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Heimatliteratur

Tanil Bora
© Mehmet Kaçmaz

Wir können den Begriff „Heimatliteratur“ als Beinamen oder Zweig der in den Anfangsjahren der Republik entstandenen literarischen Strömung der „nationalen Literatur“ betrachten. Eingebettet in den Entstehungsprozess des türkischen Nationalismus trat die Maxime der nationalen Literatur zu Beginn der 1910’er Jahre in Erscheinung und wurde dann in der Republik geradezu zur offiziellen literarischen Strömung. Die Literaturhistorikerin Berna Moran fasst diese Strömung mit zwei Grundsätzen zusammen: „Zum einen das Prinzip der Orientierung an nationalen Themen, an heimischem Leben; zum anderen die Neubewertung der auf der mündlichen Überlieferung basierenden Volksliteratur…“

Die Grundsätze, die ein anderer Literaturhistoriker, Rauf Mutluay, aufzählt, um das Selbstverständnis der „Heimatliteratur“ zusammenzufassen, lesen sich wahrlich wie eine minutiös zergliederte Darlegung der „nationalen Literatur“: „Die Literatur über die Grenzen Istanbuls hinaustragen, die Wirklichkeiten unseres Volkes und unserer Geschichte reflektieren, anstelle der Schriftsprache die Lebendigkeit der gesprochenen Sprache stellen, von den traditionellen Elementen der nationalen Literatur profitieren, ein Bewusstsein dafür entwickeln, die türkische Sprache keinerlei formalen Anforderungen zu opfern, am populistischen Idealismus des republikanischen Regimes teilhaben.“

Die Feinschattierung zwischen „national“ und „Heimat“ liegt im Populismus und in der geographischen Sensibilität. Die Heimatliteratur fokussiert sich darauf, das Volksantlitz der Nation nach außen zu kehren, das Wesen des Nationalen zu popularisieren und die Vorstellung von nationalem Leben mit dem Alltagsleben des Volkes zu verbinden und in eine konkrete, lebendige Geographie des Vaterlands zu überführen.
Die seinerzeit auf ein breites Echo stoßende Maxime des konservativen Dichters Yahya Kemal, die von der „Rückkehr aus der Schule in die Heimat“ sprach, deutet auf einen weiteren Aspekt der literarischen Nationalisierung hin: Eine Abkehr vom Akademischen und Didaktischen und eine Hinwendung zur lebendigen Erfahrung, damit verbunden das Bestreben, Nachahmung zu vermeiden und authentisch zu sein. Ahmet Hamdi Tanpınar, der auch zu Yahya Kemals Schülern gezählt wird, sagt dazu: „den Mut besitzen, man selbst zu sein…“

Die Heimatliteratur eröffnete der nationalen Literatur vor allem eine Möglichkeit, sie stoß ihr das Tor nach Anatolien auf. Das selbstgesteckte Ziel war es, aus Istanbul hinauszugehen, der Stadt, die mit Weltläufigkeit und einem dem Nationalen gegenüber unempfänglichen okzidentalistischen Elitismus beleumdet war, und die Heimat in all ihrem Umfang zu entdecken und zu romantisieren. Um mit dem Maler und Dichter Bedri Rahmi Eyüboğlu zu sprechen, „wartete die Heimat auf Schriftsteller, die sie besangen und beschrieben“ und wir waren „als Nation gesamtheitlich schuld daran“, dass wir es versäumten diese Erkundung der Heimat anzutreten. Wir kannten unsere Heimat nur „vom Hörensagen“. Die Gleichgültigkeit gegenüber Anatolien, die Unkenntnis Anatoliens war ohnehin ein nationaler Makel, den die Ideologie der Republik dem Osmanischen Reich als seit Jahrhunderten bestehendes Versäumnis vorhielt. Mit den Worten von İsmail Habip Sevük hatten die kosmopolitischen osmanischen Eliten „keine Heimat im eigenen Vaterland“. Von der Heimatliteratur wurde erwartet, dass dieses nationale Versäumnis wiedergutgemacht wurde. Der Begründer der nationalistischen Ideologie Ziya Gökalp definierte den Roman im Jahre 1924 als ein „mit Leben gefülltes Museum“ und verleiht damit seiner Auffassung Ausdruck, die Literatur sei als Dokumentationsaktivität des Seins der Nation zu begreifen.   

