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Kurator: Su Turhan
In der Angst leben

Su Turhan
© Regina Recht

Von Su (Süleyman) Turhan

Die Deutschen lieben Krimis. Sehr viele deutsche Autoren begehen literarische Verbrechen, weil sehr viele Menschen, die Bücher kaufen, gerne von Mord und Totschlag lesen. Mit Blick über die Buchrücken auf den Verkaufsständen der Buchhandlungen würde ich darauf schwören, dass Deutschland Weltmeister im Krimigenre ist. Wer jedoch Romane mit verbrecherischem Inhalt veröffentlicht, hat gegen das Vorurteil anzuschreiben, nur Krimis zu verfassen (Podcast Interview LiteraTür Friedrich Ani). Unterstellt wird literarisch mindere Qualität.
Einfach ausgedrückt: In Krimis wird ein mehr oder weniger bestialisches Verbrechen verhandelt, auf das ein konstruierter Plot gestülpt wird. Die Ermittlerinstanz umschifft falsche Fährten und steuert Seite um Seite der Aufklärung des Falles zu. Dass die Verbrechensliteratur tatsächlich weitaus facettenreicher ist, kann niemand bestreiten (Länderartikel LiteraTür Ulrich Noller). Dennoch besteht nach wie vor das Vorurteil des Trivialen, des Eskapismus, der kathartischen Wirkung. In den letzten Jahren hat die Veröffentlichung unzähliger sogenannter Regiokrimis dieses negative Stereotyp verstärkt. Die bundesdeutsche Landkarte ist übersät mit dialektsprechenden Polizeibeamten, die dort zuhause sind, wo das Verbrechen seinen Lauf nimmt. Lokalkolorit und Kenntnis heimatlicher Gepflogenheiten ist vonnöten, wenn von den Bayerischen Alpen bis zu ostfriesischen Inseln Verbrechen verübt und Verbrecher gejagt werden.
Vorsicht ist also für den geboten, der schreibend das Feld des Verbrechens umgräbt. Er läuft Gefahr, in der Schundliteratur-Schublade zu landen. Der literarische Roman ist nach wie vor des Feuilletons liebstes Kind, nicht der Krimi (eigentlich Kriminalroman), der sich dem Phänomen des Verbrechens und dessen Bewältigung widmet.
 
Die Brandbreite literarisierter Kriminalfälle und Delikte ist so unendlich wie die daran beteiligten Akteure. Von Verbrechen gegen die Menschlichkeit bis zu Ladendiebstahl. Von mordenden Großfamilien bis zu einsamen Einzeltätern.
Das Sujet »Verbrechen« ist eines der wichtigsten Themen der deutschen Gegenwartsliteratur. Kriminalromane, wie auch nur Krimis, widmen sich soziologisch betrachtet dem weiten, komplexen Feld der Gesellschaft. Bestehende Systeme und Ordnungen werden gestört, gegen das Strafgesetzbuch, gegen Werte und Normen des Zusammenlebens verstoßen, das Normale und Gängige ausgehebelt.
 
Verbrechen erzählerisch und sprachlich abzubilden, kommt einem schreibenden Sezieren gleich. Aus meiner Sicht ist es anspruchsvoll, ein Erzählsystem zu Papier zu bringen, das die Aufklärung eines Falles verfolgt, gleichzeitig das Psychogramm des Verbrechens in die narrative Konstruktion einwebt (Podcast LiteraTür Interview Jan Costin Wagner). Das austarierte Koordinatensystem aus Straftat, Opfer, Täter, Ermittler, Zeugen, Lüge und Wahrheit, Fakten und Vermutungen, erfasst und beschreibt, was bei grausamen Taten eigentlich gar nicht erfassbar und beschreibbar ist. Entstehende Leerräume schaffen Platz für den Leser, der das Unaussprechbare nicht zwangsläufig begreifen, aber vielleicht doch zu erahnen vermag.
Bei der literarischen Umsetzung verbrecherischer Akte sehen die Autoren nicht weg. Sie machen sichtbar, in dem sie das Unmögliche vor Augen führen. Sie zeigen das Entsetzliche mit Mitteln der Sprache, Konnotationen von Worten und Sätzen, eines Ausdrucks, eines unpassenden Gefühls, der Wahl der Perspektive und des Standpunkts. Letztlich mit narrativem Einfühlungsvermögen und empathischer Offenheit für Täter und Opfer, für die Mühsal der Ermittler. Kriminalromane entführen Leser in Köpfe und Herzen von Mördern und Totschlägern, konfrontieren uns mit Situationen, die wehtun, weil es wehtun muss, wenn wir in die Seelen von Opfern, von Toten und Vermissten blicken. Kriminalromane sind wie Operationen am offenen Herzen, wie eine Sitzung beim Psychotherapeuten, dem wir uns zu öffnen suchen, aber nicht wissen wie wir das tun sollen.
Das Allzumenschliche in von Unmenschen verübten Abscheulichkeiten bringt die dunkle Seite des Menschen zu Tage. Gut und Böse treffen auf Schuld und Unschuld, wenn uns Milieus und Denkweisen aufgezeigt werden, die uns zersetzen, wenn wir mit dem Serienkiller töten, als Vergewaltiger einem Opfer nachstellen, als Massenmörder oder Terrorist üble Pläne schmieden.
Glückt es dem Autor mit seiner Erzählstrategie und Konstruktion der Geschichte sowohl Schmerz und Leid auf Seiten der Opfer, als auch Gewalt und Antrieb der Täter erfahrbar zu machen, ist ein literarisches System etabliert. Literatur ist dem Menschen genau dort besonders nah, wo er verletzlich und verwundbar ist. Gute Kriminalromane erreichen diese Nähe, sie scheren sich nicht um den Akt der Aufklärung, sie zeigen Menschen im Niemandsland zwischen Leben und Tod.
 
