Kuratorin: Şebnem İşigüzel
Das Generationenthema in der türkischen Literatur

Von der Familie Buddenbrook habe ich alles über die Deutschen erfahren. Thomas Mann erzählt in diesem Roman nicht nur von vier Generationen einer Familie. Er erzählt auch von den Deutschen und der sozialen Realität des 19. Jahrhunderts. Das ist die Besonderheit von Romanen, die von Generationen handeln. Diese Werke wirken wie eine gigantische Lupe, die auf Gesellschaften und Staaten gerichtet wird. Wir brauchen die Literatur, um einander kennenzulernen. Was die Politik falsch macht, wird in Romanen korrigiert.

Was bedeutet das genau? Es ist, als ob jemand an die Tür eines Hauses in Istanbul klopft. Man wird hereingebeten und darf sich in allen Zimmern umschauen. Auf diese Weise haben auch die Buddenbrooks ihre Geheimnisse mit mir geteilt. Selbst wenn sie bankrott gingen, bezeugten sie, dass eine so fleißige und disziplinierte Gesellschaft wie die deutsche auf der Welt nur schwer zu finden ist. Dies ist eines der Wunder der Literatur. Sie zeigt die Wirklichkeit, während sie von ganz anderen Dingen erzählt, oder verbirgt sie zunächst, aber am Ende kommt alles ans Licht.

Bei einer Lesung in Köln konfrontierte mich einmal der Moderator mit folgendem Kommentar: „In Ihrem Roman Am Rand [Original: Çöplük] erzählen Sie uns von einem unheimlichen Istanbul. Wenn die Deutschen Am Rand lesen, werden sie Angst vor Istanbul bekommen.“ Daraufhin machte sich im Saal Stille breit.

Ich erwiderte, dass ich Der Zauberberg gelesen habe, bevor ich nach Köln kam. Ich hatte aber nicht erwartet, bei meiner Ankunft ein Sanatorium vorzufinden. Genauso wie Romane keine Telefonverzeichnisse sind, sind sie auch keine Reiseführer. Aus diesem Grund können meine deutschen Leser/-innen ganz beruhigt sein.

Ich erhielt zwar großen Beifall, muss aber zugeben, dass der Moderator nicht ganz Unrecht hatte. Zweifelsohne kennen die Deutschen uns Türken besser als viele andere Europäer dies tun. Seit beinahe drei Generationen leben Türk/-innen und Deutsche Seite an Seite. Es gibt Mischehen, Autor/-innen aus der türkischstämmigen Bevölkerung Deutschlands schreiben ihre Romane mittlerweile auf Deutsch. Trotzdem brauchen Sie als Deutsche unsere Literatur, um die Wurzeln der türkischen Gesellschaft verstehen zu können, deren Zweige in Ihr schönes, wohlgeordnetes Land, wo köstliche Brote gebacken und großartige Biere getrunken werden, hineinreichen.

Orhan Pamuk erreicht das Gleiche mit einem Roman, der den Buddenbrooks nicht unähnlich ist. Cevdet Bey und seine Söhne [Original: Cevdet Bey ve Oğulları] sind unsere Buddenbrooks. Und auch Das stille Haus [Original: Sessiz ev] ist ein Buch, das sich um Generationen dreht. Während bei Fatma, der Großmutter, die Familiengeschichte im Fokus steht, repräsentieren ihre Enkelkinder die Gegenwart. All diese Generationen betreten gekonnt die Bühne und zeichnen das Panorama einer Gesellschaft, die von der Politik gelenkt und unterdrückt wird.

