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Carola Weider
Verheizte Heimat. Von tellurischen Meeren

Ein Versuch zum Thema Heimat und seine Bedeutung in Bezug auf den Dichter und Schriftsteller Wolfgang Hilbig

Von Carola Weider

hier war mein totenreich und mein exil
und ich lebte hier: schon jahre vor der geburt.

W. Hilbig

Es wird nicht leicht werden, in aller Kürze über Wolfgang Hilbig zu schreiben, den Begriff Heimat auf einen Autor anzuwenden, der Schriftstellerkollegen, die mit ihm darüber sprachen, den Einstieg in einen Text nicht zu finden, geraten haben soll: Beginne mit dem Satz, dass Du den Anfang nicht findest.

Ich finde den Anfang zu einem Text über die mögliche Bedeutung des Begriffs Heimat für den Schriftsteller Wolfgang Hilbig nicht. Denn über Wolfgang Hilbig, so scheint es jedenfalls, ist alles gesagt. Die Deutung sämtlicher Fakten seines Lebens ist endgültig und hundertfach dokumentiert. Fest steht: „Der Arbeiter, der ein Schriftsteller ist, der Schriftsteller, der ein Arbeiter ist; beide dem Milieu nach DDR für immer, mit DDR-Themen und selbigem Anruch … Wie Leben und Werk bei diesem Dichter eins sind, so stammen die meisten Fährten, auf denen da gegangen und gedeutet wurde, von ihm selbst.“ (Uwe Kolbe, 2008) Dass die DDR als Heimat für ihn mit der Mauer im Jahr 1961 gestorben sei, soll Wolfgang Hilbig auch gesagt haben, von jenem Tag an habe er keine Heimat mehr gehabt. Es gibt also vielleicht gar nichts mehr herauszufinden, zu erklären für mich, die ich, zwei Jahre nach Wolfgang Hilbigs Tod, überhaupt erst durch Natascha Wodins Roman Nachtgeschwister von ihm erfuhr.

Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald. Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluss sind die Heimat. Ich habe das Lied als Kind in der Schule gesungen. Den Text kann ich immer noch auswendig aufsagen, die Melodie habe ich bis heute nicht vergessen. Weiter geht es so: Und wir lieben die Heimat, die schöne und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört. Das gefällt mir nicht. Wolfgang Hilbig muss das Lied auch gekannt haben, denn er ist, wie ich, in der ehemaligen DDR aufgewachsen und zur Schule gegangen. Es entstand 1951, als er zehn Jahre alt war. Das Wort Heimat auszusprechen, es aufzuschreiben, ist nicht erst heute seltsam, mit unangenehmem Beigeschmack verbunden. Es war mir schon damals nicht geheuer, ich spürte, dass es ein für gewisse Zwecke benutztes Wort war, ein ideologisch aufgeladener Begriff: eine Lüge, zu der man mich zwang. Ein Begriff, der nicht einfach zu ersetzen ist, für den es anscheinend kein ins Schwarze, die tiefe Bedeutung des Wortes treffendes Synonym zu geben scheint, mag es auch auf den ersten Blick so aussehen oder klingen. Wohnort oder Wohnung, Unterkunft, Geburtsstadt, Herkunftsort oder –land werden im allgemeinen Sprachgebrauch eingesetzt. Heimat ist allein nichts davon, ist etwas anderes. Heimat ist vielleicht eine metaphysische, sicher aber ganz persönliche Raum/Zeit – Erfahrung oder Konstellation. Heimat zeichnet einen inneren Zustand im Äußeren, der Selbstverständnis erzeugt. Zuhause, abgesehen von der oberflächlichen Bedeutung des Wortes als Wohnsitz oder Behausung, mag noch am ehesten zutreffen, denn Zuhause kann ich sowohl an Orten, als auch in Zuständen und gewissen eigenen, subjektiv gestimmten Verfassungen sein.