Diese Erwartungshaltung rückte die Heimatliteratur de facto in unmittelbare Nachbarschaft zur Reiseliteratur, sorgte sogar für einen fließenden Übergang. Zahlreiche Literaten, unter ihnen vornehmlich Reşat Nuri Güntekin, Refik Halit Karay und Nahid Sırrı Örik haben Reiseeindrücke aus Anatolien im Stile literarischer Essays verfasst. Wir können diese Aufzählung noch um Yurttan Yazılar des Literaturhistorikers İsmail Habip Sevük und Beş Şehir von Tanpınar erweitern.

Sowohl an solchen Erzeugnissen der Heimatliteratur, die es in den literarischen Kanon geschafft haben wie Ateşten Gömlek (Halide Edip Adıvar), Çalıkuşu, Yeşil Gece (Reşat Nuri Güntekin), Yaban (Yakup Kadri Karaosmanoğlu) oder Kuyucaklı Yusuf (Sabahattin Ali) als auch an Werken der gerade erwähnten Reiseliteratur zerrt das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen der erwarteten „Lobhudelei auf die Heimat“ in den Beschreibungen Anatoliens einerseits und den schwermütigen Darstellungen der „maroden Verwahrlosung“ der Heimat andererseits. In beiden Fällen begegnet uns stets ein Exotismus – denn schlussendlich kommen die Autoren aus Istanbul und sind nur zu Besuch in der Provinz.

Örik zum Beispiel, der ein etwas distanzierteres Verhältnis zum republikanischen Revolutionismus unterhält, beschreibt Anatolien als zur Gänze verwahrlost, „kraftlos“, „glanzlos“ und von „an Besuchern desinteressierter“ Verwilderung und Teilnahmslosigkeit geprägt. Kayseri beispielsweise erwecke „einen nahezu arabischen Eindruck“. Refik Halit Karay vergleicht die „verlassenen“ abgelegenen Gegenden Anatoliens mit dem Libanon, wo er einige Zeit im Exil verbrachte und beschwert sich über die Abwesenheit von blühenden Ortschaften voller Lebensfreude, sauberen, angenehmen Hotels und Restaurants. Die Orte, an denen er Gefallen findet, vergleicht Karay mal mit Istanbul, mal mit Landschaften Europas und drückt so seine Begeisterung aus: „der ertragreichste, prosperierendste `Westen` unserer Türkei erinnere zum Beispiel stark an die Normandie Frankreichs“. Ähnlich verhält es sich auch mit anderen Orten. Das Filyos-Tal ähnele der italienischen Schweiz und die „Zukunft“ von Abant dem Genfer See…

Der Romanautor Reşat Nuri, der die Landschaften des Landes und ihre „Verwahrlosung“ kritisch beäugt, antwortet auf die Reaktionen, die er erhält damit, dass er sagt, so wie es Unterschiede darin gebe, wie man Menschen liebt, so gebe es eben auch unterschiedliche Arten der Liebe zur Heimat. Seine Art zu lieben sei eben von „skeptischer und gewissenhafter“ Natur, und er zöge diese Art der Liebe jener vor, die „den Gefahren und Unvollkommenheiten idealistisch den Rücken kehre“.

Schließlich besteht ein Fingerzeig der Heimatliteratur darin, die nationale Sensibilität –nach der sich auch die Strömung der nationalen Literatur sehnte- sowie den Nationalismus auf realistische Fundamente zu stützen. Bedri Rahmi spricht davon, dass „eine Heimatliebe, die sich nicht auf offenkundige Kenntnisse beruft, völlig ohne Wurzeln und fruchtlos erscheint und der Gedanke daran einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt.“ Der Philosoph Hilmi Ziya Ülken betont die Bedeutung von Sagen, einer nicht versiegenden Quelle der Heimatliteratur, als „Möglichkeit, an die Wurzeln eines fundierten und gelebten Nationalismus zu gelangen.“ Dadurch könne es gelingen, uns vor „islamischen Einheitsbestrebungen, pantürkischen Großmachtphantasien, ja sogar vor der Sehnsucht nach dem Osmanischen Reich als Relikt der Tanzimat-Reformen sowie vor europäistischer Donquichotterie“ zu retten.

