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Kuratorin: Gaye Boralıoğlu
Die Bestimmung des Hauses, das Zuhause des Textes

Von Gaye Boralıoğlu

Als ich zweiundzwanzig Jahre alt war, zog ich in ein Apartment in einer der historischen, aber vernachlässigten Straßen von Beyoğlu, die noch nicht von Gentrifizierungsvorhaben betroffen waren. Das außergewöhnliche Gebäude – mit einem Innenhof in der Mitte des Grundstücks –, das einst der preußischen Botschaft gehörte und dessen Architekt Italiener war, beauftragt von einem belgischen Bankier, faszinierte mich außerordentlich. Es beeindruckte mich nicht nur wegen seiner hohen Decken, seiner dicken Wände, seiner Guillotine-Fenster und dem Innenhof, der sich dem Bosporus hin öffnete, sondern auch durch seine Seele, die wie eine Essenz aus den Leben vielzähliger Kulturen anmutete.

Wenn die große Stahltür um Mitternacht geschlossen wurde, fühlte ich mich wie die einzige und absolute Herrscherin meiner eigenen friedlichen inneren Welt, die von der Außenwelt völlig isoliert war. In meinem Kampf als eine junge Frau in der Türkei, die sich dazu entschließ, allein zu leben, stellte dieses Haus eine Festung dar, in der ich mich verteidigen konnte. Sobald ich zu Hause ankam, nachdem ich vorbeigelaufen war an den Bars und den Nachtlokalen, den Transvestiten und Prostituierten Beyoğlus, die der Welt bedrohlicher Männer angehörten, atmete ich jedes Mal tief ein und tauchte in meine eigene Fantasiewelt ab.

Ich war meinem Zuhause mit so einer Leidenschaft verbunden, dass ich all die Jahre, die ich dort verbrachte, regelmäßig von Albträumen heimgesucht wurde, in denen man mir dieses Zuhause wegnehmen wollte.

Eines Tages dann berichtete mir der Vermieter von seinem Vorhaben, dieses Haus verkaufen zu wollen. Ich besaß überhaupt kein Geld. Dennoch habe ich nicht einen Moment gezögert. Ich nahm einen Kredit bei der Bank auf und machte Schulden, um dieses Haus kaufen zu können. Von dem Tag an, an dem ich die Besitzurkunde des Hauses in Händen hielt, hörten die Albträume auf. Aber dafür ergab sich ein neues Problem: da ich nun mein ganzes Leben lang in diesem Haus wohnen werde, habe ich dann sozusagen in mein eigenes Grab investiert?

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Ob man wie ich in einem italienischen Apartment mit Innenhof lebt oder wie in Latife Tekins Romanen in einem Gecekondu [Gecekondu: türkische Bezeichnung für eine informelle Siedlung. Wortwörtliche Übersetzung: "Nachts hingestellt".] oder einem Backsteinhaus, an Orhan Pamuks Museum der Unschuld angelehnt, oder in Elif Şafaks Bonbonpalast... Ganz gleich in welche Form es auch gekleidet sein mag, das Haus bestimmt unseren Platz in dieser Welt. Und das nicht bloß, weil es ein Ort ist, in dem wir Unterschlupf finden und uns zwischen seinen Wänden von dem Chaos der Außenwelt abschirmen können, sondern viel mehr noch, weil es uns die Möglichkeit bietet, in Ruhe nachzudenken und in unserer inneren Welt tiefe Kerben zu hinterlassen.

Gaston Bachelard gibt in seinem Werk "Die Poetik des Raumes" auf die Frage, was die wertvollsten Annehmlichkeiten des Hauses seien, folgende Antwort: "Das Haus beschützt die Träumerei, das Haus umhegt den Träumer, das Haus erlaubt uns, in Frieden zu träumen. Nicht nur Gedanken und Erfahrungen rechtfertigen die menschlichen Werte. Auch die Träumerei hat Werte, die den Menschen in seiner Tiefe kennzeichnen" (Gaston Bachelard, Die Poetik des Raumes, Literatur als Kunst – eine Schriftenreihe herausgegeben von Kurt May und Walter Höllerer, Carl Hanser Verlag, München, 1960, S. 38).

Das Haus, in dem wir uns zu leben vorgenommen haben, ist im Grunde eine „Tabula rasa“. Ganz langsam und so weit es unsere Gedankenwelt erlaubt, richten wir dieses Haus ein. Ein Sofa ist niemals nur ein Sofa, es ist ein Objekt, das durch irgendeinen Duft, der von ihm ausgeht, ein bestimmtes Begehren in uns hervorrufen kann. Die Schubladen eines Schranks stecken voller Erinnerungen, die sich in den abgeschiedensten Ecken unseres Geistes befinden. Die Bilder an den Wänden und auch die Teppiche, die wir auslegen, verbergen die Details feiner Linien unserer Persönlichkeit.. Selbst wenn es manchmal den Anschein macht, befindet sich kein Möbelstück in unserem Haus bloß zufällig dort, zweifelsohne wurden die Gegenstände in unserem Haus aber auch nicht gänzlich bewusst ausgewählt. Unsere Einrichtungsgegenstände sind auch zeitlose Andenken an ein Wechselspiel zwischen Bewusstem und Unterbewusstem.

