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Ein literaturgeschichtlicher Blick auf ein imaginiertes Konzept
Was ist Heimat – und für wen?

Denise Henschel
© Denise Henschel

Von Denise Henschel

Ob in politischen Diskussionen, den Feuilletons deutschsprachiger Zeitungen oder einschlägigen Publikationen der Geistes- und Kulturwissenschaften: Heimat ist wieder in. Vielleicht war sie aber auch nie wirklich out; so oder so bleibt sie ein vielfaches und kontrovers diskutiertes Konzept. Dabei ist Heimat durchaus kein einheitlicher Begriff und unterging historisch immer wieder semantischen Bedeutungsveränderungen. Zunächst als juristischer Begriff verwendet, um vor allem das Recht auf Boden und Eigentum zu regeln, bildete Heimat laut den Herausgeber:innen des Bandes Heimat Revisited (2020) im 19. Jahrhundert zunehmend den Gegensatz zur urbanen Industrialisierung. Die bis heute wirkmächtige Idee von Heimat als idealisierter Idylle des einfachen Landlebens entsteht. In den sozio-politischen Umbrüchen hin zu einer Formierung des deutschen Nationalstaats diente der Begriff zunehmend auch der nationalen Identitätsbildung. Heimat wurde nun synonym mit dem, was als Deutsch definiert wurde. Unter den Nationalsozialisten rückte der Begriff im 20. Jahrhundert noch einmal näher an die faschistische Blut-und-Boden-Ideologie heran und wurde vor allem als rhetorisches Mittel zur Formierung einer „völkischen Identität“ verwendet. Heutzutage meint Heimat vornehmlich eine emotionale Dimension, die individuelle und kollektive Erinnerungspraktiken umfasst. Heimat ist in der Gegenwart ferner kapitalistische Vermarktungsstrategie und findet sich zunehmend auf Lebensmittelpackungen im Supermarkt. Daneben wird der Begriff in Klimadiskussionen gern als Gegenkonzept zum Globalen entworfen. Und seit 2015 erfährt die lokale Dimension von Heimat im Kontext von Migration und Flucht wieder größere Aufmerksamkeit.

Ebenfalls lohnt es sich, einen Blick auf die Literatur zu werfen, denn schon früh beinhalten die beschriebenen sozio-politischen Tendenzen auch den kulturellen Bereich: das imaginierte Heimatideal sollte vor allem durch die Sprache und Kulturproduktion hergestellt werden. Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal beschreibt, wie Heimat als utopische Idylle und als Gegenreaktion zum „Rationalismus der Aufklärung“ bereits im 19. Jahrhundert in Literatur und Philosophie Einzug findet. Verbunden mit Vorstellungen von Natur, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit bildet Heimat als verklärtes Konzept die Grundlage für eine gemeinsame deutsche Identität durch Sprache. Das bekannteste Beispiel hierfür sind die sogenannten Volksmärchen der Brüder Grimm. Bis heute ist es weit verbreitete Annahme, dass die Grimms ihre Märchen vom einfachen Volk im ländlichen Hessen gesammelt hätten. Das über Jahrzehnte hinweg stilisierte Image von den von Dorf zu Dorf ziehenden Brüdern, die deutschsprachiges Kulturgut sammelten, wurde jedoch in den 1970ern in der germanistischen Forschung revidiert. Fakt ist, dass die Grimms ihre Märchen vor allem aus ihren eigenen sozialen Kreisen, also vom Kleinbürgertum und der gebildeten Mittelschicht, sammelten, deren bürgerliche Vorstellungen und Werte bereits eingeflossen waren. Zudem waren viele von den Beitragenden eingewanderte Hugenotten aus Frankreich und generell erstrecken sich viele der Märchenquellen über ganz Europa. Der bekannteste Märchenforscher und emeritierte Professor der Germanistik, Jack Zipes, identifiziert darüber hinaus eine starke Editionspraxis bei den Grimms, die selbst noch einmal erhebliche Veränderungen an den gesammelten Texten vornahmen, um sie ihren politischen und philosophischen Werten anzupassen. Immer mit dem Ziel ein starkes, nationales Bürgertum durch die Verbindung zu den so hergestellten Traditionen und Ritualen und mit Hilfe der deutschen Sprache herauszubilden. Anhand der Versionen des Froschkönigs von 1810, 1812 und 1857 zeigt Zipes beispielsweise auf, inwiefern die Texte von den Grimms dergestalt umgeschrieben wurden, dass sie in der letzten Version kapitalistische Werte und Geschlechtervorstellungen des Bürgertums reflektierten. So sollten vor allem Kinder von Anfang an die bürgerlichen Wertvorstellungen von Eigentum, Geschlecht und einer patriarchalen Ordnung der Familie durch die Geschichten verinnerlichen. Märchen sind also immer schon ein übersetztes, dezidiert europäisches und verbürgerlichtes Kulturgut, ausgestattet mit einem Bildungsauftrag für die Sozialisierung guter deutscher Bürger:innen. Bis heute gelten die Brüder Grimm jedoch als Synonym deutschsprachigen Kulturguts und nicht anders lässt sich der Name der Zentralbibliothek der Humboldt-Universität Berlin erklären: Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum.

