Henning Fangauf
Bruch der Generationen?

Tina Müllers Theater für Jugendliche und Erwachsene

Von Henning Fangauf

Tina Müller kennt sich aus. Mit dem Theater und den Jugendlichen, mit unserer Gesellschaft und der Kunst. Tina Müller ist Dramatikerin, Theaterautorin durch und durch. Die 1980 geborene und seit 20 Jahren in Berlin lebende Schweizerin schreibt seit 2005 für die Bühne. Sie denkt in Dialogen, entwickelt Theaterfiguren, liebt den Rollen- und Sprachwechsel. Sie bietet den Schauspieler*innen anspruchsvolle Figuren, eine geformte Sprache und fordert das Publikum mit gesellschaftlich relevanten Themen heraus.

Das Schreibe fürs Theater entspricht meiner Lebenssituation: es geschieht im Kontakt mit anderen, ist ein relativ schnelles Medium, wird aus dem Moment heraus entwickelt. Ich liebe das Lebendige des Theaters, Theater gibt mir die Möglichkeit, mich mit der Welt zu beschäftigen wie ich es möchte, nämlich die Komplexität vielstimmig zu Wort kommen zu lassen. [1]

Tina Müller ist seit ihren Anfängen eine gefragte, häufig inszenierte und prämierte Autorin des deutschsprachigen Gegenwartstheaters. 16 Stücke für Kinder, Jugendliche und für Erwachsene liegen von ihr bis heute vor. Viele entstanden im Auftrag eines Theaters oder in Ko-Autorschaft mit anderen Künstler*innen. Ihre erfolgreiches Debutstück „Bikini“ (2005), für Jugendliche ab 14 Jahren, erhielt 2008 den Deutschen Jugendtheaterpreis. „Türkisch Gold“ (2007), für Publikum ab 12, ist mit 30 Nachinszenierungen ihr bekanntestes Stück. 2017 wurde ihr Kinderstück „Dickhäuter“ mit dem renommierten Mülheimer KinderStückePreis ausgezeichnet.

Tina Müller schreibt Theaterstücke über komplexe, aktuelle gesellschaftliche Vorgänge. Dabei interessiert sie sich besonders für die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen und ihre Kämpfe und Konflikt mit der älteren Generation. Vater- und Mutterrolle, Emanzipation und Geschlechtergerechtigkeit, Generationendialog und interkulturelles Zusammenleben, mit diesen Stichworten lassen sich die Inhalte der Stücke von Tina Müller umschreiben. Die Familie, das Aufwachsen und Zusammenleben in familiären Strukturen, aber auch die Schule als zentraler Ort für Sozialisation dienen der Autorin als Ausgangspunkt der Geschichten. 

Bereits in ihren ersten beiden Stücken „Bikini“ und „Türkisch Gold“ stellt die Autorin Heranwachsende in den Mittelpunkt ihrer Geschichten. Die Teenager finden sich im alltäglichen Konkurrenzkampf mit Gleichaltrigen wieder, sehnen sich nach Anerkennung und suchen nach dem eigenen Ich. Die Generation der Erwachsenen steht ihnen dabei wenig hilfreich zur Seite. Eltern und Lehrer*innen – das bevorzugte Erwachsenen-Personal in Tina Müllers Stücken – hat mehr ihr eigenes Glück und ihre Unzulänglichkeit im Auge, als dass sie ihrer Verantwortung als Erziehungsberechtigte gerecht werden. 

