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Kuratorin: Monika Rinck
Der Blick in die Zukunft

I’ve seen the future, baby, it is murder, singt Leonard Cohen von der mörderischen Zukunft, die dem Menschen bevorsteht, und stellt sich damit in eine langen Reihe der Propheten, Weissager, Sternendeuter und Dichter, die die generelle Ungewissheit dessen was kommt einer hellseherischen oder literarischen Bearbeitung unterziehen.

Von Monika Rinck

Die Propheten, die vor einer dunklen Zukunft warnen, gehen trotz allem davon aus, dass ihre Prophezeiung nicht unausweichlich ist. Wenn Ihr Euch nicht in Gerechtigkeit übt, wird diese Welt vernichtet. Solltet ihr Euch jedoch dazu entscheiden, Euer Verhalten zu ändern, könnte es anders ausgehen: Zukunftsangst wird ausgelöst, sie ist eine Aufforderung zur Umkehr. Man hat es also stets mit mehreren Zukünften zu tun. Die ersten Utopien lagen nicht in der Zukunft, sie lagen in weiter Entfernung. Erst seit dem 18. Jahrhundert wird der utopische Roman entlang der Zeitachse ins Künftige verlegt – und seit etwa hundert Jahren von seinem negativen Gegenpart, der Dystopie, abgelöst.
 
Zwischen Dystopie und Utopie entspannt sich eine gegenläufige Bewegung: Einerseits unterrichten uns vertrauenswürdige Statistiken davon, dass es den Menschen global gesehen immer besser geht. Andererseits mehren sich Meldungen, die zusammengenommen ein so detailliertes wie umfassendes apokalyptisches Szenario ergeben. Für eine Anschauungsweise scheint es nur noch eine Sache der Zeit zu sein, bis sich der Planet Erde der Menschheit ein für alle Mal entledigt haben wird, unter Zuhilfenahme von Phänomenen, die wir Katastrophen nennen: Klimakatastrophe, Feuerkatastrophe, Flutkatastrophe. Oder: dass sich die Menschen durch Wiederentdeckung alter oder Erfindung neuer Feindseligkeiten schon bald gegenseitig ausgelöscht haben werden. In vielen Regionen sehen wir eine erhöhte Bereitschaft zur Aggression gegenüber denen, die als die Anderen wahrgenommen werden. In all diesen Fällen geht es um ein erzählerisches Management einer diffusen oder phobischen oder ideologischen oder berechtigten oder neurotischen oder kombinierten Sensation der Angst, oder?
 
Angst und die Bereitschaft zur Aggression stehen in einer direkten Verbindung zueinander. Wenn ich eine Gruppe dazu bringen möchte, gegen eine beliebige andere Gruppe vorzugehen, muss ich vor allem eines tun: In der ersten Gruppe das Bewusstsein wecken, von der zweiten Gruppe bedroht zu sein. Dann geht alles wie von allein. Doch wenn der Aggressor so groß und so unendlich langsam wie die Klimaerwärmung ist, bilden sich diese einander feindlichen Gruppen zunächst unter den Menschen. Die Literatur kann einprägsame Bilder für beide Varianten liefern. Das Skript ist bekannt. Dennoch wird es weiter variiert und – unter Lebensgefahr – immer wieder in die Realität umgesetzt.
 
Zwischen den Jahren 2000 und 2010 ist die Rate der Kindersterblichkeit um 35% gesunken, und obwohl immer noch 9 Millionen Kinder unter 5 Jahren weltweit sterben, sinkt die Zahl weiter. Die Zahl der Kriegstoten ist rückläufig. Weltweit haben heute laut UN 89 Prozent der Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Nach Angaben der FAO ist die Zahl der Hungernden seit 1990 um 216 Millionen zurückgegangen.
 
Ich schreibe diese Zeilen im November 2018 in dem wunderschönen Garten der Villa Aurora in Pacific Palisades, Los Angeles, während ich darauf warte, ob die Brände, die in diesem Moment das benachbarte Malibu heimsuchen, auch unsere Evakuierung sinnvoll erscheinen lassen. Es ist ein seltsames, angespanntes Gefühl, das Mark Davis in seinem Buch „Ecology of Fear – Los Angeles and the Imagination of Disaster“ bereits im Jahr 1998 sehr zutreffend beschrieben hat. Die gleißende Sonne scheint wie glühendes Metall durch die verrauchte Luft.
 
Und ich denke an Angelika Meiers jüngsten Roman „OSMO“. Die Hauptfigur, eine platinblonde Schauspielerin namens Mary Lynn Osmo wird gerichtlich in eine Art der Verbannung geschickt, deren Begründung wie bei Kafka im Dunkeln bleibt. Doch diese dunkle Stelle ist die einzige in Meiers in gleißendes Licht gehüllten Roman, der über weite Strecken in einer unbestimmbaren Zukunft auf einer desolaten Solaranlage in Kalifornien spielt – zwischen Elektroschrott und Zukunftstechnologie.
 
