Interview mit Bernd Cailloux
Das Geschäftsjahr 1968/69

Literatür Interview mit Bernd Cailloux
© Goethe-Institut | Graphiker: Çağın Kaya, Fotograf: Jürgen Bauer

Herr Cailloux, Sie schreiben im Hinblick auf 68 von „diesem jahrelangen Jahr, das mindestens ein Jahrzehnt währte.“ Inwieweit währt es unter Umständen noch immer?
 
Ein halbes Jahrhundert „danach“ ist eine lange Strecke... im Rückblick betrachtet, sind jedoch wesentliche Errungenschaften der heterogenen 68er Bewegung nach und nach im sozio-politischen, sozio-kulturellen Verhalten folgender Generationen aufgegangen: wie die kritische Abkehr von falschen Autoritäten, die Durchsetzung von Emanzipationsansprüchen, die mit dem Kulturbruch entstandenen freieren Lebensformen. Da es für meine (Nachkriegs-) Generation ein entscheidendes Ereignis war, beschäftigt es die Figuren in meinen Romanen bis heute. Die grüne Partei, Attac, manche NGOs und andere Protestbewegungen haben ihre Wurzeln bei den 68ern und wirken weiter – die einstigen „Blumenkinder“ sind die Großeltern der jetzt regierungskritisch gegen die Klimakrise vorgehenden, rebellischen „Freitags-Kinder“ der Fridays-for-Future-Bewegung.
 
Mir ist aufgefallen, dass in Ihrem Werk die Vertreter der Generation, gegen die die „68er“ eigentlich angetreten sind, überraschend selten auftauchen. Und wenn, dass sie dann nicht ganz ohne Sympathie gezeichnet werden. Ich denke da an zwei Figuren aus „Das Geschäftsjahr 1968/69“: den Vater von Susanne, einer frühen Freundin des Ich-Erzählers, und an einen ehemaligen Wehrmachtsoffizier namens Kracht, der später als Unternehmensberater auftritt. Sie zeigen eher das Gebrochene, die Versehrtheiten und weniger die Verstrickungen dieser Männer. Woher rührt dieser doch eher untypische Blick auf die ältere Generation?
 
Nicht jeder Vater war Mitglied der NSDAP, Höchststand war acht Millionen gegen Ende des Dritten Reiches... Der Roman erzählt die Jahre 68/69, als die Kritik an der Elterngeneration erst begann, das war ja ein Anliegen der Bewegung damals, das Schweigen über die Nazi-Zeit zu brechen... die Verstrickungen wurden erst nach und nach bewusster... mein Focus beim Schreiben 30 Jahre später lag dann eher auf der Rundum-Befreiung der jungen Generation (natürlich hatten wir in den 60ern auch Nazi-Lehrer, die uns Nichtschwimmer zackzack ins tiefe Schwimmerbecken warfen... das gab Ärger...)
 
Dagegen spielen Freundschaften in Ihren Büchern eine große Rolle. Die zentrale ist sicherlich die zwischen dem Ich-Erzähler und Andreas Büdinger aus „Das Geschäftsjahr 1968/69.“ Noch in den Momenten, in denen diese Freundschaft „im Handelskammerton“ zerbricht, nicht zuletzt am kalten Geschäftssinn Büdingers, lassen Sie den Ich-Erzähler sagen: „Selbst jetzt kam mir nicht in den Sinn, ihm niedere Gründe für sein Handeln zu unterstellen und ihn deshalb zu verabscheuen oder gar zu hassen. Das alte Gefühl für ihn war auch in diesem verfaulten, aufs magerste reduzierten Moment noch da.“ Ist das nicht auch vielleicht ein Merkmal der 68er-Generation, die - steile These jetzt mal - ihre Experimentierfreudigkeit im Verhältnis zum anderen Geschlecht mit einem klassischen, geradezu brüderlichen Freundschaftsverständnis unter Männern ausbalanciert hat?
 
Ja, das war wohl so. Wir wollten ja gesellschaftliche Veränderungen erreichen, auch das Private wurde politisch verstanden – eine frühe Ehe, die isolierte Kleinfamilie waren in der Zeit der Revolte nicht das primäre Ziel... bloß nicht zum Establishment gehören, weg vom Sonntagsbraten, weg von kleinbürgerlichen Zwängen - wir lebten in diesen berauschenden, verwegenen Jahren jenseits überkommener Formen in einer Art serieller Monogamie... Alles andere kam später noch früh genug.
 
