Deniz Gezgin im Gespräch mit Pınar Öğünç
Als die „Zäune“ durchlässig wurden ...

literatür Interview mit Deniz Gezgin © Goethe-Institut | Graphiker: Çağın Kaya, Fotograf: Ismail Gezgin

Deniz Gezgin ist eine Autorin, die „uns von dem Menschen in uns loseisen will“. Was bedeutet es, den „Menschen“ vor dem „Menschen“ zu bewahren? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir über die Sprache nachdenken, die leicht in ein Machtwerkzeug verwandelt werden kann. Im Anschluss sollten wir den Menschen in Augenschein nehmen, der so töricht ist, sich an den Anfang der Entstehungsgeschichte zu stellen; der so skrupellos ist, dass er zur Natur und anderen Lebewesen nur dann eine Beziehung herstellen kann, wenn sie auf Ausbeutung gründet. Wir müssen aufdecken, wie der „Mensch“ sich zum „Mann“ entwickelte, und wachsam sein für die Maskierungen männlicher Herrschaft. Wir müssen an den Ursprung von alledem zurückkehren, den Samen genauestens betrachten und uns dann von dem Menschen in uns loseisen ...

Mit Deniz Gezgin, die neben Romanen auch Sachbücher über Mythen und Mythologien verfasste, habe ich über diese Themen gesprochen.

Pınar Öğünç: Möglicherweise beginnt das Problem, das Frauen mit der männlichen Kultur haben, bei der Sprache beziehungsweise der Macht der Benennung. Die Wurzel allen Übels könnte dort gefunden und gezogen werden. Du bist eine Autorin, die nach den Stimmen von nichtmenschlichen Lebewesen sucht, denen die Sprache fehlt. Was bedeutet es, Sprache vom Nullpunkt aus zu denken? Warum ist es so wichtig, beim Schreiben die Perspektive von Pflanzen, Tieren und der Natur einzunehmen, statt nur über sie zu schreiben?

Deniz Gezgin
Deniz Gezgin | Foto: İsmail Gezgin
Deniz Gezgin: Sich auf Worte einzulassen, um Sprecherin für diejenigen zu sein, denen die Sprache fehlt, halte ich für eine Falle. Denn die Sprache ist von Anfang an darauf ausgelegt, dass man für andere spricht. Natürlich besitzen alle Lebewesen eine Sprache. Sprache fließt ständig zwischen ihnen und allem hin und her. Wir sprechen hier aber von einer Sprache, die eine Grammatik besitzt und ein Organismus ist, der von den Menschen als Werkzeug benutzt wird. Diese Art Sprache war nie für die Kommunikation gedacht, die im Gegenteil ihrer Möglichkeiten beraubt und damit stark eingeengt wird. Diese Sprache ist dazu da, um auszusortieren; sie ist dazu da, um diejenigen zu verraten, die nicht zur Gemeinschaft gehören, denn sie ist das „Sprachrohr“ der Macht selbst. Sie übersetzt Geräusche in Worte, weil das Wilde ihre Ordnung stört. All dies zwingt mich dazu, beim Schreiben wachsam zu sein. Die Frage, warum ich dann überhaupt schreibe, ist hier sehr wichtig. Die domestizierende Eigenschaft der Sprache ist so gut versteckt, dass sie den Protest nicht offenkundig unterdrückt, sondern mit magischen und melodischen Worten blendet. Ehe du dich versiehst, hast du dich von der Lust am Geschichtenerzählen forttragen lassen. Warum haben wir eine Sprache oder welche Sprache haben wir? Das ist wichtig. Ich denke, dass die Möglichkeit, die Grenzen der Sprache und der Macht zu überwinden, in der Entfremdung der Sprache liegt. Leben entsteht in einer Sprache, in der die Geräusche vor sich hin fließen und kein Lebewesen ausgeschlossen wird. Aus diesem Grund neige ich eher dazu, die Sprache beim Schreiben aufzugeben, statt mich ihr zu ergeben.

Wie würdest du die Verbindung zwischen der vom Menschen dominierten Sicht auf die Welt, dem Speziesismus, und der von Männern dominierten Kultur beschreiben?