Wolfgang Hilbig kam 1941 in Meuselwitz zur Welt, einem Ort, an dem die Zeitschichten durcheinander gerieten. Die erdgeschichtliche Vergangenheit, organisch und anorganisch, lagerte hier seit Jahrtausenden, konserviert in Äonen übereinander geschichteter Halden aus Erde, Gestein und Gebeinen. Der Bergbau, ein riesiges Braunkohlerevier, brachte die Schichten durcheinander; und es sind nun diese unterirdischen Schichten, ganze Erdzeitalter - lange vergangene Erde - die ihn unablässig anreden, ihn zum Schreiber ihrer Geschichte machen, aus denen er selbst zu bestehen scheint und die aus ihm heraus sprechen. Der Bergbau hatte Hilbigs Großvater nach Meuselwitz gebracht. Er kam von weit her, noch vor dem Ersten Weltkrieg, aus einem Gebiet im heutigen Polen, dessen Machthaber ständig wechselten: Zeitweise gehörte Biłgoraj zu Polen, dann wieder zu Russland und einige Male auch zu Ungarn-Österreich. Das Durch- und Nacheinander von Nationalitäten und Staatszugehörigkeiten musste für die dort lebende Bevölkerung prägend gewesen sein. In Wolfgang Hilbigs Erzählung Die Erinnerungen heißt es über die Herkunft des Großvaters eines Heizers: „Ich hatte nicht einmal den Ort auf der Landkarte finden können, aus dem mein Großvater stammte. Und den hatte es anscheinend nie sonderlich interessiert, welchem Staat er angehörte.“ Die Tochter des Großvaters, Hilbigs Mutter, passte sich der neuen Umgebung so gut es ging an. Wolfgang Hilbig schreibt in seinem Gedicht die gewichte: „meine mutter unter allen umständen wollte / deutsch werden doch ihr haar war von der farbe des honigs / der aus den früchten floss“. Die Wurzeln seiner Familie besetzte er erst später auratisch, er mystifizierte sie, machte sie zum Fundament seiner Texte. Sein Vater galt seit 1942 bei Stalingrad als vermisst. Er lernte ihn nie kennen, er war vaterlos, eine am Rande immer wieder thematisierte Leerstelle. Mit Mutter, Großmutter und Großvater wohnte er in einer Straße, an deren Ende sich die Überreste einer Munitionsfabrik befanden. An jene Fabrik war während des Zweiten Weltkrieges ein Außenlager des KZs Buchenwald angegliedert gewesen. Überlebende trieb die SS bei Kriegsende in einen Todesmarsch, russische Soldaten sprengten die Fabrik. In Hilbigs Texten wird das Lager später zum Synonym für den bis heute tabuisierten, nach wie vor wirksamen Schatten des Nationalsozialismus. Meuselwitz war für ihn insofern Heimat, wie er es in die Literatur übertrug. „Meine Geschichten waren im Grund dieses Landstrichs vergraben, über dem ich Posten bezogen hatte.“, schreibt er 1991 in Die Kunde von den Bäumen, zu einer Zeit, in der er längst vom Ort seiner Herkunft fortgezogen, die DDR selbst Geschichte geworden war. 1985 hatte er ein Reise-Visum bekommen und war in die BRD übergesiedelt. Seine Texte, Erzählungen und Gedichte, die Romane, blieben jedoch den Sujets nach seinen alten, ineinander verschränkten Themen der Herkunft, den Bedingungen einer Arbeiter- und Doppelexistenz in der DDR und dem Ringen um Individualität verhaftet. Der zentrale Topos war die Beschwörung der Nacht, eine Artikulation existenziellen Verlorenseins. Seine Entscheidung, dem Ort seiner Herkunft den Rücken zu kehren, brachte ihm nicht nur Befreiung, sondern auch das Gefühl der Fremdheit angesichts der Verhältnisse und der Leere des Konsums, eine Erschöpfung durch die Anforderungen des Literaturbetriebes und der Angst vor dem Nicht-Schreiben-Können. 1994 zog er nach Berlin, wo er erst mit Natascha Wodin und später allein lebte, bis er 2007 starb. Wolfgang Hilbig hatte vielleicht keine Heimat im Außen. Ein unermesslicher, apokalyptischer, wortlüsterner und pathetisch dunkler Innenraum monströser Unterwelten aus Kohlebergen, Heizungskellern und Labyrinthen war seine Heimat, das Schreiben, die Sprache, die Nacht. Es heißt, er schrieb immer, und immer, wenn er nicht schrieb, hatte er nur das Schreiben im Kopf.

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