In „Türkisch Gold“, die Versuche einer jungen Liebe zwischen einem Mädchen mit türkischen Wurzeln und einem Jungen aus der Schweiz, werden von dem Vater des Jungen kulturelle Klischees bis zur provozierenden Unerträglichkeit vorgetragen. In den Stücken mit den anspielungsreichen Titeln „8 Väter“ (2009) und „Papa Fliege“ (2011) werden tradierte Familienbilder hinterfragt. Nicos Leben begann mit einer Lüge der Mutter. Sie verschwieg ihre Schwangerschaft gegenüber Nicos Vater und Nico wuchs mit der Erfahrung auf, dass er nicht wußte, dass es mich gibt. Wechselnde Partner der Mutter, Weihnachten bei Omama und dickem Opa und Jonny Cash und Hermann Hesse als Projektionsfiguren – am Ende zählt Nico 8 Väter, die sie in ihrer Kindheit und Jugend begleitet haben. Anders wird die Sehnsucht nach Eltern in „Papa Fliege“ geschildert. Wie eine Fliege schwirrt der alleinerziehende Vater Christopher durch den Raum. Ständig hat er Termine, muss ans Telefon, ist einfach nicht zu fassen. Sohn Beni (10) sieht allein im Erlernen des Fliegenfangens seine Chance, die Aufmerksamkeit des Vaters zu gewinnen. Als Christopher, überarbeitet und erschöpft einen Kreislaufkollaps erleidet und auf dem Sofa zusammenbricht meint Beni am Ziel seines Fliegenfangens zu sein. Kannst du das, einfach mal nichts (tun)? Eine kleine Perspektive für Beni, aber letztlich ein offenes Ende des Stückes.

Tina Müllers Schreibweise ist geprägt von einer schnellen, wechselhaften Dramaturgie. In vielen, kurzen Szenen entwickeln sie ihre Geschichten. Getragen werden diese von einem überschaubaren Personal, von Spieler*innen die in jeweils unterschiedlichen Rollen auftreten. Dabei wechseln sich Formen des Erzähl- und des dialogischen Theaters unmittelbar ab. Die Sprache in Tina Müllers Stücken basiert auf Alltagssprache, entpuppt sich auf der Bühne dann aber als eine streng komponierte, geformte Sprache.

Ich arbeite gerne rhythmisch! Ich schreibe schnell – das Überprüfen der Sätze dauert dann wesentlich länger bis alles stimmt, mit der Verdichtung, der Verknappung. Unter der scheinbaren Oberfläche des Textes muss viel mehr liegen, man sollte die Drastik der Situation darunter finden und spüren.[1]

Durch ihre regelmäßige Zusammenarbeiten mit Theatern und Jugendclubs gewinnt Tina Müller Einblicke in Jugendkultur, in die Lebensgefühle der Jugendlichen und deren gesellschaftliches Umfeld. Ich arbeite gerne mit Jugendlichen. Mich inspirieren die Jugendlichen, bei ihnen finde ich Sprache und meine Themen.[1] Sie sieht einen Bruch zwischen den Generationen auf uns zukommen, der noch radikaler ausfällt als jener, den wir mit der 68er Bewegung vor 50 Jahren erlebt habe.[1]

Ihr aktuelles Stückprojekt „Die Gründung“, so lautet der Arbeitstitel, präsentiert die Wünschen und Visionen von Jugendlichen an ihre Zukunft. 180 Frankfurter Schüler*innen haben von 2017 bis 2019 am Projekt „All our futures“ mit Künstler*innen und Pädagog*innen gearbeitet und Material zusammengetragen, das nun von der Autorin und der Regisseurin zu einer „theatralen Vision der Zukunft unserer Stadt“ erarbeitet wird. Die Uraufführung ist für April 2020 am Schauspiel Frankfurt geplant.

Es wird erwartet, dass Schüler*innen dem Publikum ihre Zukunftsvisionen präsentieren. Die jungen Menschen aber fragen sich, wozu sie das länger tun müssen, wenn die Entscheidungsträger*innen unserer Gesellschaft sich das zwar anhören, sich vielleicht sogar davon inspirieren lassen, aber am Ende doch als nicht umsetzbare Utopien abtun und sich nicht die Mühe machen, sich mit allem Einsatz für eine lebensfähige Zukunft einsetzen. Die Erwachsenen werfen den Kindern vor, dass ihre Forderungen nicht zu Ende gedacht sind. Die Jugend erwidert: Sind denn eure Lebenskonzepte zu Ende gedacht?[1]
 

[1] Die Zitate stammen aus einem Interview, das der Autor dieses Beitrags am 27. Juni 2019 mit Tina Müller geführt hat. Die Autorin hat die Zitate autorisiert.
 

HINTERGRUND

Tina Müllers Stücke werden vertreten vom Rowohlt Theaterverlag in Hamburg.
www.rowohlt-theater.de

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