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Zeugin des Verschwindens eines ganzen Landes: Yalnız [Alleine]

Cansu Canseven
© Zeynep Kayahan

Von Cansu Canseven

Die Geschichte einer Frau, die eines Morgens von den bedrückenden Wirklichkeiten aufsieht und bemerkt, dass sie dort, in jenem Land, das ihr als Heimat bekannt war, unsichtbar geworden ist...Die Geschichte all jener Frauen dieses Landes, die unterdrückt werden, deren Träume beschnitten und deren Leben gefährdet sind, zum Schweigen gebracht, zuhause eingesperrt, verkauft, die Zweit- und Drittfrauen ertragen sollen, die vergewaltigt wurden und dies schweigend hinnehmen mussten, die Geschichte aller vom Leben verbitterten Frauen. Gleichzeitig aber auch die Geschichte einer Kultur und eines Landes, das von den Herrschenden verwandelt, verändert, ausgelöscht wurde. Die Geschichte auch des alten Istanbuls ein wenig, zum Teil der Istiklal Caddesi, manchmal die von Bursa aber auch und vor allem die Geschichte jener Straßen, Gesichter und Orte, die die Türkei in eine Stadt des Mittleren Ostens verwandeln, die Geschichte der arabischen Werbetafeln, die den Platz der türkischen eingenommen haben. Das Bildnis einer Transformation, des Verschwindens der Frau und des Landes im Fluss der Zeit. Genauso wütend wie traurig, so hoffnungsfroh wie unglücklich. Die Silhouette der Unsichtbaren, der leblose Körper, der den Platz derer einnehmen wird, die wir verloren haben. Gleichzeitig auch die von Defnes Mutter und Velis Frau. Vor allem aber ihre, also Ferays Geschichte: Yalnız [Alleine]
Wie Samsa.

In ihrem zweiten Roman Yalnız lässt Zeynep Kaçar ihre Leser –entlang einer Familiengeschichte, die sich, 1989 beginnend, bis ins Jahr 2018 erstreckt-  teilhaben an den Erlebnissen der Protagonistin Feray, ihres Mannes Veli Kaplan, ihrer Tochter Defne, ihrer Freundin Özden, von Esma, Mehlika Kaplan und ihrer Schwägerin Havva Kaplan und portraitiert im dauernden Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart die Verwandlung eines Landes und einer Frau. Der Roman beginnt damit, dass die Leser Zeugen eines Mordes werden, der im Jahr 2018 verübt wird. Die Autorin erzählt diese Geschichte in Verbindung mit Schilderungen der frühen Jugendjahre der Protagonistin, ihrer Ehe, Feray als Mutter und Frau, den Veränderungswehen und liefert Begründungen für diesen Mord und alle anderen Entscheidungen, die Feray fällt: Geistige Führer, Menschen, die sich von der Wissenschaft entfernen und sich Hilfe von Gebeten erhoffen anstelle von Medikamenten, Zweit- und Drittfrauen, die von der Religion akzeptiert werden, ihr Ehemann, der nicht Herr seiner Triebe ist, die Geschichten über ihre Tochter, die ihr entrissen wurde.    

Während Feray aufbricht, um nach ihrer Tochter zu suchen, rechnet sie einerseits mit den falschen Entscheidungen ihrer Vergangenheit ab, andererseits wird sie in den gentrifizierten Straßen Istanbuls Zeugin des Verschwindens eines ganzen Landes.

Die Veränderung und Verwandlung eines Landes

Mit neunzehn Jahren, als sie sich ihren Traum verwirklicht und noch auf der Bühne des ersten Rockkonzertes, das sie gemeinsam mit ihrer seit Internatszeiten besten Freundin Özden gibt, wird Feray ohnmächtig. Sie wird ins Krankenhaus gebracht und als sie dort ihre Augen öffnet sieht sie als erstes Veli und verliebt sich in ihn. Noch in der Blüte ihrer Jugend heiratet sie und wird die Ehefrau dieses Mannes. Dass der Mann Arzt ist, ein Wissenschaftler, und sie angehende Physiklehrerin, bestärkt sie in ihren Zukunftsträumen und lässt sie ihrem gemeinsamen Leben entgegenfiebern. Doch das Leben entwickelt sich nicht so wie von ihr geplant. Ihr Mann erweist sich nicht als der Mensch, den sie vermutet hat und entfernt sie mit stereotypen Vorstellungen zunächst von Istanbul, von den lebendigen Straßen der Stadt und bringt sie nach Bursa. Nicht nur unterstützt er sie nicht bei ihrem Wunsch, Lehrerin zu werden, er sperrt sie im Haus ein, nimmt ihr das gewohnte Umfeld, nimmt ihr die Tochter weg, die sie geboren hat und setzt seine Frau fest in einer komplett anderen Welt. Feray schweigt, sieht nicht hin, versucht in einem kleinen Zimmer der Wohnung alleine weiterzuleben. Sie wird nicht verrückt, sie wacht auf. Sie versucht, sich in der Kiste, in der sie eingeschlossen ist, aufzubäumen, den Kopf zu heben und Luft zu bekommen. Dass sie sich nicht nur von ihrem Beruf oder von Istanbul verabschiedet hat, indem sie diesen Mann heiratete, sondern auch von der Musik, wird ihr später klar, aber da ist es schon zu spät. Dass Musik eine Sünde ist lernt sie von ihrem Mann.