Nicht nur die modernistischen und „humanistischen“ Nationalisten, die sich vom konservativen Nationalismus distanzieren, sondern auch die anatolistischen, konservativen Nationalisten suchen in der Heimatliteratur einen Ankerpunkt für ihr eigenes, „positives“ Nationalismusverständnis. Aus diesem Blickwinkel liegt der Nullpunkt der nationalen Geschichtsschreibung in der Schlacht von Malazgirt 1071, welche die Besiedelung Anatoliens durch die Seldschuken (und Turkmenen) einleitete. Die Heimaterde, welche die anatolisch-türkische Nation innerhalb der historischen Erfahrung geformt hat, wird als physisches wie auch metaphysisches Gründungsmoment betrachtet. Einer der Vorreiter des anatolistischen Nationalismus, Remzi Oğuz Arık, formuliert die Reisebemühungen der Heimatliteratur zur Erkundung und Erforschung des Heimatlandes als nationale Pflichtaufgabe: „Mädchen und Jungs, die ihr euch Nationalisten nennt! Haltet die Wahrheit der Heimat in euren Händen, lernt sie mit euren Füßen, euren Augen kennen! Reiset, los jetzt, reiset!“ Der Grundsatz „von der Geographie zur Heimat“, der auch als Titel eines der Bücher von Arık dient, formuliert die Liebe zur und das Interesse an der Heimat, das auch bei der Literatur in Auftrag gegeben wird, als einen Akt der Vaterlandsliebe.  

Wir sehen aber manchmal auch, dass sich in der Heimatliteratur, besonders in den Heimatbeschreibungen der Reiseliteratur, die Aufmerksamkeit in umgekehrter Richtung verschiebt: von der Heimat hin zur Geographie. Refik Halit zum Beispiel fordert in seinen Texten, die Freude an der Natur und den Landschaften einflößen, beinahe dazu auf, das Vaterland nicht nur als Raum der Nation, nicht nur als eine Landkarte wahrzunehmen, sondern als wirkliches geographisches Gebilde, als ein Habitat mit seinen Flüssen, Bergen und Städten.

Der humanistische Übersetzer, Redakteur und Essayist Orhan Burian zieht einen ähnlichen Horizont heran, wenn er Parallelen zwischen der Heimatliteratur und der amerikanischen Grenzliteratur feststellt. Genau wie die amerikanische Grenzliteratur sollte auch unsere Heimatliteratur dazu dienen, „die Heimat vom einen Ende bis zum anderen langsam kennenzulernen, mit ihrer Geschichte, Geographie, Flora und Fauna, Geologie, Ökonomie, Ethnologie und Folklore…in all ihren Facetten.“ Yahya Kemals Fußnote, dass an dieser Stelle die Maxime „Rückkehr aus der Schule in die Heimat“ nicht „notwendigerweise als Behauptung eines Nationalisten“ zu sehen sei, ist durchaus nicht bedeutungslos. Er fuhr wie folgt fort: „Selbst die, die am weitesten links stehen, werden wohl anerkennen, dass Literatur immer nur als Ausdruck einer Gemeinschaft und eines Klimas existieren kann.“

Die Literaturkritikerin Jale Parla stellt fest, dass Nâzım Hikmets Epos (oder lyrischen Roman) Memleketimden İnsan Manzaraları auf national aufgeladene Begrifflichkeiten wie Vaterland verzichtet und das „deutlich neutralere“ Wort „memleket“, Heimat, verwendet. In seinem Narrativ ist Heimat Ausdruck für eine utopische Möglichkeit: Die Hoffnung darauf, gemeinsam ein Land zu erschaffen, in dem die Menschen in Gleichheit und Wohlstand glücklich leben können. Heimat beschreibt das Potential und die Kraft hinter diesem künftigen und imaginären Land. Wir hatten bereits erwähnt, dass die Heimatliteratur eine populistische Interpretation der Strömung der nationalen Literatur darstellt. Bei Nâzım Hikmet sehen wir, dass sich diese Interpretation in einen sozialistischen Populismus umwandelt. Behçet Çelik macht uns darauf aufmerksam, dass auch Sabahattin Ali dazu auffordert, die Gründe hinter dem in der Heimatliteratur beschriebenen Elend zu erforschen und formuliert als Bedingung für die Überwindung dieses Mangels ein gelebtes Mitgefühl mit denjenigen, die diesem Elend ausgesetzt sind, und sieht die Bedingung dafür wiederum darin, über ein Gleichheits-, ein Gerechtigkeitsempfinden zu verfügen.