Die Samen des anthropozentrischen Denkens wurden im Prozess der Zivilisation gestreut, als der Mensch zum Menschen wurde. In Mythen fällt dies mit der Zeit zusammen, als sich der Mensch, zunächst noch ein Lebewesen unter anderen Lebewesen, das mit diesen aus derselben Quelle trank und dieselbe Sprache sprach, langsam vom Boden zu erheben begann und die Sprachen sich trennten. Als der Mensch begann, mit Hilfe von Symbolen Bedeutungen herzustellen, baute er seine Sprache aus und die Welt veränderte sich. Dies ist eine Art der Domestizierung, die der Geschichte von Persephone ähnelt, die von den Früchten der Unterwelt aß und ihr fortan verfiel, oder von Enkidu, der durch die Falle des Gilgamesch zum Mensch wurde und nicht mehr in die Gemeinschaft der Tiere zurückkehren konnte. Das ist die Zivilisationswende, die das „Sprechen für andere“ einläutete. Von nun an ist der Mensch ein Geschichtenerzähler, der von oben herabschaut. In seinen Geschichten kommen zwar Tiere, Pflanzen und imaginäre Wesen vor, aber im Grunde spricht er immer nur über sich selbst. Die menschliche Macht hat sich in einer männerdominierten Kultur manifestiert, die der Hauptträger des Speziesismus ist. In dem Gedanken „Alles zum Wohl des Menschen“ ist der Mann das Subjekt. In der Welt dieser einheitlichen militaristischen Kultur gibt es nur die Ernte.

Wie ist es möglich, eine neue Beziehung zur Natur oder Kultur aufzubauen, wenn man gegen eine patriarchalische Mentalität ankämpfen muss, die die Frau zur Naturerscheinung erklärt, sie ruhigstellt und somit absichtlich von der Kultur ausschließt, die nur für Männer vorgesehen ist?

Alles, was der Mensch zur Kultur zählt, hat er im Voraus mit Sprache geformt, benannt, definiert, mit Bedeutung belegt und sich zu eigen gemacht. Die Naturzugehörigkeit der Frau ist eine Art Gefangennahme, und alles, was die Macht benannt hat, ist genauso wie die Natur eine Fiktion. Es ist eine umgepflügte und eingehegte Landschaft, oder gar eine Besatzungszone, deren Insassen ihrer Harmlosigkeit zum Trotz festgehalten werden. Es ist offensichtlich, dass diese Kultur, die einem die Luft zum Atmen nimmt, sich dem Ende zuneigt. Dem Menschen wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Auch wenn das aus der Perspektive des Menschen katastrophal erscheint, warum sollte es keine Chance für die Eingeschlossenen geben, mit der Aufhebung von Grenzen ein autonomes Leben zu führen? Dank dieser „Aufbruchs“-Bewegung werden die Zäune durchlässiger. Wenn wir die Last des Menschseins abstreifen können, wäre es uns vielleicht sogar möglich, einen Lebensraum außerhalb von Binarität und Identität zu finden. Dort würden die Sprachen von alleine zueinander finden. Das ist keine Gleichsetzung, sondern bedeutet „in unterschiedlichen Zuständen am Leben zu sein“.

Du hast drei Bücher veröffentlicht, in denen du die Mythen unterschiedlicher Kulturen zusammengestellt hast, die auf Pflanzen, Tieren und Wasser basieren. Was hat dich die Beschäftigung mit Mythen, Mythologien und Märchen, die von Menschen erfunden wurden, aber von nichtmenschlichen Dingen handeln, gelehrt – insbesondere was die Macht, das anthropozentrische Verständnis unseres Zeitalters und den Kapitalismus als Nährboden der patriarchalischen Kultur anbetrifft?

In der Gesellschaft funktionieren zu müssen, ist für unser heutiges Leben zentral. Das ist aber ein Verhalten, das eine mindestens zehntausend Jahre alte Geschichte besitzt, die von Feudalismus und Ausbeutung geprägt ist. Mythen vermitteln eine soziale Ordnung von Generation zu Generation und spielen deshalb in der Zivilisationsgeschichte eine tragende Rolle. Implizite Sprachen halten Werturteile und Unbeweglichkeiten der anthropozentrischen Zivilisation im Unterbewusstsein der Gesellschaft am Leben. Die Sprache des Mythos ist so surreal, dass sie den Dingen nach Belieben Bilder zuordnen kann. Die Sprache der Mythen wurde in der Jungsteinzeit geformt, in der der Übergang zum sesshaften Leben – mit seinen Auswirkungen auf Eigentum, Grenzen und Familienleben – ein wichtiger Wendepunkt war. Mythen, die das alltägliche Leben dirigierten, lösten Körper voneinander, verwarfen Geschlechter und wiesen Rollen zu. Was in den Mythos gepflanzt wird, wird im Leben geerntet. Aus Mythen erfuhr man, wer der Held oder die Heldin in ist, wer zu wem gehört, wer sterben wird, wer auf dem Boden hockt und wer in den Himmel kommt. Die Mythologie ist die beste Quelle, um die Kultur zu verstehen, in der wir leben. Ein Wandel ist möglich, sofern wir versuchen, die Mythen bis auf die kaum noch lesbaren Buchstaben zurückzuverfolgen, statt sie lediglich zu reproduzieren.