Den folgenden Satz in einem Text über Generationen niederzuschreiben, könnte als Taktlosigkeit aufgefasst werden, aber ich habe den Ausruf „Glücklich, der keine Familie hat!“ von Karl Marx immer schon bewundert. Deshalb liebe ich mitunter auch Romane, die nicht die Erlebnisse einer Familie in den Mittelpunkt stellen, sondern mehrere Generationen übergreifen. Manchmal sehen wir Generationen durch die Erinnerungen einer einzigen Protagonistin oder eines einzigen Protagonisten. In diesem Zusammenhang kann ich Adalet Ağaoğlus Sich hinlegen und sterben [Original: Ölmeye Yatmak] erwähnen. Die Autorin, die der türkischen Literatur wichtige Werke schenkte, verortet diese Erzählung in den Anfangsjahren der Republik mit einer Protagonistin, die sich zum Sterben niederlegt, sich gewissermaßen geistig ein tiefes Grab schaufelt. Dieses Buch führt uns nach dem Vorbild von Generationsromanen vor, wie Zeitgeist und gesellschaftliche Ereignisse das Leben von Individuen verändern.

Alles, was den Einzelnen betrifft, schließt die Familie mit ein. Manchmal wissen Romancharaktere nicht, wie sie die Nabelschnur, die sie mit ihren Familien oder Generationen verbindet, durchtrennen können. Auch hier schafft es manchmal ein einzelner Romancharakter, uns dieses literarische Motiv näherzubringen. Diesem Gedanken folgend, sind die Protagonisten in Sevgi Soysals Tante Rosa und Latife Tekins Lieber unverschämter Tod [Original: Arsız Ölüm] über eine unsichtbare Nabelschnur mit den Generationen verbunden, die sie gewissermaßen zum Leben erweckten. Denn es ist die Vergangenheit, die sie am Leben erhält. Ihre Lebensverhältnisse sind so beschaffen, dass mindestens drei Generationen in einem Haus zusammenleben. Würden wir uns etwas anstrengen, würden wir vermutlich schnell feststellen, dass mindestens ein Mitglied dieser Generationen im Garten begraben liegt – ich lächle bei dieser Vorstellung. Es ist nicht so, dass ich beim Schreiben meines Romans Venüs [Venus] mit dem Untertitel „Eine Familiengeschichte, eine Lebensgeschichte“ nicht über so etwas nachgedacht hätte. Aber wir Türken mögen Friedhöfe, deshalb vergraben wir unsere Toten nicht im Garten. Es sei denn, jemand aus diesen Generationen wäre mörderisch veranlagt. Dieser Roman und Ağaçtaki Kız [Das Mädchen auf dem Baum] haben wohl den Ausschlag gegeben, mir die Kuration dieses Projekts anzubieten. 

Nun, das Thema Familie verfolgt mich seit meinem ersten Buch. Venüs verschaffte mir die glückliche Gelegenheit, einer Familie mehrere Generationen „anzudichten“. Danach war es schwierig, mich von diesem Thema zu lösen. Hat Tolstoi nicht auch seine größte literarische Lektion mit einem unvergesslichen Satz in Anna Karenina formuliert, der Familie und Glück miteinander verbindet? Möglicherweise sind alle Romanautor/-innen, die sich mit dem Generationenthema beschäftigten, gewissermaßen auf seinem „Landgut“ aufgewachsen. Danach sind wir wohl zu den Buddenbrooks gezogen. Vielleicht ist auch ein Teil von uns nach Istanbul gegangen. Denn die meisten türkischen Romane, die von Generationen handeln, spielen in Istanbul.

Was meine eigene Auseinandersetzung mit dem Thema angeht: Der für mich persönlich spannendste Teil meiner Arbeit an Ağaçtaki Kız war, von der Großmutter meiner zentralen Protagonistin, von ihrer Großmutter und von deren weiblichen Vorfahren zu erzählen, die als Gefangene nach Istanbul kamen.

