Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Çağdaş Yusuf Akbulut
„Wenn es Frühling ist, ist es auch eine Geschichte“

Lassen Sie mich dies von vornherein sagen: In Ahmet Bükes miteinander zusammenhängenden Geschichten herrscht eine düstere Heimatatmosphäre. Aber auch wenn dem so ist, wird dieser Düsternis doch immer eine bedingungslos sture Hoffnung entgegengesetzt. Der undistanzierte Autor als Erzähler legt Zeugenschaft über die finsteren Lebensabschnitte der Menschen in seinen Geschichten ab. Die Türkei ist ein immerwährendes Bestattungsinstitut, das sich an die Schmerzen gewöhnt, sich jedoch nie mit deren Ursachen auseinandergesetzt hat. An einem Ort, an dem niemand Empathie für die Schmerzen des anderen aufbringt, eilen Erzählungen zur Hilfe. Denn diesen Schmerzen kann man nicht mit Balsam entgegenwirken, sondern um sie zu heilen, muss man ihnen zunächst einmal Respekt entgegenbringen und sie sozialisieren. Hierfür ist eigentlich die Politik zuständig, genauso wie die Literatur. Deswegen wandeln in Bükes Texten stets Geister umher, die trauern und auf ihre Befreiung warten. In diesem Sinne muss die Literatur aus Bükes Sicht den Verletzten Erleichterung bringen sowie denjenigen, die um ihre Toten trauern, ihre Anteilnahme aussprechen. 

Von Çağdaş Yusuf Akbulut

Marcel Proust hat in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ behauptet, dass hinter dem Obwohl auch immer ein Weil versteckt ist: Beispielsweise wissen Provinzler über alles, was um sie herum geschieht, genauestens Bescheid und nehmen mit Neugierde an allem teil – und das nicht, obwohl sie von allem entfernt sind, sondern eben genau weil sie es sind. Das Leben zeigt seine Stärke nicht der herrschenden Trostlosigkeit zum Trotz. Trotz ist nicht der bloße Wunsch, ein Hindernis zu überwinden, sondern die Voraussetzung dafür. Der Poet Metin Demirtaş schrieb einst: „Du bist trotz deiner tödlichen Verletzungen immer noch auf den Beinen.“ Ganz im Gegenteil tut dies derjenige nicht trotz seiner Verletzungen. Er wird sich nicht beugen, genau weil er verletzt ist. Die Hoffnung wird nicht gegen die Düsternis aufgebaut, sie wird in Wahrheit in ihr geschaffen. Der verwundete Mensch ist guter Hoffnung, weil die Zustände schrecklich sind. 

Zusätzlich dazu, macht Terry Eagleton einen Unterschied zwischen Hoffnung und Optimismus fest: „Das Bedürfnis nach wahrer Hoffnung entsteht, sobald die Zustände ihre schlimmste Gestalt angenommen haben. Das ist der Zeitpunkt, wenn sogar der Optimismus seinen Dienst versagt.“ Optimisten sind Konservative, die ihr Vertrauen in die Zukunft aus den gegebenen Umständen schöpfen. Hoffnung hingegen ist ein Revolutionär, der aus zwingenden Beweggründen entsteht. Zudem ist die Hoffnung auch keine bloße Erwartung an die Zukunft. Sie dient als das Licht in den Augen und als Kraftquelle des Menschen während des Aufbauprozesses von Zukunft – genauso wie die Literatur.