Tanpınar bezeichnete 1959 die Heimatliteratur, die Karay, Reşat Nuri und andere in die Nähe von Maupassant gerückt hatten, als „bescheidenen Realismus.“ Die nächste Stufe der Heimatliteratur ist aus seiner Sicht –an dem Beispiel Sabahttin Alis festgemacht- der „soziale Realismus.“ Es ist sicher wert zu bemerken, dass Tanpınar bei dem Auftreten dieser Tendenz den Einfluss von Steinbeck und des amerikanischen Romans (Grenzliteratur?!) erwähnt. Auch ein weiterer Einflussfaktor, den er anspricht, ist nicht unwichtig: „Der Einzug der Literatur nach Anatolien, Gegend um Gegend das Heranwachsen eigener anatolischer Autoren.“ Als Beispiele führt er auf: Orhan Kemal, Yaşar Kemal, Samim Kocagöz, Kemal Bilbaşar…

Die beiden Erstgenannten stammen aus Çukurova und gehören ohne Zweifel zu den „großen“ und bleibenden Namen der türkischsprachigen Literatur. Die beiden Letztgenannten wurden in den sogenannten „Dorfinstituten“ ausgebildet und ebneten der Strömung des „Dorfromans“ maßgeblich den Weg. Der Dorfroman entwickelte sich zu einem Zweig des sozialen Realismus, der bis in die 1970’er Jahre hinein große Wirkung gezeigt und danach an Aktualität verloren hat. In jedem Fall aber lässt sich sagen, dass der soziale Realismus, der aus der Heimatliteratur hervorgegangen ist, diese als Strömung hinter sich gelassen hat.

„Heimatliteratur“ ist ein Thema der Literaturgeschichte; heutzutage gibt es eine solche Diskussion nicht. Damit einhergehend können wir jedoch festhalten, dass manche Themen aus ihr geblieben sind: Zuvorderst die Istanbul-Zentriertheit und das Interesse oder Desinteresse der Provinz…Im Zusammenhang mit dem Einfordern der Anerkennung der kurdischen Identität und der Entwicklung der Auseinandersetzung mit diesem Thema hat die Sicht der Literatur auf die kurdische Geographie oder auch ihr Nicht-Hinsehen Eingang in die aktuelle Diskussion gefunden. Auch bei den kleinen Reflexionen ökologischer Sensibilität auf die Literatur, die im vergangenen Vierteljahrhundert zu keimen begann, können wir die Spuren einer entfernten thematischen Verwandtschaft mit der Heimatliteratur erkennen. Ich denke, dass die Diskussionen um die Heimatliteratur und die damit verbundene Akkumulation an wertvollen Beiträgen auch eine Tür der Neugier und des Interesses an einem nicht-nationalistischen Begriff der „Heimat“ geöffnet hat, obgleich an ihrem Anfang nationalistische Motive gestanden haben. Eine Tür zu einer Neugier, die jenes Auge der Literatur offen hält, das die physische und menschliche Geographie fest im Blick hat…

QUELLENANGABE 

Beyatlı, Yahya Kemal: Edebiyata Dair, İstanbul Fetih Cemiyeti, İstanbul 1990 (3. Baskı).
Çelik, Behçet: “Sabahattin Ali’nin öykülerinde insan ve ülke manzaraları, ” Ateşe Atılmış Bir Çiçek içinde, Can, 2012, s. 161-182.
Eyüboğlu, Bedri Rahmi: Dost Dost, T. İş Bankası Kültür Yayınları, İstanbul 2004.
___________________: Sabır ile Koruk, T. İş Bankası Kültür Yayınları, İstanbul 2008.
Karay, Refik Halit: Kırk Yıl Evvel Kırk Yıl Sonra Anadlu’da. İnkılâp Yayınları, İstanbul 2014.
Moran, Berna: Türk Romanına Eleştirel Bir Bakış – 2. İletişim Yayınları, İstanbul 2019 (22. Baskı).
Mutluay, Rauf: 50 Yılın Türk Edebiyatı, T. İş Bankası Kültür Yayınları, İstanbul 1973.
Parla, Jale: “Alegoriden Mesel’e: Türk Romanında Anadolu’nun Kayıtları, ” Uysal, Zeynep (yay. haz.): Edebiyatın Omzundaki Melek içinde, İletişim Yayınları, İstanbul 2017 (2. Baskı), s. 317-337.
Tanpınar, Ahmet Hamdi: Edebiyat Üzerine Makaleler, Dergah Yayınları, İstanbul 1977 (2. Baskı).


 

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