Die Romane, die sich mit den Generationen befassen, stellen allerdings oft Männer in den Vordergrund. Ich mag daher die Idee, Generationen aus der Sicht von Frauen zu betrachten. Darauf habe ich in den aktuellen türkischen Romanen, die sich mit der Generationsthematik befassen und von denen ich mir wünsche, dass sie bald in deutscher Sprache zum Leben erweckt werden, ein besonderes Augenmerk gelegt. Also habe ich vor allem Generationsromane ausgewählt, deren Hauptcharaktere Frauen sind. Zeynep Kaçars Roman Kabuk [Die Hülle], über den ihre Zeitgenossin Oylum Yılmaz – ebenfalls Autorin – in ihrem Beitrag schreibt, ist so ein Buch. Es ist eine Familiengeschichte, die aus der Sicht von Frauen erzählt wird. In diesem Zusammenhang sollten wir auch nicht das preisgekrönte Buch Gerçek Hayat [Das wahre Leben] von Oylum Yılmaz selbst unerwähnt lassen. Auch sie erzählt sehr spannend von bedeutenden Frauen der türkischen Literatur. Die Frage „Warum wollten sie sie umbringen, noch bevor sie starb?“, die sie in Bezug auf die erste türkische Romanautorin Fatma Aliye stellt, scheint ihre Antwort in dem Umstand zu finden, dass die Generationsthematik vornehmlich aus der Sicht von Männern erzählt wurde. 

Auch wenn wir kritisieren, dass Familien zu oft über ihre männlichen Mitglieder erzählt werden, können wir das Verhältnis von Vätern und Söhnen nicht außer Acht lassen. Eyüp Aygün Tayşir stellt in 4 Hane 1 Teslim [4 Häuser 1 Kapitulation] eine Familiengeschichte vor, die sich um dieses Thema dreht.

Wenn es um Generationen geht, muss ich auch immer wieder an Verlusterfahrungen denken. Ich bin der Meinung, dass es eine verlorene Generation türkischer Literatur gibt. Zabel Yesayan ist solch ein verlorengegangener Schatz dieser Generation armenischer Autor/-innen. Sie hat bedeutende Werke verfasst, die schmerzliche Lebensgeschichten thematisieren. Außerdem ist sie eine der Frauen, die den Wind des Feminismus im Osmanischen Reich hat wehen lassen. Ihre Werke wurden in letzter Zeit neu aufgelegt, so dass diese außergewöhnliche Vertreterin einer auf tragische Weise verlorengegangenen Generation in einem anderen Jahrhundert auf neue Leser/-innen treffen kann.

Familien haben Geheimnisse. Diese Geheimnisse stimmen oft mit den Geheimnissen der Gesellschaft und des Staates überein. Darum dreht sich der Roman Körburun, über den ich mit seinem Autor Hikmet Hükümenoğlu gesprochen habe. Auch Defne Sumans Kahvaltı Sofrası [Frühstückstisch] birgt Geheimnisse, die von Generation zu Generation weitergereicht werden. Ein weiteres, gleichermaßen erschütterndes und wichtiges Beispiel liefert Hamdi Koçs Roman Çıplak ve Yalnız [Nackt und allein], dessen kleiner und einsamer Protagonist nach dem Tod seines Onkels in eine hoch bedeutsame und blutige Vergangenheit reist.

Menschen unterschiedlicher Generationen sind Zeugen von Ereignissen, die die Gesellschaft erschüttern und verändern. Wer ein Gewissen hat, wird sein Wissen an die nächste Generation weitergeben oder es für sich behalten – je nach Lage der Dinge. Haluk İnanıcı erzählt in seinem Roman Dinle Lisa [Hör zu, Lisa], der im Jahr des Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und der Türkei einsetzt, die traurige Geschichte dieser ersten Generation, die nach Istanbul zog. Die Geschichte der nachfolgenden Generationen wiederum wird von den Ereignissen des 12. März [1971, des zweiten Militärputsches] und 12. September [1980, des dritten Militärputsches] begleitet. 

