibt – und ein Tier, das in all dem regungslos eingesperrt ist: der Mensch.

Ist unser Leben ein Melodram!?

Können wir Zeynep Kaçars Kabuk also einen Familienroman nennen? Können wir ihn zu den Werken zählen, die seit der Moderne und bis nach der Postmoderne verfasst wurden und von Wurzeln und Generationen erzählen? Es lohnt sich darüber nachzudenken. Familien- und Generationsromane bilden in der Regel einen Korpus, der sich auf die Gesellschaft, die Klassenstrukturen und die männliche Ordnung konzentriert, entweder Kritik übt oder weitergehende Überlegungen anstellt. Im Rahmen dieser Struktur stellt die Autorin die Kritik an der männlichen Ordnung in den Mittelpunkt und betrachtet die Familie aus der Sicht, den Gefühlen und der Stimme der Frau heraus. Sie verwandelt eine weibliche Sprache in eine weibliche Lektüre der Familiengeschichte. Ich denke, wir können Kabuk leicht in den Kontext solcher Geschichten um eine minoritäre Kernfamilie einordnen, die ihrerseits aus der Perspektive minoritärer Individuen geschrieben sind und in der letzten Zeit sowohl in der türkischen Literatur als auch in der Weltliteratur für Aufmerksamkeit gesorgt haben.

Last but not least möchte ich als Kritikerin und Literatin derselben Generation wie Zeynep Kaçar aber noch erwähnen, dass dieser Erstlingsroman ein Merkmal aufweist, das ihn von anderen Werken unserer Zeit abhebt. Die Familiengeschichten der neueren Generation handeln von der Geschichte eines Individuums, das versteinert, sozusagen frei von Emotionen, auf der Suche nach sich selbst ist, die Familie zur Diskussion stellt und sich in dieser Such- und Denkbewegung vom Leben losgelöst betrachtet. Eine Geschichte im herkömmlichen Sinn gibt es nicht mehr. Auflösungserscheinungen und fortwährendes Suchen beherrschen den Text. Die Geschichte fällt auseinander, das Individuum löst sich allmählich auf... Im Gegensatz dazu hat Kaçar lebendige Protagonist/-innen entwickelt, die die Herzen der Leser/-innen berühren und in ihnen weiterleben. Ihr Kummer, ihre Empörung, ihre Wut sind sehr real. So real, dass man glaubt, sie mit Händen fassen zu können. Es sind Sorgen, die an vielen Stellen die Augen der Leser/-innen mit Tränen füllen; der Herzschmerz der Protagonistinnen schärft den Stift der Autorin und verleiht der Geschichte einen Hauch von Melodram. Kurz gesagt, der Roman schafft es, das Herz der Leser/-innen anzusprechen, indem er die Grenzen der Fiktion überschreitet. Im Kern sagt er: Vielleicht ist das, was wir in der Familie suchen – jenseits von Zugehörigkeit, Selbstfindung, Zuflucht und dem Gefühl, gefangen zu sein –, die Liebe. Warum auch nicht?

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