Sünje Lewejohann
Die Angstfrau, das Ich

Was braucht es, um als Mensch anerkannt zu sein? Reicht es, sich selbst, als Mensch wahrzunehmen oder braucht es dafür die anderen? „Alles hat hier einen Namen, nur ich habe keinen“, spricht die namenlose Protagonistin gleich zu Beginn des Romans, und letztendlich ist es das, worum es hier immer und immer wieder geht: Identität, Erwachsenwerden, Frau werden, erfahren, wer Ich ist und was die Welt ist, die einen umgibt.

Karen Köhlers hat auf sehr poetische Weise eine klaustrophobische Insel- und Dorfwelt entworfen, von der es kein Entrinnen gibt. Wie soll man das ganz eigene Klima der Beunruhigung beschreiben, das von diesem Buch und von dieser Welt ausgeht? Es gibt keinen Weg weg von dieser Insel; Aberglauben, das Meer und grausame Strafen hindern die Bewohner am Weggang. Die Konstanten dieser Welt sind die Jahreszeiten, sind der Wechsel von Tag und Nacht, das Aussäen, das Ernten, die Riten. Diese Welt kommt daher in einer trügerischen Idylle und Schönheit. Aber es reicht ein Wort, ein falscher Schritt, um in den Abgrund zu stürzen, denn die Tausendaugen, die Dorfbewohner, sehen alles, sie riechen alles und sie hören alles und nichts bleibt ihnen verborgen. Jeder Fehltritt wird mit dem Pfahl bestraft und für schlimmere Vergehen kommt der Angstmann, ein Mann des Dorfes in einem gruseligem Kostüm, der verletzt und verstümmelt, was die Ich-Erzählerin bereits als Kind erfahren musste, als ihr für den Versuch des Weglaufens das Bein zertrümmert wurde.

Die Schöne Insel ist eine archaisch patriarchale Welt, in der die Protagonistin als Findelkind aufwächst. Als Aussätzige wird ihr von der Inselgemeinschaft der Namen verweigert, sie hat weder Herkunft, noch Wurzeln, hat keine Eltern und keine Rechte. Schutz gewähren ihr nur einige wenige Bewohner der Insel, darunter ihr Finder, der sie bei sich aufwachsen lässt und ihr eine Vaterfigur ist und der sie nach seinem Tod schutzlos zurücklässt. Diese junge Frau will wissen, wer sie ist, woher sie kommt. Stets kreisen ihre Gedanken darum, wer wohl ihre Mutter war, wer sie selber ist und diese Frage stellt sie an allen zentralen Stellen des Romans. Sie bekommt keine Antwort. „Du hast nur dieses eine Leben, nur dieses Dorf, nur diese Insel“, sagt ihr Finder zu ihr. Mach also das Beste draus. Und so entwickelt sich die junge Frau innerhalb der Grenzen dieser Welt. Sie entdeckt sich selbst. Sie entdeckt die Liebe und bekommt einen Namen von ihrem Geliebten: „Alina“. Sie will „all das Verbotene in mein Leben holen.“ Und das tut sie. Ihr Finder bringt ihr das Lesen bei und wie die Worte in ihr Leben treten, so kommt das Wissen. Denn die Insel ist nicht mehr die ganze Welt, wie sie erfährt, sie erkennt, dass es da draußen eine ganz andere Welt gibt, unsere Welt, mit Landebahnen und Flugzeugen mit Strom und Waschmaschinen und Möglichkeiten für sich, ein Leben außerhalb der engen Regeln dieser Insel, die ihr nicht den Subjektstatus verweigern. Mit dem Wissen und der Erkenntnis folgt unweigerlich die Vertreibung aus dem Paradies.

Miroloi stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreis und wurde von der Kritik mehrfach gnadenlos in den Boden gestampft: zu unrealistisch, die Sprache zu naiv, es wird geplappert, ein Jugendbuch, ein Lummerland, es entspräche nur dem feministischen Zeitgeist und würde deswegen durchgewunken.

Aber dieser Roman ist eine Parabel, ein Konstrukt, um zu sehen, wie Gesellschaft funktioniert, was Fremdheit ist, und ob man als Mensch anerkannt wird und was das mit einem macht, wenn man ausgeschlossen wird aus der Gemeinschaft und einem fundamentale Rechte verweigert werden. Es geht nicht um eine Abbildung dessen was ist, sondern um das, was möglich wäre. Es ist ein Experiment innerhalb dessen sich die Charaktere bewegen wie Figuren in einem Theater.

Natürlich ist das nicht neu, aber Karen Köhler erzählt mitfühlend, detailreich und genau von diesem Inselkosmos und von dieser Menschwerdung, was verblüffend schöne Bilder hervorbringt und dem Roman einen ganz eigenwilligen Sog verleiht.

Identität ist hier letztendlich eine Frage der Entscheidung. Und so gibt sich die Ich-Erzählerin Alina auch ihre Identität am Ende selber; sie rebelliert immer offensiver. Sie wählt sich ihre eigene Rolle, in dem sie sich selbst zur Angstfrau macht, sich dem Dorf zeigt, die Worte spricht, die jeder nur zu sich selbst sagen kann: „Ich bin“. „Ich bin Alina, die Angstfrau.“

Schließlich macht sie sich auf den Weg, die Insel zu verlasen, schwimmend, schwanger. Auf ihre Frage nach der eigenen Herkunft hat sie auch am Ende keine Antwort bekommen, aber es spielt keine Rolle mehr. Sie schwimmt weg von der Insel, singt sich und dem ungeborenen Kind dabei das Totenlied, das Lied von ihrem „wunderschönen Leben“, das Miroloi.

Man ahnt, dass Alina selbst möglicherweise auf ähnliche Weise auf diese Insel gekommen ist. Und so scheint es, als würde sie sich selbst gebären, als würde sie sich selbst die Mutter sein, die sie immer gesucht hat. Am Ende ist es egal. Am Ende ist sie sich selbst genug. Sie ist Alina, die Angstfrau und diese Identität hat sie sich selbst gegeben, zu der hat sie sich gemacht. Ihr Ursprung ist ihr Ende. Ein ewiger Kreis, ein Kanon, eine Entscheidung.

 

 

Karen Köhler: Miroloi 
Roman, 464 Seiten, Hanser 2019

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