Andererseits aber ist kein Gegenstand in unserem Haus dazu in der Lage, die Wände zu kaschieren. Die Wände konservieren unsere Einsamkeit – und noch viel schlimmer –, sie werfen bisweilen diese Einsamkeit wie ein Spiegel auf uns zurück. Die Wände eines Hauses sind die Schreibtafeln der Autorin und des Autors. Die nicht enden wollende Debatte zwischen der Seele und der Welt wird jedes Mal neu geschrieben und wieder verworfen. Jeder Satz, der an die Wand geschrieben wurde, wird irgendwann zu Boden fallen und Tabula rasa wird immer Tabula rasa bleiben. Dies ist die nicht enden wollende Tragödie der Autorin und des Autors.

Autorin und Autor sind in ihren Häusern die Zuschauer ihrer selbst, sozusagen "Touristin oder Tourist der eigenen Privatsphäre". Sie befinden sich innen, versuchen aber sich unentwegt von außen wahrzunehmen. Auf der anderen Seite ist das Gedächtnis der Autorin oder des Autors zudem müde von der ständigen Wanderei; physisch befindet sich die Autorin oder der Autor zwar zwischen vier Wänden, wandert aber beständig umher in dem Land der Gedanken, das weder Zeit noch Ort kennt, und versucht angestrengt, Unterschlupf in einem anderen Haus, in der Immunität des Wortes zu finden.

Bourdieu sagt Folgendes: "Die Schaffung eines Zuhauses ist der gemeinsame Wille, eine Familie zu gründen, die imstande ist, sich nachhaltig zu versorgen in einem nachhaltigen, stabilen, unveränderlichen Wohnraum, und eine Gruppe zu gründen, die aus stabilen sozialen Beziehungen besteht; es ist ein gemeinsames Projekt oder der Anspruch auf die Zukunft des Haushalts, d. h. auf seine Fähigkeit zusammenzuhalten, darauf seine Integrität zu bewahren oder –

in anderen Worten – seine Kapazität auszubauen, um der Absplitterung und dem Zerfall standzuhalten" (Aus der türkischen Übersetzung des französischen Originalzitats ins Deutsche übersetzt. Pierre Bourdieu, Les structures sociales de l’économie, Seuil, S. 28). [Türkische Übersetzung des französischen Zitats: “Bir ev yaratmak, sürekliliği olan, sabit sosyal ilişkilerle birleşmiş bir grup yaratmaya, kalıcı ve sabit, değişmez konut gibi kendini kalıcı bir şekilde sürdürmeye muktedir bir soy yaratmaya dair ortak iradedir; bu, ev birliğinin geleceği üzerine, yani bir arada durma gücü, bütünlüğü ya da başka bir deyişle parçalanma ve dağılmaya direnme kapasitesi üzerine ortak bir proje ya da iddiadır.”]

Wir verlassen das Haus und befinden uns nun mitten im Zuhause. Wir leben gemeinsam mit anderen: mit Menschen, in denen wir uns widerspiegeln... Mit unserer Mutter und unserem Vater, unserem großen Bruder und unserer Schwester... Mit den Verrätern und Heiligen unserer Seelenwelt. Wir berühren die tiefen Wunden der Literatur, wir begegnen Kafkas Vater, lernen Erlend Loes Elchkalb in Doppler kennen. Ohne Zuhause würde es keine Familie geben, und wer könnte schon existieren ohne eine Familie? Lediglich die Götter...

Das Zuhause ist der erste Ort, an dem wir uns selber definieren oder daran scheitern, an dem wir das erste Mal mit anderen Menschen in Berührung kommen... Mit Menschen, von denen wir uns ein Leben lang zu distanzieren versuchen, aber die wir am Ende doch nachahmen werden. Ein zwangsläufiges Netzwerk aus Menschen, denen wir uns anzugleichen versuchen, aber die uns dann doch nicht gefallen – ja, das Zuhause entwickelt sich zu einem Netzwerk.

Ein Netzwerk im wahrsten Sinne des Wortes! Unser natürlicher Kosmos, in dem wir anzutreffen sind, dem wir nicht entkommen können, der bisweilen sogar wie ein Gefängnis anmutet. Andererseits sind die Wände auch nicht mehr so stark wie wir sie zuvor beschrieben haben, als es um das Haus als Ort ging. Die Wände haben jetzt die Durchlässigkeit eines Netzes angenommen. Sie sind offen für andere, äußere Einflüsse.

Genau hier kommt die neue Definition des Hauses ins Spiel. Das Haus ist gleichsam auch ein Teil seiner geographischen Lage. Nun schauen wir uns das Haus mal von außen an.