Heimat wird in der deutschsprachigen Literatur jedoch nicht nur verklärt und emphatisch aufgewertet, sondern vor allem in der Gegenwartsliteratur kritisch beleuchtet und hinterfragt. Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek ist einer der bekanntesten Autor:innen der Gegenwart, deren Oeuvre sich immer wieder mit den Mythen von Heimat, Nation und Volk auseinandersetzt. Bereits in einem ihrer ersten Drehbücher für den Dokumentarfilm Ramsau am Dachstein (1976), der als Auftrag des ORF im Rahmen der Serie „Vielgeliebtes Österreich“ entstand, zeigen sich sehr klar Jelineks Tendenz zu einer ästhetischen Praxis, die zu einer Dekonstruktion der Mythen von Natürlichkeit, Ursprünglichkeit und Kapitalismus beiträgt. Auch in den Werken des Preisträgers des Deutschen Buchpreises von 2019, Saša Stanišić, wird Heimat immer wieder ironisch-kritisch beleuchtet. So treibt beispielsweise die Dorfbewohner:innen in Vor dem Fest (2014) ein ominöser Einbruch in ihr „Haus der Heimat“ um.

Doch was bedeutet Heimat für diejenigen, die immer schon von ihr ausgeschlossen und als andere markiert werden? Die stets mit der Frage nach Herkunft konfrontiert sind? Für die das staatliche Fürsorgeprinzip nur willkürlich und eingeschränkt gilt? Genau damit beschäftigt sich der von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah herausgegebene Sammelband Eure Heimat ist unser Albtraum (2019). Aus der Perspektive „marginalisierter Lebensrealitäten“ legen zwölf Autor:innen und Journalist:innen die materiellen Konsequenzen für migrantisch gelesene, Schwarze, jüdische, muslimische und queere Menschen in Deutschland dar. Der Band ist damit auch ein Beitrag zu dem von der Philosophin Judith Butler entworfenen „Spektrum der Betrauerbarkeit“. In ihrem kürzlich erschienen Buch The Force of Nonviolence (2020) arbeitet Butler anhand dieses Spektrums die Machtdimensionen eines spezifisch europäischen Rassismus und dessen biopolitische Konsequenzen heraus. Auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur werden entsprechend dieses Spektrums Fragen nach (deutscher) Identität und den psychosozialen und physischen Folgen von Othering behandelt. So entwerfen beispielweise die beiden Romane Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) von Olga Grjasnowa und 1000 Serpentinen Angst (2020) von Olivia Wenzel anhand der Trauerarbeit der Ich-Erzählerinnen ein Psychogram der deutschsprachigen Öffentlichkeit – und stellen damit ihren Zeitgenoss:innen wichtige Fragen: Wer darf trauern, wer darf betrauert werden und auf welche Art und Weise? Mithu Sanyals Identitti (2021) und Sharon Dodua Otoos Adas Raum (2021) nähern sich dem Komplex der Identität vor allem aus einer matrilinealen und global-transkulturellen Perspektive an. Und in Olga Grjasnowas Die juristische Unschärfe einer Ehe (2014), Hengameh Yaghoobifarahs Ministerium der Träume (2021) und Sasha Marianna Salzmanns Außer Sich (2018) treiben die Protagonist:innen Fragen von queeren Familienpraktiken, also wie anti-patriachales, queeres Homemaking möglich sein und erzählt werden kann, um. Bei all diesen Romanen sind dabei sehr verschiedene ästhetische Praktiken festzustellen – was sie jedoch über ihre thematischen Fragestellungen verbindet, sind ästhetische Formen von Eigenwissen, die es erlauben herkömmlich tradierte Wissensformen und Heimatbegriffe durch die Literatur zu verändern.
 

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