Interessant finde ich in Ihrem Werk auch den Spagat zwischen der „unvergängliche(n) Sehnsucht nach der großen gemeinschaftlichen Tat“ und dem starken Hang zum Alleinsein, den ihre Ich-Erzähler hinlegen und an dem ja auch zum Teil ihre Beziehungen zu Frauen zerbrechen. Eine Generation, die zu Beginn so sehr auf Zusammengehörigkeit setzte, zahlt am Ende doch den Preis für ihre gleichzeitig hochgezüchtete Individualität. Gehen Sie da mit?
 
Ja klar. Gemeinsam sein oder das Alleinsein, ein immer wieder zu lösender Widerspruch, man will beides, der sich unangepasst nach seinem Gusto Individualisierende kriegt auf Dauer Probleme mit der Anschlussfähigkeit. Nur: Das Leben wird vorwärts gelebt, und rückwärts begriffen – sagte Kierkegaard.
 
„Welchen Mittzwanziger jedoch interessierte die dichotomische Sicht der Arbeiterschaft auf die Gesellschaft?“ heißt es einmal bei Ihnen. Wird der sozialrevolutionäre Aspekt von 68 im Nachhinein überschätzt?
 
Eher ja, von heute aus. Die anfängliche Kritik am Bestehenden war ja hochromantisch und idealistisch sowieso. Natürlich spürten wir, dass es nicht gerecht zu ging im Wirtschaftswunderland und wollten alles anders machen. Übers Jahr kam dann die leidige Erkenntnis, dass Macht und Geld die Ordnung der Gesellschaft bestimmen... und dass tendenziell alle sozialen und kulturellen Erscheinungen dem Markt und seiner Logik unterworfen werden. Die Künstler, die Rockmusiker (wie auch die Figuren im „Geschäftsjahr“) rebellierten und endeten doch als nützliche Idioten der um 68 entstehenden, seither unter amerikanischer Führung die Welt mit Unterhaltung zudröhnenden und politisch entmündigenden Kulturindustrie. Mit dem Neoliberalismus und der Digitalisierung installierte das Kapital mittlerweile neue, gewinnbringende Herrschaftsinstrumente... es droht die totale Ökonomisierung des Lebens zugunsten der Shareholder-Eliten, die ewige Spaltung in arm und reich... Da die 68er Bewegung in dem Sinn erfolglos war, wird’s also langsam Zeit, das Ganze nochmal zu machen...
 
Ihr Roman „Gutgeschriebene Verluste“ endet mit einer Abrechnung durch einen jüngeren Freund des Ich-Erzählers, da ist die Rede von „Familienphobie“, „Rebellentum“, der Held wird als „verbohrter Romantiker“ beschrieben. Eine Generation am Dauerpranger. Nun sollen die 68er ja auch noch Schuld sein am Missbrauch in der katholischen Kirche…
 
Ja, ist denn schon wieder Weihnachten? Die katholische Kirche hat offenbar schlechte Berater... peinlich, peinlich, diese sich selbst gegönnte Absolution. Ich bin 1976 vor dem Amtsgericht Schöneberg offiziell aus der Kirche ausgetreten... aber da wir Meinungsfreiheit haben, können auch Kardinäle soviel Blödsinn erzählen, wie sie wollen.
 
Im „Geschäftsjahr 1968/69“ ist es ein Blitzlicht, das den Aufbruch einer ganzen Generation symbolisiert und die Verhältnisse im wahrsten Sinne des Wortes zum Tanzen bringt. Welches Symbol würde Ihnen für die nachfolgende Generation einfallen?
 
Der Hipsterzopf, Zeichen des destruktiven Charakters – passend dazu: Das immer offene smart-phone.
 
Ihr Werk ist fast ausschließlich aus der Perspektive der 68er-Erfahrungen erzählt. „Mein Leben sollte erst von dem Zeitpunkt an zählen, seit ich es selbst in die Hand genommen hatte - das Davor kümmerte mich wenig“, heißt es einmal. Kümmert es sie jetzt? Mit anderen Worten: was darf man von dem Schriftsteller Bernd Cailloux noch erwarten?
 
Zunächst meinen neuen Roman, den ich – wie bei Ihren Termin – am 1. August in den Verlag geben musste. Anhand eines Vaters (deutsch) und seines Sohnes (Amerikaner) wird von der Geschichte der beiden Länder erzählt. Der Titel ist „Der amerikanische Sohn“, der Roman erscheint im kommenden Frühjahr bei Suhrkamp. Schon im Voraus: Viel Vergnügen.

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