Es sind häufig abgeschlossene Orte, unzugängliche Gemeinschaften, die in den eigenartig optimistischen, wenn auch dystopischen Romanen Angelika Meiers als Versuchslabore für die Zukunft der Gesellschaft erscheinen. In ihrem Roman „Heimlich, heimlich mich vergiss“ (den ich jedem zur Lektüre, und noch besser: zur Übersetzung ans Herz legen möchte), war es eine Nervenheilanstalt, in der das Personal ihres urkomischen und sowohl phantastischen wie philosophischen Romans zusammenkommt. Unverzichtbare Requisiten kommen aus ganz unterschiedlichen Zeitschichten, manches Mal ist die Technik von erbärmlicher Rückständigkeit und dann wieder weist sie weit, weit, weit in eine dunkle Zukunft hinein.
 
Dazu fällt mir auch Anja Utlers experimentelle Erzählung „ausgeübt – eine Kurskorrektur“ ein. Es handelt sich um den Rechenschaftsbericht einer Öko-Aktivistin, die auch vor Anschlägen nicht zurückschreckt scheint. In meiner Erinnerung an diese Lektüre verläuft die Handlung in einer späten, zeitarmen Welt, die an Becketts reduzierte Szenarien denken lässt. Gleichzeitig lauscht der Leser, die Leserin der Stimme einer weiblichen Person, die in entschiedener Einsamkeit zu einer Veränderung beitragen möchte – während die Umwelt mehr und mehr das Gepräge einer verheerten Landschaft trägt. Es gibt keine unberührte Natur, auch wenn es ein unterschiedliches Maß der Verheerung gibt.
 
Kürzlich erschien im Programm des sehr interessanten Frohmann Verlags der Roman „QUIZ“ von Günter Hack, der in der näheren Zukunft der medialen Verquickung von Internet, Fernsehshow, Partizipation, Marketing und Lotterie spielt. Diese medialen Zugriffe auf die allesamt zur Vereinsamung neigenden Personen des Romans erzeugen eine blatante Tristesse, die nur an wenigen Stellen gelindert und belebt wird. Und sie lassen sich noch weiter steigern. Obwohl diese in hysterischer Verschmelzungssehnsucht delirierenden Medienpartnerschaften vielerorts längst Normalität sind, treibt Günter Hack sie ein Stückchen weiter in die Zukunft, sozusagen in den medialen Vorgarten unserer Gegenwart, und dagegen ist kein Kraut gewachsen. Doch der abendliche Gesang einer Amsel senkt sich darüber, es weitet sich die Luft.
 
Svenja Leibers Roman „Staub“ lässt die Gegenwart fast ins Unkenntliche verschwinden, bedrängt aus der Zukunft durch seltsame Präfigurationen einer verlorenen Erlösergestalt und aus der Vergangenheit durch die verunsichernden Erinnerungen der Hauptfiguren. Als seien es eigentlich die Erinnerungen, die die Figuren im Griff haben, und mit ihnen machen können, was sie wollen. Die Protagonisten in Leibers Roman können sich ihre Gegenwart nicht mehr mithilfe ihrer Vergangenheit erklären. Genauso wenig lässt sich die Erklärung wie ein Versprechen in die Zukunft verschieben. Sie sind einfach nur da und versuchen, den Konflikt zwischen Orient und Okzident irgendwie selbst zu verkörpern. Sie versuchen, sich zu übersetzen, nicht nur ihre Sprache, sondern auch die Bedürfnisse des Körpers, der sich an einem fremden Ort befindet. Das ganze Buch ist von einer zurückhaltenden klugen Schönheit, in der Beschreibungssprache, in der Scheu vor definitorischen Behauptungen und gleichsam enorm durchdacht. Immer wieder trifft der Leser, die Leserin auf schlichte, leicht verschobene Sätze von betörender Schönheit.
 
Gute Literatur kann daran erinnern, dass die Zukunft generell offen steht, und dass Angst das Gedächtnis ruinieren kann. Es sind vor allem rechte Kräfte, die die Vergangenheit abschütteln oder sie zu einer heroischen Erfolgsgeschichte umlügen wollen, was sie nicht ist. Gute Literatur ist eine Form multipler Erinnerung, die sowohl in die Vergangenheit, im Sinne eines besseren persönlichen Verständnisses, wie in die Zukunft, im Sinne einer nicht verängstigen, sondern mutigen Umschau geht, kraft der Vergegenwärtigung von vergangenen oder irgendwann einmal möglichen Szenarien.
 
Es ist nicht nur die Angst vor dem Unbekannten, die die kognitiven Pfade in die Zukunft gestaltet, es ist auch die Erinnerung, denn, wie der Religionsphilosoph Klaus Heinrich es formuliert, nichts, woran man sich erinnern kann, ist vorbei. „Erinnerungen halten Nichtbewältigtes, nichtgelöste Konflikte fest; bedeuten nicht die Bewegung nach innen, das Wegtauchen in Ursprünge, in denen man sich konfliktenthoben heimisch fühlt, sondern fordern dazu auf, in den mühsamen Prozess der Auseinandersetzung mit gattungsgeschichtlich unerledigten Konflikten einzutreten und in ihm fortzufahren. (…) In der analytischen Situation ist der Rückgang ja nie ein Rückgang, vielmehr via Erinnerung ein mühseliger, vieles in der Schwebe lassender Vorwärtsgang.“
 
Es gibt eine Verbindung zwischen Erinnerung und der Zukunft – und gute Literatur kann an die Stelle treten, an der Erinnerung auf noch nicht eingetretene Zukunftsszenarien trifft und dort vermitteln. Und diese Vermittlungsarbeit ist heute von enormer Wichtigkeit.

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