Was für einen Einfluss haben Mythen in Bezug auf Frauen und Weiblichkeit auf dich? Ist zum Beispiel der Archetyp „wilde Frau“, auf dem Clarissa Pinkola Estés’ Die Wolfsfrau basiert, eine kraftspendende Quelle für dich?

In den Mythen über Weiblichkeit verbirgt sich ein so unglaubliches Labeling, dass sie gar nicht anders können als sich komplizenhaft anzubiedern. Vielleicht drückt gerade ein Mythos aus, wie Frauen erschaffen wurden. Die Frau kann im Mythos nur Opfer oder Heilige sein, ihre Rolle wird ihr von einem Patriarchen zugewiesen. Ein Zitat von Roland Barthes, das ich sehr mag, lautet: „Ich habe eine Krankheit: Ich sehe die Sprache.“* Ich denke immer wieder über diesen Satz nach. Aus diesem Grund komme ich nicht umhin, Fallen in diesem „wilden Dschungel“ zu sehen, der als Freiheitsoption präsentiert wird. Es sind Fallen der Macht, die ich sehe. Ich erinnere mich an ein Flüchtlingscamp, das „Wilder Dschungel“ genannt wurde. Menschen, die aus ihren Heimatländern und Häusern vertrieben wurden, verschwanden hier gewissermaßen von der Bildfläche. Dann wurde auf einen einzigen Befehl von oben hin das Camp innerhalb eines Tages geräumt und Tausende von Migrant*innen waren plötzlich tatsächlich „verschwunden“. Genau deshalb muss man sich von Anfang an mit Sprache auseinandersetzen. Ich denke andererseits nicht, dass die Beschäftigung mit den Motiven in Mythen und Märchen dazu verhilft, deren Hintergründe zu entschlüsseln, denn sie dienen lediglich dem Zweck – bewusst oder unbewusst –, die Strukturen zu verhüllen, deren Produkte sie sind, und das nützt vor allem dem Patriarchat. Die feministische Bewegung reagiert heute viel sensibler auf diese Fallstricke des Essenzialismus. Vor allem die Selbstkritik des Ökofeminismus ist beispielhaft und ich glaube fest daran, dass diese Diskussion neue Wege ebnen wird.

Was verrät uns das Schreiben, das Teil des Menschen ist, über das Menschsein? Warum schreiben wir? Ohne in essenzialistische Schlussfolgerungen zu verfallen: Gibt es einen Aspekt des Schreibens, der Männer von Frauen trennt, was den Instinkt oder die Bedeutung einer Handlung angeht?

Der Mensch schreibt aus demselben Grund, aus dem er Geschichten erzählt. Schreiben ist ein effizientes Werkzeug der Selbstkonstruktion. Der Mensch schreibt, weil er ein vergessliches Wesen ist; andererseits vergisst er, wenn er schreibt. Darüber hinaus sind unsere Schreibhaltungen natürlich sehr individuell und entsprechend unterschiedlich. Es gibt diejenigen, die über ihre eigene Welt schreiben und diejenigen, die über andere Welten schreiben. Autor*innen, die nicht an der Sprache zweifeln, können leicht in die Sprachfalle tappen. Ich meine die Sprache als Machtwerkzeug. Schreiben in dem Bewusstsein, dass die Sprache ein Ettiketierungsmechanismus ist, ist intuitives Schreiben. Die, die hörend schreiben, erfinden eine neue Sprache und sorgen fernab von allen Stilen für frische Luft zum Atmen. In dieser Hinsicht haben Autor*innen für mich keine Gesichter oder Geschlechter. Es ist vor allem wichtig, in welche Richtung sie sich drehen und in welcher Welt sie sich bewegen. So sehe ich das zumindest.

Was für ein Mensch wärst du geworden, wenn du niemals geschrieben hättest? Auf welche Weise hat dich das Schreiben verändert?

Als ich noch nicht schreiben konnte, gab es zwei Dinge anstelle des Schreibens: Flüstern und Fantasie. Das Imaginäre sehen und dadurch zum Leben erwecken, mit seiner Hilfe Fluchtpläne schmieden – flüsternd, sodass andere es nicht hören konnten ... Die intuitive Erkenntnis, dass das Leben nicht nur aus Dingen besteht, die mir gehören, war mein Wegweiser. Die Version von mir, die niemals geschrieben hätte, hätte vermutlich andere Wege gefunden, denn es gibt Tausende von Arten, wie man seine Gestalt verändern kann. Was mich zum Schreiben gebracht hat, war das Recht zu schweigen, denn der Sprache zum Trotz ist das Schreiben ein Gefühl. Ich dachte, dass ich abgeschottet von der Welt schrieb, dabei öffnete ich mich beim Schreiben für die Welt. Wer hätte gedacht, dass es so viele Geräusche und Sprachen gibt – was für eine wunderbare Vitalität!

* Im Original: „J’ai une maladie: je vois le langage.“

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