In meiner Auseinandersetzung mit der Generationsthematik wollte ich mit der Perspektive von Mädchen, die nicht so werden wollen wie ihre Mütter, und den Problemen von Frauen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, beschäftigen. Diese Themen habe ich für diesen Band mit Aslı Tohumcu anhand ihres neuesten Romans Durmadan Leyla [Unaufhörlich Leyla] besprochen. Aslı ist wie Defne und ich eine Gegenwartsautorin. Aus diesem Grund haben wir uns anhand der „literarischen Generationen von Autor/-innen, die über Generationen schreiben“ sowohl über unsere eigene Generation als auch über die vorhergehende Generation von türkischen Autorinnen unterhalten. So haben wir das Thema um einen weiteren Aspekt erweitert.

Çimen Günay Erkol, die für diesen Band einen Übersichtsartikel verfasste, ging ihren Gegenstand aus einer bemerkenswerten Perspektive an. Wir alle kennen die bekannten Generationenromane; deshalb ist es spannend, die Gemütszustände zu beschreiben, in denen sich unterschiedliche Generationen befanden und befinden. Es gab genau so viele Generationen, die es schafften, mit der Zeit, in der sie lebten, Schritt zu halten, wie solche, die dazu nicht imstande waren. Einerseits gab es die Familien, die sich für den Handel interessierten und beim Abendessen über Geld und Erfolg sprachen, andererseits solche, die versuchten, nicht ihren Verstand zu verlieren. Die Letzteren sind in der Mehrzahl, da dieses Land nie ein normales Land gewesen ist. Es musste also Familien und Generationen geben, die über Abscheu erregende Ereignisse nicht hinwegsehen konnten und fürchteten, darüber den Verstand zu verlieren. Aus dieser Sichtweise hat sich Çimen Günay Erkol mit dem Generationenthema in der Literatur befasst.

Zweifelsohne ist ein weiteres Merkmal dieses Themas die Zeit. Romane, die sich mit den Generationen befassen, sind wie Wanduhren, die unaufhörlich ticken. Da die Wanduhr heutzutage kaum noch Verwendung findet, beschleunigt sich meines Erachtens das Zeitgefühl der Generationen sogar noch. Mithat Cemal Kuntays Üç İstanbul [Dreimal Istanbul] und Yakup Kadris Kiralık Konak [Das zu vermietende Herrenhaus] sorgen dafür, dass wir diese Zeit förmlich spüren können. Selbst wenn wir uns auf die Geschichte einer einzelnen Familie in Bugünün Saraylısı [Die heutige Hofdame] von Refik Halit Karay konzentrieren, wird der Konflikt zwischen den Generationen deutlich. Üç İstanbul ist ein umfangreicher Generationsroman, der versucht, erlittene Verluste aufzuhellen. Kiralık Konak ist ebenfalls ein Roman aus der Zeit des Zusammenbruchs. Nicht von ungefähr dreht sich die Hauptachse der Generationsthematik in der türkischen Literatur um den Konflikt zwischen Tradition und Verwestlichung und dem daraus resultierenden Wandel von Wertvorstellungen.

Das Thema Generationen zu kuratieren, hat mich sehr glücklich gemacht. Denn wurde uns durch diese Romane nicht das Vergnügen zuteil, Einblick in die intimsten Familiengeheimnisse zu erhalten, bis ins Schlafzimmer vorzudringen und dort schamlos die Wäscheschubladen zu durchwühlen? Sollte ich also nicht lieber anstelle von Glück das Wort Vergnügen benutzen? Möglicherweise haben wir es hier mit einem der seltenen Themen zu tun, in denen sich alles, was die Literatur zu bieten hat, zusammenfindet: Tolstoi, die Buddenbrooks, die Bewohner/-innen des zu vermietenden Herrenhauses, die die Familie immer wieder zur Sprache bringen, und alle Romanautor/-innen, die ich hier erwähnt habe – sie alle müssen ein geradezu enzyklopädisches Wissen besitzen.

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