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Deutschland 2021: Race, Identität und Gender
Eine Rezension zu Mithu Sanyals Identitti

Denise Henschel & Mithu Sanyal
© Foto: Denise Henschel: Denise Henschel; Foto: Mithu Sanyal: Guido Schiefer

Von Denise Henschel

Gerade noch für ihren Blog Identitti vom Deutschlandfunk interviewt, bricht für die Studentin Nivedita Anand eine Welt zusammen, als sie erfährt, dass die von ihr vergötterte Professorin für Postkoloniale Studien, Saraswati, nicht nur ihren Namen, sondern auch ihre Hautfarbe geändert hat. Bis zu ihrem Debunking gilt Saraswati nicht nur als die Koryphäe auf dem Gebiet der Postkolonialen Studien, sondern wird auch allzu gern wegen ihres medienwirksamen Auftretens für Debatten zu Identität und Rassismus von nationalen und internationalen Medien interviewt. Das Problem jedoch: bis dato tat sie dies als Person of Colour und verheimlichte damit, dass sie als weiße Sara Vera aufwuchs.

Von dieser Lüge ausgehend, entspinnt sich eine turbulente Geschichte, in der die Ich-Erzählerin Nivedita, ihre Cousine Priti und ihre Studienfreundin Oluchi in hitzigen Diskussionen online und offline festzuhalten versuchen, worin eigentlich genau der Verrat ihres großen Vorbildes besteht. Diese Mehrdimensionalität reflektiert der Roman dabei anhand unterschiedlicher Diskussionsebenen: von Blogeinträgen, Tweets, Zeitungsartikeln und Interviews bis hin zu Zitaten aus dem Standardwerk Postkolonialer Lektüren entsteht so ein vielschichtiges Textpotpourri, das sich in den diversen Schriftarten und Formen widerspiegelt. Dieses Amalgam verschiedener Stimmen speist sich dabei auch aus ganz realen Beiträgen von Journalist:innen wie Ijoma Mangold, Simone Dede Ayivi oder Antje Schrupp. Der Roman überschreitet damit selbst immer wieder die Grenze zwischen Fiktion und Realität und wird dadurch auch zu einer Form Digitalroman im Geschriebenen.

Neben den großen Fragen von Identitätspolitik und race geht es für Nivedita und ihre Freundinnen aber auch ganz konkret um einen großen Verlust. Denn in Öffentlichkeit und Institutionen wie der Universität gibt es neben Saraswati viel zu wenige BIPOC Vorbilder. Und haben sie gerade eben noch mit Snacks und Gin Tonic den Fernsehauftritten ihrer berühmten Professorin feierlich beigewohnt, müssen sie sich nun mit genau diesem schmerzlichen Verlust auseinandersetzen. Wieder einmal. Denn was der Roman vor allem aufzeigt, ist die ständige emotionale Arbeit, die Nivedita, Priti und Oluchi leisten müssen. Dabei verbindet sie eine Form emotionalen Wissens miteinander – und dieses trennt sie dann eben doch irgendwie von Saraswati und ihren weißen Freundinnen Barbara und Lotte. Anhand der Reflektionen und Kommentare von Nivedita wechselt der Roman hierbei immer wieder zwischen der erzählenden und reflektierenden Ebene ab. Und es ist genau diese Beweglichkeit, in der sich Nivedita stets befindet, um den Formen von Othering, Rassismus und Diskriminierung begegnen zu können, in die der Text die Lesenden mitnimmt. Es ist eine der großen Stärken des Romans, nicht locker zu lassen, hinzuschauen und gerade, wenn man denkt, irgendwo angekommen zu sein, noch einmal weiter herumgewirbelt zu werden. Die Wut, Enttäuschung und Verzweiflung der Protagonist:innen werden so mit den Lesenden durch den Text geteilt. Denn auch so viel wird klar: Rassismus ist eben kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem. Und diese Struktur zeigt der Roman im Besonderen durch seine Erzählweise auf.

Doch Saraswati ist besonders für Nivedita und Oluchi nicht nur Professorin und akademisches Vorbild; sie ist auch eine Art Mutterersatz. Denn was die beiden miteinander teilen, ist weiße deutsche Mütter zu haben, die zwar irgendwie feministisch sind, sich dann aber nicht genug mit der spezifischen Position ihrer mixed-race Töchter auseinandersetzen. Die Passivität der Väter spiegelt diese Unsichtbarkeit von Erfahrungswissen indes nur noch einmal wider. Denn obwohl Nivedita und Oluchi in Deutschland großgeworden und stets mit der Frage ihrer Herkunft konfrontiert sind, erlernen sie erst durch Saraswati an der Universität eine Form von Wissen und Vokabular, das ihnen hilft, mit genau dieser an sie herangetragenen Diskrepanz und den Verletzungen umzugehen. Der Roman zeigt damit sehr feinfühlig das intersektionale Zusammenspiel von Gender und race auf und leuchtet dafür verschiedene gesellschaftliche Ebenen aus – von der Familie bis hin zur Globalität des Internets.

Der Terroranschlag in Hanau stülpt sich dann am Ende in seiner vollen Gewalt und Unfassbarkeit gleichermaßen den Protagonist:innen als auch den Lesenden über. Der Text erhält damit eine materielle Wirklichkeit und wird so selbst zu einem Ort des Gedenkens, das in der Realität von Politik und Öffentlichkeit eben nicht stattfindet. Am Ende, das macht der Roman deutlich, sind all diese Fragen eben nicht nur theoretisches Herumdiskutieren, sondern haben auch ganz konkrete materielle Auswirkungen für diejenigen, die als andere in der Öffentlichkeit markiert werden. Und dies ist und bleibt ein gesellschaftliches Problem.
 

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