Der Erzähler im Kapitel „Bakiye“ (dt. Restbestand) in Ahmet Bükes Buch „Yüklük“ (dt. Ballast) bewirtet verstorbene Schriftsteller, um mit ihnen über Geschichten zu diskutieren. Der Erzähler in der Geschichte „Gevrek Değil de Boyoz Güzelmiş“ (dt. Boyoz ist besser als Gevrek[1]) begleitet John Fante zum Pasaport-Hafen in Izmir. In einer Wette, bei der es um Geschichten geht, die ein glückliches Ende nehmen, wird dies als eine gefährliche Krankheit von Linken bezeichnet, so der verstorbene Fante: „Ihr wollt den Menschen das Gefühl geben, dass schöne Dinge geschehen werden. Das wollt ihr nur, weil man euch Angst gemacht hat. [...] Aber diese Dinge kann man nicht erzwingen. Der Schmerz vergnügt sich am liebsten mit Hausbesitzern, die vorbereitet sind." Die Geschichte mit den Namen „Dostumuz Yaşamasız, Kömürümüz Kara” (dt. Unser Freund ist Yaşamasız[2], unsere Kohle ist schwarz) erzählt, wie Vüs'at O. Bener[3] mit dem Ägäis-Express am Akhisar-Bahnhof ankommt. „Denn die Angst ist das nützlichste Gefühl, dass der Mensch zu seinen Lebzeiten haben kann. Wenn du Angst davor hast, wenn du besorgt bist, was aus dir werden soll, sobald diese bestimmte Person nicht mehr da ist, genau dann hast du Hoffnung", sagt er dem Erzähler und fügt hinzu, „Wenn du Angst hast, bindest du dich noch stärker ans Leben. Du wirst es noch mehr lieben, um es nicht zu verlieren. Wenn du es liebst, wirst du eins mit ihm. Das Leben wird dich an sich festschweißen."

Ahmet Bükes Geschichten sind eben so. Sie werden geschrieben, um sich durch die Erzählungen über Herzen, die von der Vergangenheit verunsichert und über die Zukunft besorgt sind, ans Leben zu schweißen. In der Geschichte „Gülümseyen Ağıt: Mavi ve Bahar” (dt. Die Lächelnde Trauer: Blau und Frühling) im Buch "Ekmek ve Zeytin" (dt. Brot und Oliven) sagt der Erzähler Folgendes: „Das Leben hat es nun mal an sich starrköpfig zu sein. In der Geschichte kam noch kein einziges Mal vor, dass einer das Gelenk dieses Kreislaufes verbiegen konnte." Dieser Gedanke zeigt sich auch in der Erzählung „Fazla Heveslenme Sen Buraya” (dt. Strebe dies hier nicht allzu sehr an). Der Erzähler, der diesmal nach Pasaport geht, um sich mit Sait Faik zu unterhalten, denkt unterwegs: „Der Kreislauf hört auch nach dem Tod nicht auf. Der Frühling kehrt immer wieder." Bükes Geschichten sind vernarrt in das Miteinander von Düsternis und Leben.

Im Vorwort seines unwiderstehlichen Buches „Das Prinzip Hoffnung" beschreibt Ernst Bloch: „Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen,..." Ja, die Hoffnung ist etwas, das man lernt. Die Menschen in der Türkei scheinen angesichts von ökonomischen Ungerechtigkeiten, den Kriegen, den Zerstörungen und der Migration zu zerfallen. Zudem ist die Ungerechtigkeit, einem bloßen Ausnahmezustand entwachsen, der Charakteristik des Landes zugehörig und alltäglich geworden. Um sich eine Zukunft vorstellen zu können, ist es notwendig, dass man das Hoffen lernt. Ahmet Büke tut dies indem er Geschichten erzählt – Geschichten, die unsere Schmerzen und Ängste vereinen und um uns trauern.

BALLAST
Ahmet Büke
Verlag: Can, 2014
Seitenanzahl: 88


[1] „Boyoz" ist ein für Izmir typisches Gebäck. „Gevrek" ist eine regionstypische Bezeichnung für u. a. Sesamkringel.
[1] Eine Worterfindung des Schriftstellers Vüs'at O. Bener, das sich aus den Worten für "leben" und "los" zusammensetzt.
[3] Türkischer Schriftsteller der Moderne (geb. 1922 in Samsun, gest. 2005 in Ankara)

Zur Themenseite „Zukunft“ des Projekts LiteraTür

Top