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Süreyya Karacabey
Fürchtet den Menschen, der die Macht in sich nährt

Auch wenn sich der Leser erst am Anfang eines Reiseberichts befindet, ist er mit der Metaphorik des Weges und seinen literarischen Möglichkeiten bestens vertraut. Er hat aus zahlreichen Erzählungen gelernt, die den Weg mit dem Reisenden vereinen, und weiß also, dass mit dem Weg zumeist die innere Reise des Protagonisten skizziert wird, für den die äußere Überwindung von Hindernissen Spiegel seiner persönlichen Weiterentwicklung ist. Auch wenn der  Beginn von Hüseyin Kırans Erzählung "Dağ Yolunda Karanlık Birikiyor" (dt. Auf dem Bergweg sammelt sich die Dunkelheit an) zunächst den Anschein macht, eine Abenteuergeschichte zu sein, kann der erfahrene Leser jedoch von seinem angesammelten Wissen Gebrauch machen. Der Kriminalbeamte Yakup bekommt einen Auftrag, für den er eine weite Reise zurücklegen muss. Die Erzählung spielt sich in der Vergangenheit ab, denn es ist von Türmen, Herren und deren Bediensteten die Rede. Diese Erzählung, die von einer Wirklichkeit außerhalb unserer modernen Wirklichkeit handelt, weist die Merkmale einer Abenteuergeschichte mit fantastischem Gewebe auf und lässt die Erwartung entstehen, dass eigentlich Unmögliches möglich gemacht werden wird.

Von Süreyya Karacabey

Yakup ist Beamter in einem Land, das mittelalterlich anmutet. Er hegt eine große Bewunderung für Macht. Sein persönliches Schicksal wandelt sich mit einem Brief, der ihm übergeben wird. Er ist nun mehr ein Gesandter, dem die Pflicht auferlegt wird, jemandem aus dem Bergvolk einen Brief seiner Hoheit zu übergeben. Yakup, der sich mit einem Pferd, einem speziellen Kostüm und dem versiegelten Brief auf den Weg begibt, erlebt auf diesem Weg keine außergewöhnlichen Dinge. Der zu Beginn anklingende Abenteueraspekt nimmt zusehends eine parodistische Form an. Die Erwartungen werden stetig gebrochen, bis offensichtlich wird, dass der Fokus dieser Erzählung auf Yakups pathologischen Veränderungen liegt, die seinen starken Drang zur Selbstverherrlichung als Ausgang haben.

Brecht hat uns durch sein Lustspiel "Mann ist Mann" gelehrt, dass man "mit einem Menschen beliebig viel machen kann", indem er beschreibt, wie der irische Packer Galy Gay eines Tages aufbricht, um einen Fisch zu kaufen, sich jedoch am Ende als Kampfmaschine inmitten ein Krieges wiederfindet. Kırans Yakup zeigt uns ebenfalls auf, was aus einem gewöhnlichen Menschen alles herauszuholen ist, dass die kleinste Gelegenheit genügt, um ihn zum Teil einer großen Ausbeutung werden zu lassen. Betrachtet man nur die äußeren Umstände im Roman, stellt man fest, dass sich nicht allzu viel ereignet. Yakup, der während einer sehr anstrengenden Phase seiner Reise sein Pferd und seine Kleidung verliert, findet sich in einer Situation wieder, die eines Gesandten unwürdig ist. Der einzige Ort, den er erreicht, ist das Lager einer kleinen Nomadengruppe. Diese Gemeinschaft besteht größtenteils aus Frauen und Kindern, die in einer fremden Sprache sprechen, die Yakup, weil er sie nicht verstehen kann, verurteilt und, obwohl er von dieser friedvollen Gemeinschaft mit Nahrung und einer Unterkunft versorgt wird, diese als unzivilisiert deklariert. Seine Selbstverherrlichung und Arroganz führen so weit, dass alle anderen, die nicht so sind wie er, marginalisiert und herabwürdigt werden. Besorgt, dass er nun, da er sein Pferd und seine Kleidung verloren hat, seiner Pflicht den Hoheiten gegenüber nicht nachkommen kann, schreibt er diesen einen Brief, der die Veränderung, die sich in ihm abspielt, in Teilen wiedergibt. 

Er wird seiner Pflicht zunehmend überspitzte Bedeutungen beimessen, den außerhalb der Grenzen lebenden Völkern bezüglich ihrer Führung Vorschriften machen, und von dem Punkt an, an dem er vom Gesandten zum Herren aufgestiegen ist, wird er sich, statt der Herrschaften, den König als Gegenüber ausersehen . Diesen Gedanken fortsetzend, wird er in der friedlichen Gemeinschaft nunmehr Diener sehen, die ihm beim Aufbau seines Yakupistans behilflich sein sollen. Er versucht, sich unter ihren gleichgültigen Blicken einen Palast zu erbauen, den Plätzen und Flüssen Namen zu geben, und um seine Königsherrschaft zu festigen, vergewaltigt er nacheinander alle Frauen der Gemeinschaft.
Die zu Anfang unbeholfen und lächerlich anmutenden Machtübungen Yakups werden zunehmend erschreckender. In dieser Geschichte, die sich zu einer Projektion der absurden Wünsche eines gewöhnlichen Menschen entwickelt, werden die scheinbar surrealen Machtwünsche Yakups mit den Gegebenheiten realer Zeiten verbunden. 

"Auf dem Bergweg sammelt sich die Dunkelheit an" besteht aus sechzehn Kapiteln. Bis auf wenige Stellen, an denen ein Erzähler zu Wort kommt, ist die Stimme, die wir beim Lesen vernehmen, die Stimme Yakups.
Diese dekonstruierte Sprache, die sich seitenlanger Sätze bedient und von semantischen Verdrehungen durch vertauschte Wörter im Satz Gebrauch macht, wirkt befremdlich.  Die ausgedehnte Sprache, die das Pausieren und Nachdenken in all ihren Etappen erlaubt, verdeutlicht dabei auch die Denkmechanismen Yakups. Die Sprache, die er nutzt, ist eine Sprache aus der Ferne, sie seltsam, humoristisch und unzulänglich, sie erhebt Besitzansprüche und ordnet sich einer Herrschaft unter. Als sich Yakup eine neue Identität aufbaut, verändert sich auch seine Sprache, die von der Sprache eines Bediensteten zu der eines Herrschschenden transzendiert. 

Es ist unvermeidlich, sich des bekannten Gedichts über Yakup zu entsinnen, der kam "ohne gerufen worden zu sein" und der, anstatt die Frösche zuerst einmal nur zu beobachten, ohne das nötige Wissen selber zum Frosch geworden ist. Am Ende hat er sich so sehr aufgeblasen, dass er platzen musste. Lassen Sie uns zu Herzen nehmen, was ihn zum Platzen gebracht hat. Fürchten Sie den Menschen, der bei der kleinsten Gelegenheit die Macht in sich nährt.  

AUF DEM BERGWEG SAMMELT SICH DIE DUNKELHEIT AN
Hüseyin Kıran
Verlag: Sel, 2016
Seitenanzahl: 96


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