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In dieser geographischen Region zwischen zwei Kontinenten, die eine Gegend der Migrationen, Massaker und Vertreibungen ist, wurde keiner von uns in seinem eigenen Zuhause geboren. Wir haben danach gestrebt, das Glück anderer nachzuleben und ihre Lebensweisen nachzuahmen oder uns darum bemüht, die Häuser, in denen die gepeinigten, der Ungerechtigkeit zum Opfer gefallenen und heimatvertriebenen Seelen wohnen, zu unseren Wohnstätten zu machen. Wenn Zuhause Zugehörigkeit bedeutet, so binden wir uns in diesem Fall an einen Ort, dem wir nicht angehören, wir binden uns an unsere Unzugehörigkeit.

Wenn die geographische Lage, in der wir leben, unser Schicksal ist, befindet sich alles, was in den Territorialgewässern des Zuhauses geschieht, im Sichtfeld der Autorin und des Autors. Sogar eine Mutter, die die Leiche ihres Kindes im Gefrierfach lagern muss, weil ihr Zuhause unter Beschuss steht. Ebenso ein Schüler, der versucht, die einzelnen Gliedmaßen seines Freundes, der einem Bombenangriff zum Opfer fiel, zusammenzutragen. Und auch ein Menschenrechtsaktivist, dessen Haus von einer Spezialeinheit, die mit langläufigen Waffen ausgestattet ist, überfallen wird. Auch eine Frau, der Gewalt angetan wurde, und ein Missbrauchsopfer im Kindesalter. Diese Geschichten, die sich tagtäglich vor unserem Haus/vor unseren Augen abspielen, setzen sich unweigerlich und unauffällig in unserem Gedächtnis fest. Wenn sich die Definition des Hauses vom Ort zur Siedlung und vom Zuhause zur Geographie hin ändert, beginnt es unheimlich zu werden.

Sobald von Geographie die Rede ist, intensiviert sich die Fantasie, und das bezieht sich nicht nur auf die Gegenwart, auch für die ältesten Erinnerungen, die nicht unsere eigenen sind, wird Platz geschaffen – und genau an diesem Punkt vermischt sich die Fantasie mit dem Gedächtnis. Das ist ein unheimlicher Ort. Das persönliche Sicherheitsgefühl wird von der Gesellschaft oder der Geschichte bedroht.

Dieser unheimliche Zustand, so sehr er auch einer sicheren Reise in die innere Welt im Weg steht, ist im Gegenzug aber auch eine Chance für den Text. Die Sprache wird lebendiger, farbenreicher und intensiver, wenn sie sich in Geographien mit ganz unterschiedliche Problemen, Gebräuchen und Sorgen bewegt. Gesellschaftliche Traumata verbinden sich mit vagen persönlichen Problemen, erweitern den Geist und machen aus "einem" "viele". Die türkische Literatur unabhängig von diesem Prozess zu denken, ist beinahe unmöglich. Gewiss sind auch viele bedeutungsvolle Texte der Weltliteratur an diesem unheimlichen Ort entstanden.

Das Zuhause als Ort kann den Anschein erwecken, Gründe dafür zu liefern, warum die Menschen oder die Autorin und der Autor entschieden am Leben festhalten sollten. Aber die heftigen Winde des Lebens werden unweigerlich durch die Fensterspalten, die Schornsteinschächte und die Lüftungsröhren ins Innere gelangen. Der "Ort" ist für eine Autorin und einen Autor im Sinne Marc Augés ein "Nicht-Ort".

Autorin und Autor verbringen ihr Leben im Gestern, im Heute und in der Gezeitenwelt zwischen Himmel und Hölle. Auch wenn dieser rastlose Zustand qualvoll scheinen mag, so bewirkt er doch, dass man die Welt aus einer weitläufigen Perspektive heraus betrachten kann. Autorin und Autor entfernen sich von dem "Selbst-Bereich", der durch das Zuhause eingeschränkt ist, und nähern sich dem Ort der Erinnerungen, den man mit den Augen anderer sehen kann. Sie schreiben das auf, was die Historiker und Historikerinnen nicht schreiben können, und tragen dies auch an nachfolgende Generationen weiter. Dies ist ein Gebiet, über das der Tod nicht herrscht. 

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Als das sterbliche Wesen, das ich bin, begann ich ab dem Zeitpunkt meines Hauskaufs an den Tod zu denken. Denn in jeder Absolutheit ist ein Stückchen Tod enthalten. Ich wohne nun schon seit sehr vielen Jahren in dem italienischen Apartment. Die Personen, die vor mir hier gelebt haben, der preußische Botschafter, die belgische Bankiersfamilie, der griechische Schafshändler, der İstanbul verlassen musste, die Familie aus Sivas, die ihre Heimat verlassen musste, und ich – wir sind wie die Glieder einer seltsamen Kette. Meine ersten literarischen Texte habe ich hier verfasst. Alle meine Bücher habe ich hier begonnen und hier zu Ende geschrieben. Auf diese Weise ist im Laufe der Jahre diese Störung bzw. der Friedhofsschatten, der sich über mich gelegt hatte, verschwunden. Mein Zuhause schaukelt jetzt wie eine Wiege unentwegt über den Worten. Nun kann ich beruhigt folgendes Schild an meine Tür hängen: "I want to stay here always." [Auf Deutsch: "Ich möchte für immer hier bleiben." Für die Benutzung auf Wandpostern bekanntes Motto im englischsprachigen Raum.]

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