Verbrechen und Literatur bin ich in wissenschaftlicher Form in meinem Germanistikstudium begegnet. In der deutschen Literaturgeschichte fallen große Namen, wenn die Sprache auf die Ursprünge von Verbrechensgeschichten kommt. Das Böse hat Literaten wie Heinrich von Kleist, Friedrich von Schiller und E.T.A. Hoffmann inspiriert. Schillers »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« (1786) war Grundstein eines Seminars über Friedrich Glauser, einem der bedeutsamsten Begründer der deutschsprachigen Kriminalliteratur.
In Schillers Erzählung wird ein unansehnlicher Mann zum Wilderer, um seiner Angebeteten Geschenke machen zu können, schließlich zum Mörder, um Rache an seinem Nebenbuhler zu nehmen. Schillers Kriminalbericht beruht auf einen wahren Fall. Aus den Fakten konstruiert er das Psychogramm eines zutiefst verunsicherten, gekränkten Mannes, der die Anerkennung in der bestehenden Ordnung sucht. Die emotionale Kraft entsteht durch die vergebliche Reue des Täters und der Reaktion der Gesellschaft, die keine Resozialisation zulässt.
Schillers Ansatz, die psychologische, figurenimmanente Mechanik von Verbrechen in den Fokus zu stellen, war wegweisend für das literarische Schaffen in der Gattung. Jeder Verbrechensautor ist dazu verdammt, als Psychologe tief in seine Figuren hineinzusehen und auf die Strahlkraft des Verbrechens über die Normverletzung hinaus zu blicken. Ob die zugrundeliegende Tat wahr ist oder nicht, ob sie aus Zeitung, Gerichtsakte oder Polizeibericht, oder der Fantasie des Autors entstammt, ist nicht entscheidend. Die Geschehnisse um das Verbrechen werden wahr, sobald das schreibende Ich sie zum Gegenstand der Geschichte macht, sich und seine Sicht auf die Welt in Handlung und Gefühle einfließen lässt (Podcast LiteraTür Interview Simone Buchholz).
 
Die Art der Verbrechen und das Figurenpersonal im Krimi sind vielfältig, denn Einfallsreichtum ist gerade bei Verbrechensschriftstellern gefragt. Auf der Suche nach Unerzähltem und Ungesehenen erstaunen sie uns mit immer raffinierteren Erzählkonstruktionen und Figuren. Von staatenübergreifenden Terrororganisationen bis zu Delikten, die in ihrer Einfachheit einfallslos zu sein scheinen, aber ganze Welten zerstören. Gut und Böse, Schuld und Sühne werden in Zusammenhänge gesetzt, die sich eindeutigen Interpretationen widersetzen. Oft erweisen sich Autoritäten in Exekutive, Legislative und Judikative als unzuverlässig, Ermittler sind müde, Opfer nicht ohne Schuld, Täter nahezu übermenschlich, Lüge und Wahrheit werden zu austauschbaren Sichtweisen auf ein und denselben Sachverhalt.
 
Aus meiner Sicht instrumentalisieren gelungene, gute, mitreißende Kriminalromane das Thema Verbrechen, in dem sie das Innere des Menschen in hochextremen Situationen zeigen. In diesen Zeiten, in der die Corona Pandemie die Menschheit beutelt, brauchen wir kreative, mutige Erzähler, die uns Angst und gleichsam Hoffnung machen. Oder uns die Hoffnung nehmen und uns helfen, in der Angst zu leben.

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