Während wir über den ganzen Roman die Geschichte der viele Jahre dauernden persönlichen Lebensreise und Abenteuer von Feray lesen, werden wir gleichzeitig auch Zeugen der Veränderung und Verwandlung des Landes. Waren wir eben noch plötzlich im Ortaköy des Jahres 1994, in Beyoğlu, in Cihangir, auf der Sıraselviler, in Kemancı, auf der Beyoğlu Caddesi und liefen dort aufgeregt, überschwenglich durch die Straßen und freuten uns oder saßen in einem der berühmten Läden des Viertels, erwartet uns 20 Jahre später, angekommen im Jahr 2018, eine ganz andere İstiklal Caddesi.   

1994 sagt Feray: „Ich schaue mich um ohne zu wissen, wohin ich schaue. Ich sehe mir alles an, jede Farbe, jedes Gesicht eines Menschen, jedes Schaufenster, jedes Kinoplakat, die Pflastersteine, die Bäume, die Gerüche, die kleinen Gassen. Hier ist eine großartige Welt. Ich fühle mich, als sei ich nach Hause zurückgekehrt.“ (S.45) Denselben Ort beschreibt sie Jahre später so: „Das ist eine Hölle des Mittleren Ostens hier. 1001 Nationen kommen zu 1001 Menschen aus dem Mittleren Osten zusammen. Auch ich unterscheide mich nicht mehr von ihnen. Bereits vor Jahren waren wir uns ähnlich. Aber weder sind die Menschen von damals hier noch bin ich diese Feray. Sie haben sich geändert und ich habe mich geändert.“ (S.99) Ihre Beschreibung überrascht uns nicht, sie lässt uns bedauern. Während wir Feray zustimmen, dass das einzige, was sich nicht geändert hat, der Platz der Mülleimer ist, ärgern wir uns, und beklagen das, was uns einfach so aus den Händen geglitten ist. Zeynep Kaçar versucht mittels ihrer Erzählerin zwischen den Zeilen zu vermitteln, dass nicht nur individuelle und persönliche Veränderungen, sondern auch kultureller und gesellschaftlicher Wandel vernichtend, auslöschend, gefährlich sein können. Was früher mit dem Schwert in der Hand und durch Kriege erobert wurde, wird heute für Geld, Wohlstand und ein paar Klamotten verkauft; dabei verlieren wir auch unsere kulturellen Errungenschaften. Wir geben ihr Recht.   

Als der Arzt, in den sie sich verliebt hat und der ihr Ehemann wurde, sich zu einem geistigen Führer verändert, ist Feray im Haus sowohl psychischer als auch physischer Gewalt ausgesetzt. Es gelingt ihr zwar Jahre später ihn für all das zu bestrafen, was er ihr angetan hat,  – der Druck, dem sie ausgesetzt ist, die Gesellschaft, die sich so sehr von der Wissenschaft entfernt und so ausweglos ist, dass sie ihre Hoffnungen auf Wunderheiler setzt, so dass Veli viel mehr Geld als geistiger Führer verdient, als er als Arzt verdienen konnte, dass er die Wissenschaft für seine Zwecke instrumentalisiert, dass er sie unter dem Vorwand der Eifersucht und Sünde einsperrt, unsichtbar werden lässt, sie von der Gesellschaft und ihrer Familie fern hält -, sie zahlt aber auf diesem Wege einen hohen Preis: Feray verliert ihre Jugend, ihre Träume, ihre Vergangenheit, ihre Freunde, sogar ihre Tochter. Als sie sich Jahre später mit ihrer Tochter Defne, die im Kleinkindesalter von ihr getrennt wurde, wiederbegegnen und sie eines Tages wieder auf einer Bühne steht, kehrt die Hoffnung in Ferays Leben zurück. Und selbstverständlich in das Land.

Nun sind Istanbul und die Türkei an der Reihe

Anfang der 1990’er Jahre konnte sich Feray weder vorstellen, dass ihre persönliche Lebensgeschichte sich in den 2010’er Jahren würde so entwickeln werden, noch sah sie voraus, dass der damalige Fortschritt in der Musik, im Film, der Mode, bei Frauenrechten und in der Bildung sich würde derart ins Gegenteil verkehren können. Während die Träume von vor zwanzig Jahren den Enttäuschungen nach zwanzig Jahren die Hand reichen, haben sowohl Feray als auch das Land die Zeit mit der Zeit verloren. Die Zeit ist vergangen. Sie ist fort. Nicht mit einem Mal, aber sie ist vergangen. Als sie verging, als sie verloren ging hat sie die Augen geöffnet, hat in Bewegung versetzt, zunächst Feray, dann vielleicht das ganze Land.

Zeynep Kaçar liest Ferays Lebensgeschichte, ihre Vergangenheit und Gegenwart, in ihrem Roman, den sie Yalnız [Alleine] nennt, über die Beziehungen von Mutter und Tochter, Frau und Mann, Familie und Freundschaften; gleichzeitig werden wir aber auch Zeugen davon, wie Feray aus ihrem Blickwinkel die Veränderung der Türkei, insbesondere Istanbuls, unter dem Deckmantel der Religion, den Aufstieg des Konservatismus, den Verfall der Werte wahrnimmt und beschreibt. Die Autorin lässt Feray –und eigentlich auch ihre Leser- auf diese Weise sich eine Frage stellen: „Wer bin ich?“ Feray erinnert sich daran, wer sie ist und versucht sich neu zu erkunden, zumindest kämpft sie darum. Nun sind Istanbul und die Türkei an der Reihe.  

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